VI

[149] Es waren schon mehrere Tage vergangen, ohne Nachricht von Emmerich zu bringen.

Auf das graue Schindeldach des Tralgothhofes sank der erste Schnee. Dichte, weißliche Nebel legten sich über die Ebene. Kyrilla that mächtige Buchenscheite in die Öfen.

Abends, wenn das Tagewerk vollbracht ist, humpelt die alte Kathinka aus ihrer Küche herüber ins Wohnzimmer, in dem Kyrilla bei einer Lampe arbeitet.

»Der Kleine schläft schon? Mit Verlaub!« Sie läßt sich auf die Bank vor dem Ofen fallen.

»Wird Euch die Zeit nicht lang, Frau?«

»Nein, Kathinka, gar nicht.«

»Ihr stickt Euch noch die Augen aus dem Kopfe.«

»Es werden Taschentücher für Bela.«

»Wenn er einmal groß ist, na, damit hat's noch lange Zeit. Schläft er jede Nacht bei Euch im Schlafzimmer?«[149]

»Ja, er ist so brav und ruhig.«

»Fällt er denn nicht zum Bett heraus?«

»O nein, ich baue ihm aus Kissen eine Mauer, daß er ganz sicher liegt.«

»Ihr fürchtet Euch wohl oben allein, ich thät's auch. Ich bin froh, daß die Leute in meiner Nähe schlafen, die Nacht ist niemandes Freund, und das Haus steht so einsam.«

»Ich fürcht' mich gar nicht. Wovor auch?«

»Vor Dieben oder andern schlechten Leuten.«

»An die denk' ich nicht, und Tralgoth ist ja auch da.«

»Ja, wenn er da ist, aber jetzt! Schon so lange fort, und noch keine Nachricht. Bangt Euch nicht nach ihm?«

Kyrilla zögert, dann sagt sie: »Nein.« Die Wirtschafterin schüttelt den Kopf.

»Die Alten waren ganz anders. Die konnten einander keine Stunde lang entbehren. Wo er war, war sie sicher auch in der Nähe.«

Kyrilla stickt ruhig weiter.

»Unser Herr sieht schlecht aus in letzter Zeit.«

»Findest du?«

»Es scheint ihm etwas Kummer zu machen.«

»Weißt du, was es ist?«

Die Alte dreht die Daumen umeinander und schweigt. Die Lampe flackert, von einem irgendwo eindringenden Windstoß unruhig gemacht.

»Wir müßten mehr Kinder haben, viele Kinder; das müßte wimmeln und springen und klingen.[150] So ein Hof braucht viel Leben, sonst wird's traurig auf ihm.«

Kyrillas Gesicht färbt sich mit flammendem Rot.

»Hat er Euch eigentlich schon gekannt, wie er um Euch gefreit hat?«

»Nur vom Sehen.«

»Weshalb er nur auf Euch kam?«

Die junge Frau zuckt die Schultern und blickt nicht auf.

»Eltern hattet Ihr keine mehr?«

»Schon lange nicht. Die Base hat mich aufgezogen.«

»Deshalb seid Ihr so schweigsam geworden. Eine so schweigsame Frau ist mir noch nie vorgekommen.«

»Ja, weißt du, Kathinka, alles, was man sich denkt, kann man doch nicht sagen, und was man sagen kann, ist gar nicht der Mühe wert zu sagen.«

»Ihr redet wie ein Pfarrer.«

»Aber ich glaub' fast, wir gehen zu Bett; das dumme Licht flackert so, ich sehe kaum mehr, wohin ich die Nadel stecke.«

Kathinka erhebt sich schwerfällig und humpelt über den Hof nach dem Wirtschaftsgebäude. »Eher hätte ich – Gott hab' sie selig! ihre alte Base zum Reden gebracht, als sie selbst. Es ist, als ob sie lauter Mühlsteine auf der Zunge hätt'!« In der nächsten Zeit glaubte Kathinka es als[151] ihre Pflicht zu erkennen, ihrer Herrin allabendlich Gesellschaft zu leisten.

