14. Zykel

[83] Der Magister Wehmeier, der sich von weitem die Gestalt und das Bewegen des Vogels nicht erklären konnte, hatte sich heraufgemacht und sah nun zur Kreuzeserhöhung des Zöglings hinauf. Er stürzte anfangs ins Plongierbad des Eis-Schauders über die Kühnheit, aber er stieg bald aus ihm heraus unter das Tropfbad des Angstschweißes, den an ihm der Gedanke ansetzte, in jeder Minute falle der Eleve herab und zerschelle in 26 Trümmer, wie Osiris, oder in 30, wie die mediceische Venus: »Und das jetzt,« (dacht' er hinzu) »da ich den jungen Satan in Sprachen soweit gebracht und einige Ehre an ihm erlebte.« Daher filzte er nur die Hebemaschinisten, aber nicht den Hochwächter aus, weil zu besorgen war, unter dem Verantworten rutsch' er droben aus. Den optischen Wagen, mit welchen der Teufel den im Angstkreise befestigten Magister zu überrennen drohte, kam endlich ein wahrer nachgefahren, worin der künftige – Landschaftsdirektor saß. Ach lieber Gott! – Der Direktor schöpfte ohnehin allezeit beim Minister die ganze Gallenblase voll bitterer Extrakte ein, bloß weil er dort artigere und stillere Kinder vorfand, ohne doch zu bedenken – wie hundert Väter, die hier mit angefahren werden müssen –, daß Kinder wie ihre Eltern sich Fremden besser präsentieren, als sie sind, und daß ihnen überhaupt das Stadtleben statt der höckerigen dicken Borke des Dorflebens die glatte weiße Birken-Folie überlege, indes sie am Ende, wie ihre Eltern und Hofleute, nur gleich Kastanien an der Außenschale abgeschliffen, innen aber verdammt borstig anzufühlen sind. So gewiß werden den feinsten Mann vom Lande immer wenigstens Prinzen und Minister überlisten, die zehn Jahr alt sind, – gesetzt auch, er nehm' es leichter mit ihren Vätern auf.

Als Wehrfritz seinen Pflegesohn auf dem Schreckhorne horsten sah und den Schachtelmagister unten, der hinaufschauete:[83] so bildete er sich ein, der Instruktor hab' es veranstaltet, und fing laut an, ihm aus dem zugesperrten Wagen einen kleinen Himmel voll Donnerwetter und Donnerschläge auf den Hals zu fluchen. Der verfolgte Wehmeier fing auf dem Berge auch an, laut zum Schreckhorne hinaufzuzanken, um dem Direktor darzutun, daß er seines Amtes warte und mit dem Hammer des Gesetzes als mit einem bildenden Tiefhammer so gut wie einer am Zögling schmiede. Die Soldatenfrau rang die Hände – die Knechte stellten sich zur Kreuzesabnehmung an – der arme glühende Kleine zog sein Messer und rief herab: »er schneide sich gleich los und werfe sich hinab, sobald einer jetzt die Stange niederlasse.« Er hätt' es auch getan – und sein Leben und meinen Titan frühzeitig ausgemacht –, bloß weil er die Schande der väterlichen Real- und Verbal-Injurien vor so vielen Leuten – ja im Wagen saß gar ein fremder Herr – ärger noch als Selbstmord und Hölle floh. Allein der Direktor, selber voll Tollkühnheit und doch voll Haß derselben am Kinde, ließ es darauf ankommen und rief entsetzlich nach dem Bedienten, der den Schlüssel zur Wagentüre hatte; er wollte heraus und hinauf. Er war unbeschreiblich erboset, erstlich, weil er hinten dem Wagen einen Österleinschen Flügel als Angebinde des heutigen Freudentages aufgebunden – ach Albano, warum hören deine Freuden wie die Schleifer eines Bierfiedlers mit einem Mißtone auf? –, und zweitens, weil er drinnen einen Sing-, Tanz-, Musik- und Fecht-Meister aus dem polierten glänzenden Ministers-Hause für Albano neben sich auf dem Polster als Zuschauer der Debutrolle sitzen hatte. Gottlieb sprang vom Bocke vor die Wagentüre, fuhr fluchend durch alle Taschen, der Wagenschlüssel war in keiner. Der inkarzerierte Direktor arbeitete im Tierkasten wie ein wedelnder Leopard, und sein Grimm sprang, wie ein Löwe, den ein Jäger nach dem andern anschießet, gegen den dritten an. Alban sägte auf allen Fall im Stricke hin und her. Der Schachtelmagister war am besten dran; denn er war halbtot und vernahm hinter seinem in saurem Angstschweiße geronnenen kalten Körper wenig mehr von der Außenwelt, sein Ich war fest und gut wie Schnupftabak in kühles Blei verpackt. –[84]

Ach mit dem geängstigten Knaben leid' ich stärker, als säß' ich mit auf der Stange; seinem rührend-edlen Angesichte mit der feingebogenen Nase wirft die westliche Aurora und die Scham den Purpur über, und die tiefe Sonne hängt sich küssend an seine Wangen, gleichsam an die letzten und höchsten Rosen der dunkeln Erde; und er muß die trotzig-blickenden Augen von der geliebten Sonne und von dem Tage, der noch auf ihr wohnt, und von den beiden Lindenstädter Turmknöpfen, die zu ihren Seiten glimmen, wegziehen und die kräftig-gezeichneten und scharfwinklichten Augenlider, welche Dian mit den zu heroischen und durchgreifenden am Christus-Kinde der aufsteigenden Madonna von Raffael verglich, bange auf den schwülen Zank des tiefen Bodens niederschlagen.

Gottlieb trieb mit aller Mühe den Wagenschlüssel nicht auf, denn er hatt' ihn in der Tasche und in der Hand und wollt' ihn aus Schonung für den jungen Herrn, den die ganze Dienerschaft so »freßlieb« hatte wie den Kegelplatz, nicht gern herausgeben. Er votierte auf das Herholen des Schlossers, aber der Kutscher überstimmte ihn mit dem Rate, lieber gleich vor die Werkstatt hinzufahren – und schnauzte die Pferde an- und fuhr den inhaftierten Kontroversprediger in seiner Kanzel mit dem aufgepackten Österleinschen Flügel im Trabe davon. Das wenige, was der Bombardeur unter Gottliebs Aufsitzen noch aus dem Wagen werfen konnte, bestand darin, daß er ein Fenster einstieß und aus der Schieß-Scharte noch einige der nötigsten nachbrennenden Schüsse zum Unglücks-Vogel auf der Stange hinauftat.

Jetzt bekam der Magister seinen Mut und Ärger wieder, und er gebot kühn das Herunternehmen des Absaloms. Indem das Kind mit der Sitzstange vor ihm vorübersank, legte er die fünf Schneidezähne der Finger wie ein Rostral in die Kopfhaut und rastrierte damit am Hinterkopfe herab, in der Absicht, die krumme Linie des Haars spielend dadurch zu rektifizieren, daß ers mit seiner Hand wie mit dem Frosch eines Fiedelbogens mäßig anzog, als er zu seinem Erstarren meinem Helden den würzburgischen Zopf wie eine Schwanzfeder ausriß.[85]

Wehmeier besah staunend die cauda prendensilis (den Wickelschwanz), und durch seine auf den kleinern Fehler gelenkte Aufmerksamkeit gewann Albano dabei soviel wie Alcibiades bei dem abgehackten Schweife seines – Robespierre. Der Magister dankte Gott, daß er heute nicht mit dem alten Wehrfritz soupieren durfte, und schickte verblüfft ihn mit dem Vexierzopfe nach Haus.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 83-86.
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