Sechstes Kapitel

[342] Man führte ihn vor den Polizeikommissarius zum Verhör. Der Beamte saß hinter einem Tische, auf welchem die Hermann abgenommnen Sachen lagen, Geld, die Doppelpistole und die Brieftasche. Ein kleiner Schreiber saß dem Beamten zur Linken, mit steilrecht erhobner Schreibefeder. Hinter dem Polizeikommissarius standen zwei Häscher, ernst und regungslos, ihre Blicke ruhten auf dem Haupte des Vorgesetzten.[342]

Dieser hatte das verletzte und bewickelte Bein seitwärts auf einen Sessel gelegt, so daß er sein Gesicht bei Hermanns Eintreten von diesem abkehrte. Der kleine Schreiber fuhr den Gefangnen herkömmlich grimmig an, und bedrohte ihn mit den schlimmsten Dingen, wenn er nicht die reine Wahrheit sage. Jetzt wandte sich der Polizeikommissarius um, und wollte mit noch höherer Würde diese Gewissensschärfung vornehmen, kam jedoch nicht über das erste Wort hinaus, blieb vielmehr stocken und starrte seinen Inkulpaten geöffneten Mundes an. Ein gleiches Erstaunen prägte sich in der Miene und Gebärde Hermanns aus; sie standen einander gegenüber wie die Salzsäulen.

Zuerst fand der Polizeikommissarius einige Laute wieder. »Abtreten!« rief er, dem Schreiber und den Häschern winkend. Betroffen verließ das Personal die Amtsstube. »Hermann!« – »Ernst!« Mit diesem Rufe fielen die beiden Freunde einander in die Arme.

»Unglücklicher, so sehen wir uns wieder?« sagte der Polizeikommissarius. »Dasselbe möchte ich dir entgegnen«, erwiderte Hermann. »Warum bist du denn nicht in Hellas, warum steckst du in dem Rocke da?«

»Achtung vor dem Könige, dessen Farbe ich trage«, sagte der ehemalige Philhellene mit gebietender Haltung. »Aber o ich Schwergeprüfter!« rief er, außer Fassung geratend. »Meinen besten Freund, meinen Herzbruder finde ich unter Hochverrätern, als ihr Haupt, als ihren Rädelsführer wieder. Dahin führen verkehrte Grundsätze, das ist die Frucht einer unruhigen Sinnesart! Wie oft habe ich dich gewarnt, wie oft sagte ich dir: über das Gewöhnliche sich erheben wollen, führt zum Allerschlechtesten!« – »Du vergeßlicher Mensch!« rief Hermann, »dieses sind ja eben meine Worte an dich, als du den abenteuerlichen Zug nach Griechenland unternehmen wolltest.«

Aber sein Freund hörte ihn nicht. Er war aufgestanden, hinkte feierlich mit steifem Knie auf und nieder und sagte: »Pflicht! Du Polarstern des Beamten, du Ankergrund der Diensttreue, stärke mich jetzt! Ein Mann, der mit blutendem Herzen tut, was ihm obliegt, ist ein Schauspiel für Götter. In[343] diesem Zimmer hört der Mensch auf; es kennt nur den Diener des Staats.«

Hermann fing den ausgestreckten Arm des Freundes, rüttelte ihn und sagte heftig: »Die erste deiner Pflichten ist, den Beschuldigten anzuhören. Ich bin kein Demagoge, geschweige ihr Oberhaupt und Rädelsführer. Ich bin ein so unschädlicher Mensch, wie nur einer Brot ißt. Du hättest mich eher aus den Händen deiner dummen Gendarmen und Scharwächter befreien sollen.«

»Bist du nicht unter den Wütenden betroffen worden?« fragte der Polizeikommissarius. »Liegen da nicht die Dolche, die Schriften voll der Teilung Deutschlands und des Mordes der Könige? Liegt dort nicht dein eignes Schießgewehr?«

Hermann gab ihm mit der überzeugenden Kraft, welche der Wahrheit eigen zu sein pflegt, die Einsicht in den Hergang der Dinge. Der Polizeikommissarius wurde wankend, nachdenklich, erholte sich aber wieder und sagte: »Und diese Brieftasche, hast du die auch in der Absicht, zu bessern, bei dir geführt? Blick hinein, was siehst du? Aufrührerische Traktätchen, ›Freie Stimme frischer Jugend‹, den ›Bauernkatechismus‹, kurz den ganzen Arsenal der liberalen Propaganda. Wie willst du dieses unumstößliche Beweismittel entkräften?«

»Mensch, hast du denn aus der Lethe getrunken?« rief Hermann. »Sieh doch die Brieftasche genauer an. Es ist ja die deinige, dieselbe, welche damals aus Irrtum in meiner Tasche blieb, mit diesem deinem Freiheitsschwindel angefüllt, während du mit meiner und mit meinem Gelde von dannen zogst.«

Da nun die Brieftasche in einer Ecke des vordersten Blattes wirklich noch den Namen des ehemaligen Philhellenen führte, so konnte der Polizeikommissarius sie nicht verleugnen. Diese Entdeckung hatte die Wirkung auf ihn, daß er den Pflichtbegriff fahren ließ und sich den freundschaftlichen Empfindungen ganz hingab. Es verstand sich, daß er Hermann in seiner Häuslichkeit bewirten wollte, von deren Lobe er nun überströmte. Beide schüttelten einander herzlich die Hand und genossen die Freude des unverhofften Wiedersehens.

»Was wird Fränzchen dazu sagen!« rief er. »Und mein Junge! Zwar der kann noch nichts sagen.«[344]

Er brachte ihn durch einen bedeckten Gang, welcher die Gefängnisse mit seiner Wohnung verband, nach dieser. Unterweges wurde er wieder still. »Bei allem dem bleibt es doch ein eignes Unglück«, sagte er niedergeschlagen, »daß ich mit der vielen Mühe, mit der Plage bei Tag und bei Nacht nichts andres ausgerichtet habe, als mir das Knie zu zerfallen, meinen besten Freund gefangenzunehmen und meine eigne Brieftasche wiederzufinden.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 342-345.
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