33. Zykel

[159] Das deutsche Publikum wird sich noch der vom Antrittsprogramm versprochenen obligaten Blätter erinnern und mich fragen, wo sie bleiben. Der vorige Zykel war das erste, bestes Publikum; aber sieh daraus, wie obligate Blätter sind und daß vielleicht so viel Geschichte darin stecke als in irgendeinem Zykel, wie er auch heiße.

Der Graf hatte noch nichts von Lianens Unglück erfahren, als er mit den andern hinunter zum Diner des Doktors ging, der heute sehr gastfrei war. Sie fanden ihn im heftigsten Lachen begriffen, die Hände in die Seiten gestützt und die Augen über zwei Salbennäpfchen auf dem Tische gebückt. Er stand auf und war ganz ernsthaft. In Reils Archiv für die Physiologie hatt' er nämlich gefunden, daß nach Fourcroy und Vauquelin die Tränen den Veilsaft grün färben und also Laugensalz enthalten. Um nun den Satz und die Tränen zu prüfen, hatt' er sich hingesetzt und ernsthaft stark gelacht, um zu weinen und einige Tropfen für die Solwaage des Satzes zu gewinnen; er hätte sich gern anders erschüttert, durch Rührung, aber er kannte seine Natur und wußte, daß nichts dabei herauskäme, nicht ein Tropfe.

Er ließ die Gäste ein wenig allein – die Frau war auch noch nicht zu sehen – Malz saß in einer Ottomane – die Kinder hatten satirische Mienen – kurz die Unverschämtheit wohnte in diesem Hause wie in ihrem Tempel. – Auf den Alten wirkte kein Spott, und er ordnete nur ab, was ihm, nicht was andern mißfiel.

Endlich schwenkte sich als Voressen oder Vorbericht der Suppe die rosabackige Physikussin in die Stube herein mit 3 oder[159] 4 Esprits oder Federstutzen – mit einer scheckigen Hals-Schürze – in einem roten Ballkleide, dem die Walzer die Farbe ausgezogen, die sie ihr aufgelegt – und mit einem durchbrochnen Putzfächer. Wenn ich wollte, könnt' ich mich ihrer annehmen; denn anlangend die Esprits (da oft der Esprit, wie bei den Embryonen das Gehirn, sich auf die Gehirnschale heraussetzt und da sonnet), so dachte sie, Weiber und Rebhühner würden am besten mit Federn auf dem Kopfe an der Tafel serviert – anlangend den Fächer, so gab sie vor, sie komme von einem Morgenbesuche (wobei sie recht deutlich voraussetzte, daß Damen so wenig ohne Fächerstäbe als Tischler ohne Maßstab durch die Gasse dürfen) – anlangend den Rest, so wußte sie, der Gast sei ein Graf. Sonach scheint es, daß sie unter die Honoratiorinnen gehöre, die (der größern Anzahl nach) gleich den Klapperschlangen nie besser zu genießen sind, als wenn man vorher ihren Kopf beseitigt; aber das haben wir noch immer Zeit zu glauben, wenn wir besser hinter sie kommen.

Der schöne Zesara war für sie blind, taub, stumm, geruch-, geschmack-, gefühllos; aber manchen Weibern kann man mit der größten Mühe und Langweile kaum – mißfallen; Schoppe vermocht' es leichter. Sphex machte sich für seine Person aus einer Fett-Zelle Malzens mehr als aus dem ganzen Zell- und Florgewebe einer oder seiner Frau; gleich allen Geschäftsleuten hielt er die Weiber für wahre Engel, die Gott zum Dienste der Frommen (der Geschäftsmänner) ausgesandt.

