Die Erde

[110] Fragmente.


1.

Ich grüße Dich, o Mutter Erde, Dich,

Du Vielgebärerin, in deren Schooß

Der Vater aller Welt welch Samenheer[110]

Lebendiger verbarg, die alle Du

Zum Leben ausgebierst, sie mütterlich

Ernährst und trägest und dann friedlich sie

In Deinen Schooß begräbst. Wie nenn' ich Dich,

Du güt'ge Alte, Du Langmüthige,

Die Bös und Gutes, Gift und Arzenei

Mit gleicher Sorg' erzieht und gleiches Muths

Hier Wohlgerüche für die Sterblichen

In tausend Blumen aushaucht und dort Tod!


Du Immer-Jungfrau, Du der Sonne Braut,

Die, ewig unermüdet, rastlos sich

Kehrt um sich selbst, sich an des Bräutigams

Strahlvollen Blicken zu erwärmen, und

In sich entschläft und wieder neu erwacht

Und prangt in süßen Jugendträumen! Du

Demüthige, die unser Fuß zertritt

Und unser Blick verachtet, die sich selbst

In dunkles Grau, wie oder in das Kleid

Des kalten Winters hüllet, bis sie sich

Mit neuen Farben, ihren Kindern, schmückt,

Nicht sich, nur ihnen zur Erquickung und

Zur Wohlgestalt und Freude! Herrliche,

Ehrwürdige! Du Tausendkünstlerin,

Penelope, die ihren Schleier stickt

Und trennet, die des Menschen sauern Schweiß,

Der Brüder Blut und aller ihrer Kinder

Geliebte Asche sammelt und sie treu

An ihren Busen drückt, mit Thränen sie,

Mit warmen Seufzern sie dann neu beseelend.


Und so denn will ich Dich genießen, will

Dich jetzt auch ansehn, mütterliches Land!

Du reichst mir Blumen, doch nur für den Tag,

Erquickst mit Früchten nur den Wanderer,

Der nacket auf Dir ankam und Dich nackt

Verlassen wird, wenn seine Stunde schlägt.

Dann lebe wohl, Du liebes Erdenrund,

Du Tropfe Stein und Leimen, der dem Schooß

Des Chaos einst entfloß und festgerann

Und sich begrünte, dann ein großes Heer

Von Lebenden gebar und sie begrub

Und wieder wegschmilzt in des Chaos Nacht.
[111]

2.

– Mir öffnet sich der Erde weites Reich!

Vorübergehen mir Jahrhunderte –

Und Völker. – Welch ein weiter Schattenzug! –

Ich sehe Könige mit ihren Kronen

Ins Grab hinsinkend, sehe Schaar auf Schaar;

Sie streiten, bluten, morden, quälen sich –

Um eine Handvoll Erde, um ihr Grab.

Ameisen seh' ich, kämpfend um den Halm,

Der ihnen nicht gehört, und sonder den

Sie auch nicht leben können. Löwen seh' ich

Und Tiger – welche Brut! – zerreißend den

Unschuldig-Armen! – Arme betteln Brod,

Sie lesen auf verstohlne Aehren, die

Du uns so reichlich zollest, liebe Erde,

Und grämen sich und betteln um ihr Grab.


O Schattenspiel der Welt! Du Schaugerüst

Fruchtloser Wünsche, leerer Eitelkeit!

Ist auf Dir Ewiges? Kann Ewiges

Der Geist sich auf Dir träumen? Und doch bebt

Das bange Herz, Dich zu verlassen, schlägt

Unruhig, wie ein Fisch dicht überm Meer.


Und bin ich denn an Dich gebunden? Ich,

Den zu beseligen Du nie vermagst!

Brennt das, was in mir brennt, als Flamme nur

Des Aschenhaufens in der Erde Dunst?

O nein! o nein! Der Dunst der Erde flammt

Nicht auf der Seele Feuer; er vertilgt's

Und Geister fesselt ihre Schwere nicht!


Wie wird mir sein, o Sphäre, wenn ich Dich

Tief unter meinen Füßen sehe, Dich,

Den kleinen Wandelstern, mit Dampf und Nacht

Umgeben, fern der Sonne, dem Bezirk

Des kalten Mondes nah! wie wird mir sein,

Wenn ich, ein Genius, mich über Dich

Erhebe, athmend ganz im Aetherstrom!

Dann fesseln mich nicht Deine Seufzer mehr,

Dann rufen Deine Thränen nie zurück

Den Frohentkommenen! es eilt mir nach,[112]

Was mein ist, und ich segne, segne Dich,

Du meiner Kindheit väterliche Flur.


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . Ich umfasse Dich,

Auch meine Mutter, meine Nährerin

Und einst mein Grab; ich fass', so weit ich kann –

Ein kleiner Raum, doch mehr als Raumes g'nug

Zu meiner Ruhestätte. – Doch mein Blick

Reicht auf Dir weiter; nur mein träger Fuß

Ist es, der an Dir klebt; mein edles Herz

Schlägt freier, und mein Geist denkt höher auf.

Gabst Du mir den, o Erde? Gabst Du ihn,

So Dank Dir des Geschenkes! Zieh ihn auf,

O gute Mutter! Du erfüllst ihn nie.

Du leitest seine Kindheitschritte, beutst

Ihm Deine Mutterbrust, gewährest ihm

Aus Deinem Vorrath nur ein Bilderhaus

Aufwachender Gedanken, weckst in ihm

Durch gut- und böses Schicksal Deiner Sturm-

Und Sonnentage, Deiner Frühlinge

Und Winter, ach, Empfindungen von Wohl

Und Weh, von Qual und von Genuß,

Von Wechsel und der Allvergänglichkeit!


Ja, heil'ge Mutter, oft lag ich auf Dir

Und weinte. Tröstend kühletest Du dann

Mit Deinen Blumen, Deinem Grase, das,

Wie ich, verwelket, meine Stirn voll Gluth.

Erquickend stieg aus Dir ein Athem auf.

War es ein Seufzer, zu beklagen mich?

War es ein Mutterkuß? – O Zärtliche,

Wie viele Klagen hast Du schon gehört

Und nie gestillt! wie viele Seufzer sind

In Deiner Brust verborgen! Und Du wirst

Nicht matt und müde, Deine Lebenskraft

Geschöpfen mitzutheilen? freuest Dich

Des Schattengaukelwerks, das auf Dir spielt,

Der Trümmer von zerbrochnen Königreichen

Und Menschenherzen – all' des leichten Volks

Der bunten Träume, das sich auf Dir jagt? –

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 110-113.
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