X

[189] Seit jenem Weihnachtsabend war eine stille, festtägliche Freude über Kyrilla gekommen. Eine Überzeugung war in ihr erwacht. Sie war nicht mehr allein auf ihrem Golgathawege. Einer half ihr das Kreuz tragen, einer trug es mit. Mit Leichtigkeit hätte er ihrer beider Schicksal wenden können, aber er that es nicht. Er that es nicht, weil er zu den Menschen ihres Schlages gehörte, deren erstes Lebensbedürfnis es ist, sich selbst nichts vergeben zu müssen. Er stand stolz auf seinem Gipfel, sie auf dem ihren. Und sie grüßten sich über den Abgrund hinüber. Jetzt endlich hatten sie den Mut gefunden, einander zu grüßen, der Druck war genommen von den Abenden, die sie Stuhl an Stuhl unten in der Stube verbrachten. Sie wagten es, sich in die Augen zu blicken, ein Gespräch miteinander zu führen. Wie eine Belohnung für den heißen Kampf, den er gekämpft hatte, erschien die offen zur Schau getragene, fast wilde Liebe und Anhänglichkeit[189] Belas für ihn. »Sperr' ihn doch ein,« hatte Hendrik kühl zu Emmerich gesagt. »Laß ihn nicht hinaus, wenn ich draußen bin.«

»Dann schlägt er die Scheiben entzwei und springt durchs Fenster,« war Tralgoths ironische Antwort. »Übrigens, ist es der Junge allein, sind nicht alle meine Leute in deine hübschen Locken verliebt?«

»Sollten es nur die Locken sein?« Hendriks Augen richteten sich fest auf Emmerich. »Ich glaub', unsern Knechten ist der Haarwuchs, den einer hat, ziemlich gleichgiltig. Du bist zu karg mit ihnen.«

»Ei freilich, mit fremdem Geld ist es leicht, hohe Löhne zu bezahlen.«

»Nein, so meinte ich es nicht. Du kargst mit dir selbst. Zeigst du ihnen jemals in letzter Zeit ein freundliches Gesicht? Hast du einen Scherz, ein gutes Wort für sie übrig?«

»Soll ich mit meinen Dienstboten Possen reißen?«

»Nein, das nicht, aber Mensch mit den Menschen sein, nicht immer der Herr.«

»Mensch? War das etwa sehr menschlich von dir, als du neulich Peter zerbleutest, weil er die Milchkufen nicht gereinigt hatte?«

»Freilich war das menschlich. Gerade. Für Verkehrtheiten Strafe, aber sonst ein freundliches Gesicht.«

»Und guten Lohn aus fremden Taschen.«[190]

»Ich gäbe genau so viel, wenn ich an deiner Stelle stünde.«

»Ja, du bist ein Verschwender, das spüren auch alle. Es geht wie Reichtum von dir aus. Wenn du nichts anderes zu geben hast, schenkst du ihnen ein Lächeln.«

»Nun, und trug das böse Folgen?«

»O bewahre.« Emmerich rieb sich ironisch die Hände. »Sie arbeiten ja doppelt so gern, seit du da bist.«

Bei der nächsten Gelegenheit, als Hendrik mit Kyrilla allein war, sagte er zu ihr: »Sorgen Sie doch, daß der Bub' mir nicht so nachläuft. Tralgoth ärgert es. Ich hab's schon dem Jungen verboten, aber in diesem Punkte gehorcht er mir nicht.«

Ihr Gesicht begann unter seinen Worten zu brennen. Er empfand dunkel, daß er ein Geheimnis in ihrer Seele berührt hatte, und schwieg. Sie nahm ihre Fassung zusammen.

»Was kann ich thun, wenn das Kind gern bei Ihnen ist? Ich sehe kein Unrecht darin. Außer – aber nein!«

»Was wollten Sie sagen?«

»Wenn es Ihnen lästig wäre.«

Darauf gab er keine Antwort.