Der Zug des Essens hob an – Augusti, ein feiner Esser, freuete sich auf viel und hielt sich nicht nur ans feine Service, sondern auch an die zerrissenen Servietten, dergleichen er oft an Höfen auf dem Magen gehabt, weil man da in der Moral und im Weißzeuge Wunden lieber hat als Pflaster. – Es traten sogar schon wie gewöhnlich Vorposten und erste Treffen von elenden Speisen auf, die gewöhnlichen Propheten und Vorläufer des besten Kerns, wiewohl ich an hundert Tafeln es verwünschte, daß sie nicht wie gute Monatsschriften die besten Stücke zuerst und die magersten zuletzt geben. – Der Physikus hatte schon zu den drei Knaben gesagt: »Galenus! Boerhaave! Van Swieten! wie sitzet man artig?«[160] – und die drei Ärzte hatten schon drei rechte Hände zwischen die Westenknöpfe und drei linke in die Westentaschen geschoben und passeten steilrecht – als guter Schabzieger anlangte zum Nachtisch. Sphex gab teils Lust zum Käse, teils Abscheu davor, wie ers gerade offizinell fand. Er merkte auf der einen Seite an, wie die Tischler in ihrem Leimtopfe keinen bessern Leim hätten, als was da vor ihnen stehe – er binde ebenso im Menschen – doch würd' er für seine Person ihn lieber mit Doktor Junker wie Arsenik äußerlich überschlagen; – aber er gestand auch auf der andern Seite, daß der Schabzieger für den Lektor Gift sei. »Ich wollte mich dafür verpfänden,« (sagt' er) »daß Sie, wenn man Sie untersuchen könnte, hektisch wären; die langen Finger und der lange Hals sprechen für mich, und besonders sind die weißen schönen Zähne nach Camper ein böses Zeichen. Personen hingegen, die ein Gebiß haben wie meine Frau da, dürfen sicher sein.«

Augusti lächelte und fragte bloß die Doktorin, zu welcher Zeit man am besten zum Minister komme.

Solche vergiftende Reflexionen so wie den Mittags-Katzentisch gab er nicht aus satirischer Bosheit, sondern aus bloßer Gleichgültigkeit gegen andre, auf die er, gleich einem Rechtschaffnen, nie unter seinem Handeln Rücksicht nahm. Mit der Freiheitsmütze des Doktorhuts auf dem Kopfe erhielt er von seiner medizinischen Unentbehrlichkeit so viele akademische Freiheiten, daß er zwischen seinen vier Pfählen nicht freier aß und agierte als zwischen dem bunten spitzen Pfahlwerke des Hofes. Bracht' er da jemals – das frag' ich – einen Tropfen süßen Wein über die Lippen, ohne vorher einen Ephraimiten, der selber die Probationstage nicht überlebte, herauszuziehen und ins Glas zu hängen, bloß um vor dem Hofe zu untersuchen, ob der Ephraimit darin nicht schwarz werde? Und wenns das Silber tat, war da nicht das Überschwefeln des Weins so gut als demonstriert, und hätte der Physikus nicht den Hof, die Süßigkeit, das Schwärzen, Vergiften und Überschwefeln recht artig applizieren können, wenn er der Mann dazu gewesen wäre? –

Dem Zufalle, daß der Lektor über die Einlaßzeit bei dem Minister für heute nachforschte, hatt' es Albano zu danken, daß er[161] den schmerzlichen Unfall nicht im Hause des Ministers oder neben der Blinden selber erfuhr. »Sie können« (antwortete Sara, die Doktorin) »auch den Bedienten hinschicken; der unterschreibt sich für Sie alle; mich aber dauert niemand wie die Tochter.« Nun brach ein Sturm von Fragen nach dem unbekannten Vorfalle los. »Es ist so«, fing der Physikus mürrisch an, legte sich aber bald, weil er in einigen Augen Wasser für seine Mühle sah – und weil er alle medizinische Schuld von sich auf den Hauptmann Roquairol zu wälzen suchte –, so gut er konnte, auf pathetisches Detail und log fast sentimental. Er schob mit einem unbemerkten Winke der gerührten Frau einen leeren Teller zu als Lakrymatorium, damit nichts umkäme. Aus den verfinsterten Augen des vergeblich-kämpfenden Jünglings riß der erste Lebensschmerz einige große Tropfen. »Ist wohl eine Herstellung möglich?« fragte Augusti sehr bekümmert, wegen seiner Verbindungen mit der Familie.

