[102] Pastor und Amtmann.
PASTOR geht ihm entgegen und faßt ihn bei der Hand. Meinen besten, herzlichsten Dank dafür, daß Sie kommen und so bald kommen.
AMTMANN. Ganz wohl. Nur zur Sache.
PASTOR. Herr Amtmann! Ich denke, Sie werden zufrieden mit sich und mir von hier weggehen.
AMTMANN. Das soll mir lieb sein. Nun? –
PASTOR. Ich will Ihr Verständnis mit einem Freunde wieder erneuern, der seine alten, heiligen Rechte auf Sie geltend – und uns minder elend machen wird.
AMTMANN. Der wäre?
PASTOR. Ihr Herz – dem Sie Gehör geben werden.
AMTMANN. Hm! Zur Sache und kurz. Die Umstände eilen; eilen Sie auch!
PASTOR. Eilen? – Es gilt ein Menschenleben.
AMTMANN. Warum zogen Sie mich hieher? Wollen Sie mich dem Geheul der Leute aussetzen.
PASTOR. Sie sollen niemanden sehen. Das versprach ich, dabei bleibt's!
AMTMANN. Nun, warum bin ich also hier?
PASTOR. Vergönnen Sie mir eine Vorstellung. – Der Anblick des Volks, die Schande, die den Unglücklichen sogleich von allen Rechten der Gesellschaft ausschließt, scheinen nicht nur ebenso viele Ankläger des Verbrechers zu sein, sondern sie werden auch fast Beweise gegen ihn.
AMTMANN. Das ist ungemein sonderbar geschlossen.
PASTOR. Hören Sie mich. – Die ganze Menschheit steht gegen den Unglücklichen auf. »Rache, Strafe!« – ist die allgemeine Empfindung. Der Richter ist Mensch – Diese[102] Stimmung teilt sich ihm mit, läßt Handlungen beschließen, gegen welche das spätere Mitleid kraftlos ist! – In diesem Fall waren Sie, als Sie den Bericht gegen den Unglücklichen machten. – Hier, wo Sie stehen – an diesem Tische, wo Sie vor wenig Minuten von der liebenswürdigen Familie umgeben waren – hier müssen gewisse Erinnerungen eine sanftere Stimmung bewirken. – – Hier – hier lesen Sie Ihren Bericht noch einmal, und sagt Ihr Herz Ihnen hier nichts – – so schicken Sie ihn fort und beten für die Unglücklichen um Trost!
AMTMANN. Sie irren sich, mein Herr, Sie irren sich. Dies empfindsam ausgesonnene Stückchen darf den Richter nicht beugen.
PASTOR. Sein Sie immer rauh und hart – mich beleidiget nichts – es gilt ein Menschenleben!
AMTMANN. Habe ich nicht genug getan, da ich verstatte, daß er hieherkömmt?
PASTOR. Viel – darum erwarte ich alles.
AMTMANN. Schreien nicht alle Beweise laut gegen ihn?
PASTOR. Die Beweise sind Geschrei; eben darum sind sie mir verdächtig.
AMTMANN. Nun – Sie haben alles gehört und gelesen; was ist denn Ihre Meinung?
PASTOR. Es ist viel, fast aller Anschein gegen den jungen Menschen; aber um so weniger Beweise.
AMTMANN. Das Zeugnis des Sterbenden –
PASTOR zuckt die Achsel.
AMTMANN. Nun?
PASTOR. Darüber richte Gott!
AMTMANN. Also sind wir fertig. Und ich gehe sehr unzufrieden von Ihnen weg. In alles mischen Sie sich, und überall wollen Sie die Hand im Spiel haben.
PASTOR. Mein Herr, Ihre Art ist – – doch – weg mit dieser Aufwallung – es gilt ein Menschenleben!
AMTMANN sieht nach der Uhr.
PASTOR. Vergönnen Sie mir noch eine Frage.
AMTMANN. Nun?
PASTOR. Sie haben Streit mit dem Vater des Unglücklichen gehabt – Sie handeln doch wohl ohne Rache?
AMTMANN. Herr – wofür halten Sie mich?
PASTOR. Für einen Menschen.[103]
AMTMANN. Glauben Sie, daß ich Gedächtnis für pöbelhafte Beleidigungen habe?
PASTOR. Sind Sie von den Beweisen überzeugt, wonach Sie handeln?
AMTMANN. Was kann mich verbinden, solche Fragen zu beantworten!
PASTOR. Getrauen Sie sich, auf den Bericht, welchen Sie von der Sache gemacht haben, plötzlich vor Gott zu erscheinen?
AMTMANN. Sie nehmen sich heraus, mir Dinge zu –
PASTOR. Mann! Das Sterben des ungerechten Richters ist schrecklich. Nicht der Prunk frommer Stiftungen, nicht bezahlte Fürbitten mildern die Angst der Seele – Zagen der Verzweiflung macht die Leiden des Körpers entsetzlicher. Niemand – nimmt Anteil; selbst die nicht, die er bereichert hat. Die Umstehenden beten und zweifeln. Mit Schauer sehen sie der abgeforderten Seele in das ewige Dunkel nach – und verlassen die Hülle mit Grausen.
AMTMANN. Wozu soll denn der Galimathias am Ende?
PASTOR. Weg mit dem Ausdruck; er ist unter Ihnen, wenn ich ihn auch verzeihe. – Sie sind kränklich; daß Sie mich jetzt werfen, könnte Ihnen einst schrecklich beifallen, zu einer Zeit, wo Sie Trost auf meinem Gesicht wollen.
AMTMANN. Da der junge Mensch so außerordentlich hartnäckig auf seiner Unschuld besteht, so will ich, um allen Zweifel zu heben und auf den wahren Grund zu kommen – ich will darauf antragen, daß man ihm die Tortur gibt. Bleibt er standhaft, so ist es eine offenbare Fügung des Himmels, der seine Unschuld an den Tag legt und mein Gewissen befreiet.
PASTOR. Unmensch! Sie häufen auf böse Taten verdammenden Spott. Ich lasse ab von Ihrem Herzen. Gott führt die Sache dieser Unglücklichen – Er wird sie retten oder ihnen Kraft zu tragen geben. Hat dieser Jüngling in gereiztem Zorn gemordet – er büßt. – Ihm wird verziehen. Aber Ihre Gemordeten, Ihre langsam Gemordeten werden einst in lebendigen Gestalten die Ankläger Ihrer Untaten sein! Sie denken an den Augenblick, Sie fürchten ihn – Prahlen Sie immer mit Starkgeisterei! Sie glauben Gott[104] und Zukunft, das weiß ich. Sie glauben und zittern! – Gott vergebe Ihnen! Er will aus der Mitteltür gehen.
AMTMANN indem er nach der Gassenseite geht, sagt er ihm noch schnell nach. Recht so! Mit dem Himmel gedrohet, wenn wir auf Erden nicht weiterkönnen.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Jäger
|
Buchempfehlung
In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«
340 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro