Trinklied im May

[173] Bekränzet die Tonnen,

Und zapfet mir Wein;

Der May ist begonnen,

Wir müßen uns freun!

Die Winde verstummen,

Und athmen noch kaum;

Die Bienlein umsummen

Den blühenden Baum.


Die Nachtigall flötet

Im grünen Gebüsch;

Das Abendlicht röthet

Uns Gläser und Tisch.

Bekränzet die Tonnen,

Und zapfet mir Wein;

Der May ist begonnen,

Wir müßen uns freun!


Zum Mahle, zum Mahle

Die Flaschen herbey!

Zween volle Pokale

Gebühren dem May.

Er träuft auf die Blüthen

Sein Roth und sein Weiß;

Die Vögelein brüten

Im Schatten des Mays.


Er schenket dem Haine

Verliebten Gesang;

Und Gläsern, beym Weine,

Melodischen Klang.[173]

Giebt Mädchen und Knaben

Ein Minnegefühl,

Und herrliche Gaben

Zum Kuß und zum Spiel.


Ihr Jüngling', ihr Schönen,

Gebt Dank ihm und Preis!

Laßt Gläser ertönen

Zur Ehre des Mays!

Es grüne die Laube,

Die Küße verschließt;

Es wachse die Traube,

Der Nektar entfließt!


Es blühe der Rasen,

Wo Liebende gehn;

Wo Tanten und Basen

Die Küße nicht sehn!

Ihr lachenden Lüfte,

Bleibt heiter und hell;

Ihr Blüthen, voll Düfte,

Verweht nicht so schnell!
[174]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 173-175.
Lizenz:
Kategorien: