10.

[82] Wie kann der Dichter dem Künstler, und der Künstler dem Dichter nachahmen? Ich glaube, daß der Unterschied, den Hr. L.[82] bei den Gattungen ihrer Nachahmung macht,1 schon in unsrer Sprache liege, und also auch in der Auseinandersetzung alles gleich durch ein Wort deutlich mache. Einen nachahmen, heißt, wie ich glaube, den Gegenstand, das Werk des andern nachmachen; einem nachahmen aber, die Art und Weise von dem andern entlehnen, diesen oder einen ähnlichen Gegenstand zu behandeln.

Um in diesen Unterschied einzudringen, sucht H.L.2 einen Gegner auf, mit dem er streite, und dieß ist Spence. Spence war freilich ein rathender Kopf voll Allusionen und Aehnlichkeiten: ein Wort, ein Zug des Bildes war ihm gnug, Anspielung und Nachahmung zu finden, und ich gestehe gern, daß sich sein Werk selten über ein Verzeichniß von Parallelstellen der Dichter, (zwar leider! nur der Römischen Dichter) und der Künstler (und doch meistens Griechischer Künstler) erhebe. Indessen spielt ihm Hr. L. einen bösen Streich, daß er im Texte nützliche Erläuterungen anführt, die alten Schriftstellen aus der Vergleichung mit Kunstwerken zuwüchsen, und in seinen Noten diese nützlichen Erläuterungen fast sämmtlich widerlegt. Sind also nützliche Erläuterungen bei Spence von dieser Art, oder sind dies gar die einzigen: so danke ich für Spence.

Und ich weiß nicht, ob H.L. in Allem, was er gegen diese Erläuterungen sagt, so ungetheilt Recht habe. Juvenal redet von einem Soldatenhelme, wo unter andern Sinnbildern er auch


nudam effigiem clypeo fulgentis & hasta

Pendentisque Dei perituro ostenderet hosti.


und Addison glaubte die Stellung des Dei pendentis nicht besser, als durch Werke, erklären zu können, wo Mars zu der Rhea herunter schwebet, und also über ihr gleichsam hanget. Noch bin ich für die Addisonsche und Spencische Erläuterung nicht eingenommen: was hat aber Hr. L. dagegen?3 daß »es ein Hysteron proteron von Juvenal sein würde, von der Wölfin und den jungen Knaben[83] zu reden, und dann erst von dem Abentheuer, dem sie ihr Daseyn zu danken haben.« Bei einem Dichter, bei einem satyrischen Dichter zumal, wie viel hat da wohl ein Hysteron proteron auf sich? Doch so mag ich nicht reden: das hieße nicht den Dichter erklären, sondern unsre ihm angepaßte Erklärung retten. Erst zeige man mir, wo das Hysteron proteron stecke! »In den ersten rauhen Zeiten der Republik zerbrach der Soldat die kostbarsten Becher, die Meisterstücke Griechischer Künstler, um eine Wölfin, einen kleinen Romulus und Remus, einen hangenden Mars auf seinen Helm zu setzen.« Dieß ist Juvenals Gedanke, und wo das Hysteron proteron in ihm? Der Römische Soldat ist ein sammlender Name, ein nomen collectivum: und sein Helm steht für alle Römischen Helme; auf einen konnte dieß, auf einen das gesetzt werden; und so gut die Wölfin, und die beiden Kleinen am Felsen, als der hangende Mars, wäre an sich ein Emblem des Römischen Ursprunges, und des rauhen Soldaten, dem das aus solchem Ursprunge entstandene Rom alles war. Alsdenn hätte Juvenal ein Paar Beispiele angeführt, die aus einer Geschichte hergenommen, zu dem Emblem einer Sache neben einander stehen, ja aber unter sich kein Ganzes ausmachen sollen. Wie so aber zu dem Emblem einer Sache? »Man sage, fragt Hr. L.,4 ob eine Schäferstunde wohl ein schickliches Emblema auf dem Helme eines Römischen Soldaten gewesen?« Warum nicht? Es war nicht mehr das Bild einer Schäferstunde allein, sondern das Bild des Göttlichen Ursprunges der Römer, des Ursprunges, auf welchen der Soldat stolz war als ein Römer. Es war nicht die Ueberraschung der Rhea, sondern die Stunde, die dem Stifter Roms das Leben gab: also so unpassend nicht auf den Helm eines Römers, der seinen Mars auch in dieser pendenten Stellung nicht verabscheute, und auch in ihr so ungerne nicht sein Abkömmling seyn mochte, den sie eben zum Römer machte. – –[84]

Ich habe gesagt, die Bilder Juvenals haben einzeln auf den Helmen der Soldaten seyn können: warum aber müßte es ein Hysteron proteron seyn, wenn sie auch neben einander auf einem Helme gewesen wären? nur in verschiedne Gruppen getheilt, wovon der Dichter ein Paar anführt. Haben mehr Denkbilder des Römischen Ursprungs darauf Raum gefunden: so schnitze sie der Künstler, mir und dem Sinne Juvenals nicht zuwider.