Als die Witterung umschlug und die Tage länger wurden, begannen die Arbeiten in Feld und Garten. Kincs wurde aus seiner Stallhaft entlassen und blähte die Nüstern in der lauen[191] Frühlingsluft. Hendrik setzte ihm hart zu und jagte auf seinem Rücken in die Weinberge hinüber oder fuhr in geschäftlichen Aufträgen in weit entlegne Dörfer. Er hieb mitleidslos auf ihn ein, wenn er träg' seinen Schritt verlangsamte. Bald verlor das Pferd sein überflüssiges Fett und erhielt seine frühere prächtige Gestalt zurück. Es folgte, wenn es aus dem Stall gelassen wurde, Hendrik wie ein Hund auf Schritt und Tritt. Einmal trottete es ihm sogar bis in den Hausflur nach und blieb schnuppernd vor der Wohnstube stehen. Es war keine leichte Arbeit für Kincs, wieder hinauszufinden. Ein reizendes Bild bot es, wenn er und Bela hinter Hendrik dreinliefen. Diese drei schönen Geschöpfe schienen zu einander zu gehören. Belas dunkle, wilde Haarmähne bildete einen seltsamen Gegensatz mit seinen blauen, feurigen Augen. Er begann, jemehr er heranwuchs, um so mehr die Ähnlichkeit mit seinem Vater zu verlieren. Sein kleines Gesicht erhielt in Momenten der Erregung etwas Unbändiges, das Kyrilla erschreckte. Er war nicht ›süß‹, aber wen er einmal in seiner heftigen Weise geliebkost hatte, der konnte ihn nicht mehr vergessen. Früher hatte er sich wenig um seine Mutter gekümmert. In der jüngsten Zeit teilte er seine Zärtlichkeit zwischen Hendrik und ihr.

Eines Abends im Frühling – Kyrilla saß in der Laube im Garten – stellte er sich mit verschränkten Armen vor sie hin und betrachtete sie[192] mit tiefem Interesse. Sie begann unter seinen forschenden Blicken zu lächeln und zog ihn an sich. »Was hast du denn, mein kleiner Bursche?«

»Bist du wirklich ein seliger Schatz, Mama?«

Sie sah ihn verwundert an. »Wie meinst du? Ein seliger Schatz? Du närrischer Junge! Wie kommst du darauf?«

»Onkel Hendrik hat gesagt: eine Mutter ist ein seliger Schatz. Wer keine hat, ist ein Bettler. Wer aber eine hat, der soll ihr folgen und immer in ihre Augen schauen und daraus lesen, was sie wünscht.«

Kyrilla errötete. Sie zog das Kind in die Arme. »Hast du mich denn lieb? Siehst du gerne in meine Augen?«

»O ja, du kommst gleich nachher.«

»Wo nachher?«

»Nach dem Onkel.«

Sie streichelte sein welliges Haar, das ihm dicht in die Stirn fiel. »Wer kommt denn zuerst?«

»Er.«

»Papa?«

»O der!«

»Bela!« Ihre Augen blitzten ihn an. »Zuerst kommt der liebe Gott, dann der Vater, dann die Mutter, dann der Onkel –«

Der Junge stampfte mit dem Fuß auf. »Nein, das leid' ich nicht! Den lieben Gott kenne ich doch gar nicht, wie kann der vor dem Onkel kommen?«[193]

»Sei nicht so dumm,« ermahnte sie ihn. »Der Onkel ist ein Mensch, und der liebe Gott ist der Vater aller Menschen.«

Seine Augen sahen sie fragend an. »Gelt, dann ist er mein Großvater und ein alter Mann mit Zahnlücken und weiten Schlappschuhen wie der Janos, und lang' nicht so schön wie Onkel und –«

Sie lachte. »Ereifere dich doch nicht so, du hast schon ein ganz rotes Gesicht.«

»Ich sag' dir was ins Ohr.«

»Na sag'.«

»Der Papa ist nicht halb so schön wie –«

»Sei ruhig,« rief sie. »Was ist schön, du dummer Junge? Schön ist, wenn ein Mensch gut ist. Und dein Vater ist sehr, sehr gut. Hat er dich jemals schon bestraft? Sorgt er nicht für dich und uns alle?«

»Warum hast du selbst ihn denn dann nicht lieb?«

Sie schrak zusammen. »Ich ihn nicht lieb? Wer sagt dir das?«

»Das – das –« Der Knabe sah, um eine Antwort verlegen, die Mutter an. »Weil ich mir's halt denk',« versetzte er kleinlaut.

