[168] Lassen wir ihn nun sich einrichten, Papierschnitzel mit wunderlichen Einfällen beschreiben, auf Wirtin und Magd zanken, daß sie ihm Bücher und Sachen abhanden bringen, und gleich nach seinen Scheltreden das von ihm selbst in einen Winkel Verlegte wiederfinden, die Nacht zum Tage, den Tag zur Nacht machen! – Wir erinnern uns unterdessen, bis dieses Rumoren, zum Teil wohl die Nachwirkung der Reiseaufregung, sich einigermaßen stillt, an die Phasen, welche das von uns zu beobachtende Meteor bisher am literarischen Himmel durchlaufen hatte.
Selten hat sich wohl ein Schriftsteller in den begleitenden Worten zu seinen ersten Versuchen so sonderbar bei dem Publikum eingeführt, als Grabbe. Er gab im Jahre 1827 zwei Bände dramatischer Dichtungen heraus, welchen er, wie er in der Vorrede versicherte, durch Geschäftsleben und wissenschaftliche Studien längst fremd geworden sei. Der poetische Ruhm, sagte er, ziehe ihn nicht an, dennoch soll nach einer späteren Äußerung in derselben Vorrede sein ferneres literarisches Wirken von der Aufnahme abhängig bleiben, welche diese Jugendprodukte finden.
Der Verleger setzte in einer Anmerkung hinzu, er habe mit Einwilligung des Verfassers die anstößigsten Stellen teils leiser ausgedrückt, teils gestrichen, wodurch aber freilich oft die kräftigsten Sachen verlorengegangen seien. Ein Brief Tiecks über das Hauptwerk der Sammlung, für die öffentliche Bekanntmachung gewiß nicht geschrieben, war dem Buche, antikritisch vom Dichter glossiert, vorgedruckt.[168]
Noch auffallender aber als dieses Beiwerk, war der Gehalt der Sammlung selbst, mit welcher der Autor urplötzlich, wie ein Dämon, aus der Erde auftauchte. Niemand hatte ihn angekündigt, niemand ihn empfohlen. Von keiner literarischen Koterie war für ihn gewirkt worden. So war er plötzlich da; er hatte nicht um Erlaubnis gefragt, ob er kommen dürfe, und alle Welt verwunderte sich. Sagen und Mären, wie sie sich traditionell durch die literarischen Zirkel Deutschlands zu ziehen pflegen, waren zwar früher von einem gewissen Grabbe erklungen, der den Zusammenkünften Uechtritzens, Heines, Köchys u.a., die um 1821–1822 in Berlin ihr poetisches Wesen trieben, beigewohnt; man hatte die Sagen aber bereits wieder vergessen, als ihr Held erschien. Mir ist der Zug aus jener mythischen Zeit noch erinnerlich, daß nach seinem ersten Auftreten in dem Berliner Dichterkreise ernsthafter Streit gewaltet haben soll über die Frage: ob dieser Mensch verrückt oder ein Genie sei?
»Herzog Theodor von Gothland« heißt das erste Stück der Sammlung. Es ist ein Trauerspiel. Wenn ich aber den Inhalt näher bezeichnen soll, so kann ich nur sagen: es ist das Trauerspiel der menschlichen Natur überhaupt. Zwar treten darin ein König von Schweden, ein Feldherr der Schweden, ein Neger, schwedische und finnische Große auf; aber, wie es nicht möglich ist, die Zeit der Handlung zu erkennen, so entzieht sich auch der Ort und überhaupt alles Historisch-Individuelle unter den düstern Schwaden, welche durch die Dichtung streichen, dem Blicke. Es ist ein Konzert der Verzweiflung, jeder Person ist ein Notenblatt in die Hand gegeben, aus welchem sie ihre Separatstimme zu der grausen Gesamtharmonie zu singen hat, für sich selbst bedeutet sie sonst nichts.
Ein tugendhafter, großgesinnter Held und Feldherr, der Herzog Theodor von Gothland, wird von einem verruchten Neger mit dem Argwohn angesteckt, sein älterer Bruder, der Kanzler, habe den jüngern, Manfred, den Theodor zärtlich liebte, heimlich ermordet. Durch ein abscheuliches Blendwerk, in der Gruft des Toten, welches der Neger veranstaltet,[169] gewinnt der Verdacht Stärke, und der Held wird aus Bruderliebe zum Brudermörder am Kanzler.