Aber schwebt auch Mars, fährt Hr. L. fort,5 wirklich? und es ist viel, wie weit sein grübelndes Zweifeln geht. Mag auch Spence recht gesehen, recht haben stechen lassen, und – – die Münze auch gehabt haben? »Es ist hart, muß ich Hrn. L. nachsagen, es ist hart, in einer solchen Kleinigkeit, die Aufrichtigkeit eines Mannes in Zweifel zu ziehen:« zumal es mehr bekannte Münzen von dieser Art giebt.

Der Zweifel tritt weiter, und wird zur allgemeinen Verneinung.6 »Ein schwebender Körper ohne eine scheinbare Ursache, durch welche die Wirkung seiner Schwere verhindert wird, ist eine Ungereimtheit, von der man in den alten Kunstwerken kein Exempel findet.« Nun! so weit hätte man es doch nicht führen dörfen! Mars in dem gegenwärtigen Falle ist ja nichts minder, als ein schwebender Körper, ein ohne scheinbare Ursache schwebender Körper, der ungereimt wäre, der das Auge beleidigte, der die Regeln der Bewegung, der Schwere, des körperlichen Gleichgewichts aufhübe – wo ist dieß alles unser Mars? Es ist ein sich herabsenkender Körper, der eben nach den Regeln der Bewegung und Schwere und des Gleichgewichts die Erde sucht, oder mit Shakespears schönem Ausdrucke vom Merkur, der mit seinem Fuße den Hügel küsset. Auf einem Kunstwerke von so wenigem Umfange denkt ja niemand, daß dieser herabschwebende Mars vom Himmel gekommen, daß er sich durch die Luft gestürzt, daß er in ihr ohne Flügel und Leitband gehangen: wie es also sey, daß er noch so glücklich herabkomme – hieran denkt niemand, denn er sieht Mars[85] nur so fern, als er die Erde betritt. Es ist das Niedersenken, wie von einem sanften Sprunge, und dazu braucht man kein Gott zu seyn, oder sich einen Gott von ganz andern Regeln der Bewegung, der Schwere, des Gleichgewichts denken zu müssen: die sanfte Stellung kann jeder dem Mars nachthun, und der Künstler sie ohne Ungereimtheit wählen. – Der ganze Allgemeinsatz ist also hier kaum an seiner Stelle, und in der Weite, die ihm Hr. L. giebt, leidet er Einschränkung. Es muß ein Körper sehr augenscheinlich nicht schweben, sondern hangen, und zwar in der allweiten Luft hangen, wenn sein Anblick die Wahrscheinlichkeit der Augen beleidigen soll: und wie selten ist dieß auf einer Münze, auf einem geschnittenen Steine, und auch wohl noch selten in Gemälden, und der Wahrscheinlichkeit der Augen wird da immer ohne Lehrsätze der Bewegung abgeholfen. Was sollen doch, wenn man so genau rechnen wollte, die kleinen Flügelchen an den Füßen Merkurs, bei dem gewaltigem Schwunge, in welchem er sich z.E. in einem Farnesischen Gemälde von Caracci zeigt? machen sie denn den Abschwung wahrscheinlicher, als ein Mars, der auf die Erde hinschwebet? Was sollen alsdenn die Homerischen Götterpferde, die zwischen der Erde und dem Sternbesäeten Himmel mit einem Sprunge so viel beschreiten, als der Hirt absieht, der vom Gipfel des höchsten Gebirges in den schwarzen Ocean ausschauet – was sollen diese, wenn man ihnen auch ein Paar Flügelchen gäbe, die ihnen überdem Homer nicht giebt, wenn man nach der Mechanik bestimmen wollte? Nun aber lasset Apollo, Diana, Luna, Juno, Minerva, und wer von den Himmlischen mehr Gesellschaft machen wolle, in ihrem Luftwagen sich fortschwingen: zeiget sie uns der Künstler nur in einer Stellung nahe an, oder über der Erde im Absenken: so vergessen wir gern das Ungeheuere der Luft, die wir überdem hier nicht in ihrem Umfange sehen können. Wir brauchen keinen Leitband, der die sich absenkende Figur an ein Gestirn hefte, wir brauchen kein Fahrzeug der Kaklogallinier, welches bei Swifts Reise in den Mond auf der ersten Wolke übernachtete – –[86]

Noch minder thut mir die verbesserte Lesart Leßings zu dieser Stelle Gnüge: – – sie ist gesuchter und Metaphysischer,7 als alle vorige Lesarten; und kurz! sollte in Spence nicht mehr Vorrath zu Erläuterung der Alten seyn, insonderheit wenn ein besserer Kopf die Spencischen Compilationen von Parallelstellen nutzte? Aber freilich bleibe ihm die Grille, daß die Dichter bei jeder kleinen Aehnlichkeit ein Kunstwerk kopiret haben müssen. Hr. L. widerlegt sie in einigen Beispielen,8 und bei manchen hätte auch aus dem innern Baue der Dichterischen Schilderungen erwiesen werden können, daß sie aus der Phantasie des Dichters, und nicht von der Arbeit des Künstlers, geflossen, weil sie sich sonst dem Dichter anders hätten vorstellen müssen.

1

p. 78. 79. [420–21]

2

p. 80. [421]

3

p. 83. [423]

4

p. 83. [423]

5

Laok. p. 84. [424]

6

p. 84. 85.

7

p. 87. [426]

8

p. 90. 91. [427–8]

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. 1769, in: Herders Sämmtliche Werke. Band 3, Berlin 1878, S. 82-87.
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