»Du bist ein höchst einfältiger Bursch. Merk' dir's. Man hat die Leute am liebsten, mit denen man am wenigsten spricht.«

»Dann hast du Onkel Hendrik noch lieber, denn mit dem redest du noch weniger.«[194]

»Ach, halt' doch den Mund, du schwatzest lauter dummes Zeug.«

Er glitt von ihrem Schoß herab und trat zornig auf.

»Wenn ich einmal groß bin –«

»Nun?«

»Dann geh' ich weit fort.«

»Wohin denn?«

»Übers Meer. Dann kannst du allein bleiben –«

»Nun, es giebt ja viele Kinder auf der Welt. Was hat dir denn die arme Ranke gethan, daß du sie so zerrst?«

»Dann kannst du selbst Trompeten blasen,« stieß er in höchster Bewegung heraus.

Sie zog ihn an sich und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. »Sei nicht so dumm! Sei mein braver Junge! Ich hab' dich ja so lieb.«

»Ich dich auch. Du bist mein seliger Schatz.« Er lachte unbändig auf und streichelte ihr Gesicht.

Ein Geräusch ließ sich vernehmen. Ein lautes, heftiges Atmen. Durch das junge Rankengitter der Laube drängte sich etwas Braunes, ein Haarschopf. Mutter und Sohn fuhren auf.

»Kincs,« rief Bela jauchzend und eilte hinaus. Kincs stand gelassen in einem eben gepflanzten Blumenbeet und bemühte sich, die Besitzer der ihm wohlbekannten Stimmen zu erspähen. Hendrik schritt den Mittelweg hinab, der nach dem Haus führte.[195]

»Onkel, Onkel,« schrie Bela und lief hinter ihm her. Hendrik wandte sich um.

»Geh zu deiner Mutter in die Laube zurück!«

Der Junge stand einen Augenblick unschlüssig, dann gehorchte er. Hendrik trat in die Stube. Tralgoth war ebenfalls erst nach Hause gekehrt. Sie teilten einander einiges mit; dann sagte Hendrik: »Kincs kann nicht mehr so frei herumgehen. Er zertritt die Pflanzen im Garten. Wir müssen einen Zaun von der Hofseite her anbringen lassen.«

»Schon wieder etwas neues!« brummte Emmerich. »Erzieh' lieber das Biest besser, es gehört ja eigentlich mehr dir als mir.«

»Ich habe sonst wenig üble Gewohnheiten an ihm gemerkt. Vorhin hörte er die Stimme der Deinen und wurde aufgeregt.«

»Du meinst meine Frau und den Jungen?«

»Ja.«

»Ich habe ihn überall gesucht, wollte ihn mit mir nehmen. Natürlich war er nicht aufzutreiben für mich.« Emmerichs hämisches Lächeln trieb Hendrik die Zornröte in die Wangen.

»Da sitzt das Weib mit ihrem Kind in der Laube und spricht in Ausdrücken der wärmsten Zärtlichkeit von dir, und du verdächtigst –«

»Hast du gehorcht?«

Hendrik sah ihn ruhig an.

»Ja.«

»So? Ach so.« Tralgoth lächelte und[196] steckte seine Pfeife an. Hendrik fühlte einen roten Schimmer vor seinen Augen aufsteigen. Seine Faust krümmte sich. Er schritt rasch hinaus. Dieser Mann da drinnen hatte den Himmel offen vor sich und lebte in einer Hölle. Eine kleine Bemühung, und das Herz seines Kindes flog ihm zu. Aber er setzte Mißtrauen und Zweifel in alle, die ihm nahe waren. Hendrik fühlte die Wogen eines mächtigen Hasses in sich aufsteigen. Er bezwang sich. Hatte er sich nicht vorgenommen, seine Kraft in den Dienst dieses Menschen zu stellen? Wollte er fahnenflüchtig werden? Herr über sein Herz war er geworden, nun wollte er auch Herr seines Temperaments bleiben.