Auch die zweite Woche verging ohne Nachricht von Emmerich. Eines Nachts endlich kam er an. Er ließ die Leute aufstehen, Licht machen, kochen. Kyrilla begrüßte er flüchtig. Das ›Geschäft‹ hätte länger gedauert, als er vorausgesetzt hatte. Als er, den Leuchter in der Hand, ins Schlafzimmer trat, sah ihm ein dunkelhaariges Haupt aus seinen Kissen entgegen. Er erschrak so sehr, daß ihm der Leuchter zur Erde fiel. »Aber es ist ja Bela,« sagte Kyrilla. Er fuhr sie barsch an, weil er sich seines Erschreckens schämte. Was das für Narrenspossen wären, das Kind in das große Bett zu legen. Sie mußte es sofort ins Kindszimmer tragen. Er sah zum erstenmal ihre Brauen sich runzeln.

Sie ist in meiner Abwesenheit kühn geworden, dachte er, das will ich ihr gleich austreiben. Er warf ihr einige gallige Bemerkungen hin, die sie gelassen aufnahm, und begab sich zur Ruhe. Er sank sofort in einen bleiernen Schlaf. Ein Geräusch erweckte ihn. Kyrilla richtete sich im Bett auf.

»Was thust du?« brach er schlaftrunken los.

»Ich stehe auf, weil es Tag ist.«

»Elende, wie hast du mich erschreckt.« Er drückte seinen Kopf in die Kissen. Nein, nein, dieser Rechtsanwalt, der zu seiner Erzählung ihm ins Gesicht gelacht und ihn einen Narren gescholten hatte, war doch ein Verruchter.[152]

Bald darauf erkrankte Bela an Krämpfen. Emmerich wollte den Arzt holen, Kyrilla hielt ihn zurück. Sie selbst würde das Kind kurieren. Es verdrehte schmerzhaft die Augen. Emmerich sah zu, wie sie es abrieb und dabei leise Worte murmelte. Es waren liebkosende, er aber hielt sie für Beschwörungsformeln und stieß Kyrilla zurück. Sie solle ihren Hokuspokus lassen, das hätte sie wohl bei der Base anwenden können, aber hier hätte er ein Wort mitzureden. Sie sah ihn entsetzt an und verließ das Zimmer. Der Arzt erschien, das Kind genas. Aber einige Dienstleute hatten Emmerichs Worte vernommen und verbreiteten sie weiter. Wenn der Herr selbst so redete, mußte wohl etwas daran sein. Man fing an, sie voll Scheu und Argwohn zu betrachten. Man vermied es, mit ihr in nahe Berührung zu kommen.

Voll Schrecken erkannte sie es: man fürchtete sich vor ihr. Man entzog ihr auf jede mögliche Weise das Kind. Nun vereinsamte sie ganz. Weite Spaziergänge waren die einzige Erholung, die sie besaß. Die alte Base war tot, so hatte sie auch kein Ziel ihrer Ausgänge mehr. Oft nahm sie ihre Wege ins Land hinein. Anderthalb Stunden vom Tralgothhof war ein alter Steinbruch, an dessen Abhang sich ein kleines Kastanienwäldchen hinzog. Dort ließ sie sich oft nieder und blickte in die Tiefe hinab, in der im Sommer gearbeitet wurde.[153]

Der Schnee schmolz, dann brach das erste Grün hervor. Zu Anfang des Frühlings starb der alte Pfarrer, Kyrillas bester Freund. Sie weinte ihm keine Thräne nach, aber sie mußte sich zweimal am Wege niederlassen, als sie von seinem Begräbnis kam.

In diesem Sommer vernichteten Gewitter die ganze Ernte. Es gab viel Elend in der Umgegend. Alle Leute befanden sich in Aufregung. Nur Kyrilla blieb gelassen, wie immer. Man sah sie scheel an und bildete eine Gasse, wenn sie vorbeikam. Sie sah ihre Verfehmung. Aber sie fühlte sich frei von Schuld und Fehle und trug den Kopf hoch.[154]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 149-155.
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