Liebe und Gegenliebe

[30] Als einst die Mutter der Anmuth

Den Knaben Amor gebar,

Bekränzt' er, ein einziges Söhnchen,

Mit Rosen sein lockiges Haar.


Er schuf nur Qualen den Herzen;

Die zarte, süßere Pflicht,

Mit Liebe Liebe zu lohnen,

Die kannte der Flüchtige nicht.


Und manche beleidigte Göttin

Und mancher beleidigte Gott,

Sie zürnten Alle dem Knaben

Und schufen ihm Flügel zum Spott.
[30]

Bis einst Urania selber

Ein schöneres Mittel ersann:

Sie ward zur Welle des Meeres

Und blickte den Lieblichen an.


Er sieht im Meere sein Bildniß

Und wird von Liebe beseelt

Und fühlt nun selber die Schmerzen,

Mit denen er Andre gequält.


Umfangen will er das Wahnbild,

Ihm in der Welle so nah,

Und sieh, sein schönerer Bruder

Steht vor dem Liebenden da.


»Wer bist Du?« spricht er verwirret.

»Du selbst, Dein Bruder bin ich.

Laß uns versuchen im Kampfe!

Vielleicht besiegest Du mich.«


Und seitdem ringen die Beiden

Der Liebe mächtigen Streit;

Wo Einer Herzen verwundet,

Ist nie der Andere weit.


Wo Liebe, schaffende Liebe

Hinschaut mit zauberndem Blick,

Kommt ihr vom Bilde des Anschauns

Die Gegenliebe zurück.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 30-31.
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