An eine Nachtigall,
die vor meinem Kammerfenster sang

[110] Gieß nicht so laut die liebglühnden Lieder,

Zu meiner Quaal,

Vom Blüthenast des Apfelbaums hernieder,

O Nachtigall!


Sie tönen mir, o liebe Philomele,

Das Bildniß wach,

Das lange schon, in meiner trüben Seele,

Im Schlummer lag.


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Die Unholdinn verbannet Rast und Schlummer

Durch ihren Stab,

Und stürzet uns, nach jahrelangem Kummer,

Wohl gar ins Grab.


Sie trinkt voll Gier von unserm Herzensblute,

Und schwelgt sich satt;

Giebt Dornen dem, der sonst auf Rosen ruhte,

Zur Lagerstatt.


Und machet ihm die Welt zum offnen Grabe,

Das seiner harrt.

Unglücklich, wer von ihrem Zauberstabe

Getroffen ward!


Fleuch tiefer in die grünen Finsterniße,

O Sängerin,

Und spend im Nest der treuen Gattin Küße,

Fleuch hin, fleuch hin!
[110]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 110-111.
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