Nach dieser Tat sinkt er bis zu dem tiefsten Pfuhle der Schlechtigkeit hinab. Er wird Feind des Vaterlandes, Verräter, Kronenräuber, Gottesleugner, Völkervertilger; er wird noch mehr als das, er wird gemein. Alles Scheußliche, was jemals ein verderbtes Herz in seinen schmutzigsten Winkeln beherbergt hat, reißt der unbarmherzige Dichter an das Licht; ja, es genügt ihm nicht, die Zerstörung des gewordenen Mannes vorzuführen, auch die Jugend verwelkt unter den schrillenden Tönen dieser infernalischen Leier. Der Neger verführt den unschuldigen Knaben Gustav, den Sohn Theodors, zu gemeiner Wollust, alle Laster, die in dem Vater Früchte abgesetzt haben, brechen in der jungen, entweihten Seele zu Blüten auf.
Die Fabel – wenn man eine Reihe unmotivierter Ereignisse so nennen will – rollt unter Blut, Mord und Greueln sich ab. Das Glück, welches den Gothland zum Throne emporhob, wirft ihn bis auf das Strohlager eines zum Tode verurteilten Verbrechers. Da wachen noch einmal in ihm alle wilden Kräfte zur Berserkerwut auf; er zersprengt die Fesseln, welche seine Überwältiger ihm angelegt hatten, und tötet den Neger. Dann schläft er, gelangweilt von Leben und Tod, ein, und fällt, im Halbschlummer, bei fast erloschener Persönlichkeit, von der Hand eines beleidigten Großen.
Es ist ein ähnliches Gefühl der Ermüdung, mit dem wir von diesem Nachtstücke scheiden. Der Dichter hat nicht gewußt, oder nicht wissen wollen, daß es der Seele geht, wie dem Körper: zu lange fortgesetzte Schmerzen stumpfen das Gefühl ab, und hören auf, Schmerzen zu sein. Wir empfinden, es sei ihm ernst mit dem Hasse des Daseins, aus dem seine finstern Gestalten, wie Schierling und Nachtschatten, emporwachsen; nie führt er uns in die Versuchung, ihn für einen jener modernen Gecken, die sich selbst »zerrissen« nennen, eigentlich aber nur abgerissene Betteljungen sind, zu halten; er weiß sein grauenvolles Thema mit ungeheurer Energie zu behandeln und die paar Töne, die in dieser lugubren Region dem Tragöden zu Gebote stehen, als echter[170] Virtuos zu variieren, und doch! man empfindet, wenn man kaum über die Hälfte des weitschichtigen Gedichts hinausgediehen ist, Langeweile und sehnt sich nach dem Schlusse.
Denn die Lüge will hier geradezu für die Wahrheit gelten und das Nichtige sich als die Existenz geltend machen. Der Dichter hat in Noten und Verwahrungen gut versichern, das Bessere siege ja doch bei ihm, sein Zynismus habe es nur mit der Empfindelei zu tun, wahre Empfindung sei nie von ihm angetastet worden usw. Wir glauben ihm nicht. Denn alles Lichte, Freudige, Gerade im »Gothland« ist leer, allgemein, schwächlich gehalten; bei dem Schatten, bei dem Verworfenen weilt der Autor mit seiner Kraft, da ist er selbst.
Tieck glaubte, wie er an Grabbe schrieb, »Titus Andronikus« habe auf ihn Einfluß gehabt. Die Vergleichung mit dieser blutigen Jugendarbeit Shakespeares ist sehr interessant. Auch in dem alten Stücke geht es entsetzlich her: Mord, Notzucht, Ehebruch, Wahnsinn, gräßliche Verstümmelungen des Leibes, endlich eine thyestische Mahlzeit drängen einander, und doch kann man von dem Geiste, der hindurchweht, sagen, er sei gegen den des »Gothland« sanft und süß. Schon die große Mannigfaltigkeit der äußerst bunten Fabel dämpft das Schreckliche ab, während die nur in den dürftigsten Umrissen hingeworfene, ziemlich trockene Handlung der neuen Dichtung diesem Elemente kein Gegengewicht gibt. Und welche Kontraste bieten sich dar zwischen dem an allem Himmlischen und Irdischen verzweifelnden Theodor und dem durch nichts vermenschlichten Berdoa auf der einen Seite, dem Titus Andronikus, der seine Pfeile mit Briefen an die Götter abschießt, Gerechtigkeit vor ihren luftigen Thronen zu suchen, dem Mohren, Aaron, der sein Kind mit sich umherträgt, es zum großen Kriegsmann zu erziehen, auf der andern Seite! Bei dem Briten sind schon in diesen frühesten Tönen Schmerz und Klage – wie wild sie rasen – melodisch, phantasievoll gestaltet; bei Grabbe tritt das Elend rauh, felsicht, kaum geformt auf.