Indessen begannen in Emmerich die ersten Wurzeln des Verdachts zu treiben. Ösz hatte gestanden, daß er gehorcht habe. Weswegen hatte er gehorcht? Anständige Leute horchen nicht. Er ging also ungerade Wege. Und plötzlich fand Tralgoth eine ganze Menge Anklagematerial gegen den Freund. Hatte er ihm nicht die Zuneigung der Leute geraubt, das Herz seines eigenen Kindes? Selbst das unvernünftige Tier lief ihm nach. Ging das natürlich zu? Auf erklärbarem Wege? Nein. Da steckte etwas dahinter. Genau wie bei ihr, Kyrilla. Hatten die beiden einen geheimen Bund mit einander geschlossen? Und die alte zehrende Qual begann sich aufs neue seiner zu bemächtigen. Wieder[197] sah er sich Rätseln gegenüber, die sein schlichter, einseitiger Verstand nicht begriff. Wieder waren seine Nächte voll Bangen.

Hendrik, der Emmerichs verändertes Benehmen gegen sich fühlte, konnte es sich nur auf eine einzige Weise erklären. Er dachte, dem Freunde reiften die Früchte seiner Arbeit zu langsam. Er begann sich in gewagte Spekulationen zu stürzen. Einigemale stand jeder Halm des Tralgoth-Hofes auf dem Spiele. Emmerich sträubten sich die Haare vor Schreck, als Ösz ihn kaltblütig in seine Operationen einweihte. Er überhäufte ihn mit Vorwürfen und Bitterkeit.

»Wer nicht einsetzt, gewinnt nicht,« warf Hendrik hin. »Es giebt noch genug Mittel, sich aus der Welt zu flüchten, wenn unsere Sache verlieren sollte.« Das große Grundstück, das Hendrik von einem Nachbarn erworben und bar bezahlt hatte, wurde um einen dreimal so hohen Preis von einer Eisenbahngesellschaft angekauft. Tralgoth atmete auf, als er den Ausgang des kühnen Spieles erfuhr. Aber nie wieder, schwor er.

»Du solltest einen Kramladen in der Stadt aufmachen,« spöttelte Hendrik. »Dazu eignetest du dich.«

Nach kurzer Zeit hatte sich Ösz als kühner Schwimmer abermals auf das unsichere Meer der Spekulation hinausgewagt. Und wieder gelang es ihm, reichen Gewinn zu erzielen.[198] Es lag eine selbstsichere Kühnheit in ihm, die niemals an ihren Erfolgen zweifelte. Er streute Tausende hinaus, um Zehntausende herein zu bringen. Sollten auch einmal die Tausende verloren gehen, was that's?

An sich selbst dachte er nie bei seinen Spekulationen. Emmerich beobachtete ihn genau. Suchte er wirklich nicht den kleinsten Gewinn bei der Sache für sich selbst herauszuschlagen? Tralgoth wünschte beinahe heftig, daß er es thäte. Das hätte er begriffen. Aber daß er es nicht that, das begriff er nicht. Er legte es ihm so nahe, daß Hendrik ein Dummkopf hätte sein müssen, um ihn nicht zu verstehen. Emmerich wurde stutzig und stutziger. Es bestärkte seine Meinung, daß da irgend etwas in Hendrik nicht richtig war. Denn ein vernünftiger Mensch hätte doch die günstige Gelegenheit benutzt, sich etwas zurück zu legen. Erwartete Hendrik irgend etwas anderes für seine späteren Tage? Was? Hatte er geheime Pläne? Arbeitete er etwa, während er für den Freund zu arbeiten vorgab, doch für sich selbst? Solche Vorstellungen quälten Tralgoth. Jemehr Anlaß zur Zufriedenheit er hätte haben können, um so argwöhnischer und gedrückter wurde er.[199]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 189-200.
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