Die Liebe

[178] Diese Erd' ist so schön, wann sie der Lenz beblümt,

Und der silberne Mond hinter dem Walde steht;

Ist ein irdischer Himmel,

Gleicht den Thalen der Seligen.


Schöner lächelt der Hayn, silberner schwebt der Mond,

Und der ganze Olymp fleußt auf die Erd' herab,

Wann die Liebe den Jüngling

Durch die einsamen Büsche führt.


Wann ihr goldener Stab winket, beflügelt sich

Jede Seele mit Glut, schwingt sich den Sternen zu,

Schwebt durch Engelgefilde,

Trinkt aus Bächen der Seraphim.


Weilt, und trinket, und weilt, schwanket im Labyrinth;

Eine reinere Luft athmet von Gottes Stul

Ihr entgegen, und weht sie,

Gleich dem Säuseln Jehovahs, an.


Selten winket ihr Stab, selten enthüllet sie

Sich den Söhnen des Staubs! Ach, sie verkennen dich,

Ach, sie hüllen der Wollust

Deinen heiligen Schleyer um!


Mir erschienest du, mir, höheren Glanzes voll,

Wie dein Sokrates dich, wie dich dein Plato sah;

Wie du jenem im Thale

Seiner Quelle begegnetest.
[178]

Erd' und Himmel entflieht sterbenden Heiligen;

Lebensblüthengeruch strömet um sie herum,

Engelfittige rauschen,

Und die goldene Krone winkt.


Erd' und Himmel entfloh, als ich dich, Daphne sah;

Als dein purpurner Mund schüchtern mir lächelte;

Als dein athmender Busen

Meinen Blicken entgegenflog.


Unbekanntes Gefühl bebte zum erstenmal

Durch mein jugendlich Herz! Froh wie Anakreon,

Goß ich Flammen der Seele

In mein zitterndes Saitenspiel!


Eine Nachtigall flog, als ich mein erstes Lied,

Süße Liebe, dir sang, flötend um mich herum,

Und es taumelten Blüthen

Auf mein lispelndes Spiel herab.


Seit ich Daphnen erblickt, raucht kein vergoßenes

Blut durch meinen Gesang; spend' ich den Königen

Keinen schmeichelnden Lorbeer;

Sing' ich Mädchen und Mädchenkuß.
[179]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 178-180.
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