Dennoch wird der »Gothland« immer eine merkwürdige Urkunde unsrer Poesie bleiben. Man ist es schon gewohnt,[171] daß die deutschen Dichter unmäßig oder übermäßig beginnen. Die Mängel der Form werden in ihren Erstlingen überdeckt von dem gärenden, kochenden Gehalte, der seine Stelle erst unter den Formationen der bewohnten Welt sucht. So war es, so ist es und so wird es noch eine Zeitlang bleiben, denn unsere Literatur ist, die alten und jungen Greise mögen sagen, was sie wollen, noch nicht am Ende, noch nicht akademisch geworden, sondern sie steht noch im Werden. Aber mit ähnlicher Kühnheit hatte sich noch nie das Chaos, welches in jedem jungen deutschen Dichtergeiste über Geburten brütet, hervorgemacht, als in dieser neuesten Erscheinung. Was sind alle Exzesse der »Räuber« dagegen? Man könnte auf die Vermutung kommen, daß Grabbe von manchen Produkten der neusten französischen Schule nicht unangeregt geblieben sei; ich glaube aber versichern zu dürfen, daß er die Sachen, an welche man hier zunächst denken müßte, gar nicht gekannt hat.
Einiges darin ist von ungemeiner pathetischer Schönheit, so die Szene auf dem Kiölgebirge, wo die beiden Alten den Helden schlachten wollen, und dieser im Entsetzen des Augenblicks vom Manne zum Greise verwittert.
Einen großen Gegensatz zu diesem Werke bildet das Fragment: »Marius und Sulla«. Der Verfasser hat es auf nichts Geringeres angelegt, als auf die Schilderung der damaligen aufgelösten römischen Welt, um welche die beiden Gewaltherrscher, der eine ein wilder demagogischer Held, der andere ein hochstehender tiefblickender Staatsmann, bis zur Vernichtung kämpfen. Alle Verzweigungen dieses Kampfes, das krause Wühlen untergeordneter Leidenschaften und Menschen auf beiden Seiten, die Marianische Soldatenwelt, die List der Volkstribunen, das wirre Getreibe des Pöbels, die hohlen Entzweiungen des Senats – alles dieses ist dem Dichter klargeworden, sein Blick schwebt über Afrika, Griechenland und Italien. Nicht ein einzelnes Faktum, dem sich das übrige beugen mußte, nicht ein Charakter für sich, zu dessen Füßen sich die Gruppe der anderen lagert, hat ihn angeregt; nein, der Geist der Geschichte selbst ist ihm erschienen und hat ihm manches Wort zugeflüstert.[172]
Wie er im »Gothland« lyrisch versinkt in ein eintöniges Lamentoso, so verliert er sich in der römischen Tragödie in die maßloseste epische Weite. Auch die Behandlung ist grundverschieden. Zwar der Hang des Dichters zu gewaltigen und entlegenen Bildern spricht aus beiden Gedichten. Am liebsten wählt er zu seinen Vergleichungen das Inkommensurable oder die reinen Kategorien des Seins; die Donnerschläge sind rumorende Ohrwürmer, die Himmelsbogen gekrümmte Würmer, unter den Gestirnen wird es Herbst; die Zeit ist eine Krankheit, der Mensch eine Grille des Schicksals, die es bei Gelegenheit auch wieder vergißt usw. Aber im »Gothland« erliegen die Personen beinahe an der Last des ihnen aufgebürdeten Redegepäcks, und vieles wird Schwulst und Phrase; dagegen ist die Sprache in »Marius und Sulla« mehrenteils gedrungen und körnig, und hat selbst schon eine gewisse Hinneigung zu dem spätern Lakonismus des »Hannibal«.
Das Werk beginnt mit dem geächteten Marius auf Karthagos Trümmern und sollte mit dem freiwilligen Rücktritte Sullas in den Privatstand, nachdem er Rom und die Welt bezwungen, schließen. Leider ist nur der erste und etwa die Hälfte des zweiten Akts vollendet; von dem übrigen sind jedoch die Intentionen vollständig angegeben, die zum Teil das Bedeutendste hoffen ließen. Ich habe immer bedauert, daß Grabbe nicht gerade zur Fortsetzung dieser Arbeit Sinn und Stimmung wiedergewinnen mochte.
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