»Wahrlich ein bloßer Nervenzufall ists« (versetzte Schoppe keck) »und weiter nichts; Whytt erzählt, daß eine Frau, die zu viel Säuere im Magen hatte (im Herzen wär's noch ärger), alles umnebelt erblickte, wie Mädchen vor naher Migräne.« – Sphex, der nur des Pathos und Laugensalzes wegen gelogen hatte und den es ärgerte, daß der Bibliothekar seiner heimlichen Meinung gewesen, antwortete so, als hätte dieser gar nicht geredet: »Der höchste Grad der Schwindsucht, Herr Lektor, schließet sich oft mit Erblinden; und zu beiden wäre hier wohl Rat. Inzwischen kenn' ich eine gewisse nervöse periodische Blindheit – ich hatte den Fall an einer Frau48, die ich bloß durch Aderlassen, Dampf von gebrannten Kaffeebohnen und die Abenddünste des Wassers aufbrachte – das wird nun an der Nervenpatientin wieder versucht. Ein pflichtmäßiger Arzt wird aber immer wünschen, daß der Teufel Mutter und Bruder hole.«

Nämlich der Wiederstrich von Lianens Zugkrankheit setzte ihn außer sich. Beleidigungen der Ehre, der Liebe, des Mitleidens[162] machten den Physikus nie warm, und er behielt seinen Überzug aus Glatteis an; aber Störungen seiner Kuren erhitzten ihn bis zum Zerspringen; und so sind wir alle Springgläser, die den Hammer vertragen und nicht eher in tausend Splitter zerfahren, als bis man die kleine Spitze abbricht; bei Achilles wars die Ferse, bei Sphexen der Arznei-Doktor-Ringfinger, bei mir der Schreibfinger. Der Doktor schüttete nun sein Herz aus, wie einige ihre Gallenblase nennen; er schwur bei allen Teufeln, er habe mehr für sie getan als jeder Arzt – er hab' es aber schon vorausgewußt, daß eine so dumme Erziehung bloß für das Schönaussehen und Beten und Lesen und Singen eine verdammte Wirtschaft wäre er hätte gern oft die Harmonikaglocken und Tambournadel49 zerbrochen – er habe oft die Mutter ohne Schonen auf Lianens sogenannte Reize und auf die Empfindsamkeit, helle Wangenröte und sammet-weiche Haut aufmerksam genug gemacht, hab' aber damit fast mehr zu erfreuen als zu betrüben geschienen – was ihn allein belustige, sei, daß das Mädchen vor einigen Jahren todkrank geworden vom ersten heiligen Abendmahle, wovon er sie abzuhalten versucht, weil er schon an der vierten Patientin die betrübtesten Folgen dieses heiligen Aktus kennen lernen. – –

Zum allgemeinen Erstaunen schlug sich mein Graf gegen alle auf Roquairols Partei. Ach deine ersten Frühlingsstürme zogen jetzt gefangen in deiner Brust umher ohne eine freundschaftliche Hand, die ihnen einen Ausweg gab, und du wolltest deinen blutigen Gram bedecken! – Und suchtest du nicht einen Geist voll Flammen, ein Auge voll Flammen für deine, und hättest du dich nicht lieber mit einem donnernden Höllengotte verbrüdert als mit einem pietistischen matten, gleich einer Schabe unterhöhlenden Himmelsbürger? – Barsch fragt' er den Doktor: »Wo haben Sie das Herz des Fürsten?« – »Ich hab' es nicht,« sagte Sphex betroffen, »im Tartarus50 liegts – wiewohls der Wissenschaft profitabler gewesen wäre, hätte man es unter seine Präparate stellen[163] dürfen; groß wars und sehr singulär.« Er dachte daran, daß er oft – wo er konnte – wie ein Augur unter dem Sezieren ein oder das andre bedeutende Glied als ein Prinzen- und Junkern-Räuber à la minuta heimlich beiseite geschafft – für sein Studium, ein Honig, den er sich gern mit seinem Anatomier- und Zeidelmesser ausschnitt.

»Hat sonach das Fräulein eine unglückliche Liebschaft oder dergleichen?« fragte Schoppe. »Mehr als eine!« (sagte Sphex) »Krüppel – Preßhafte – Waisenjungen – blinde Methusalems; alle diese Liebschaften hat sie. Späße und junge Herren, sag' ich oft zur Alten, bekämen ihr gesünder.«

Aber darin, in der Forderung der Heiterkeit, geb' ich ihm nach – Freude ist die einzige Universaltinktur, die ich präparieren würde – sie wirkt (und stets) als antispasmoticum, als glutinans und adstringens – das Freudenöl dient zur Brand– und Frost-Salbe zugleich. – Der Frühling z.B. ist eine Frühlingskur, eine Landpartie eine Austernkur, eine Brunnenbelustigung eine Maß Bitterwasser, ein Ball eine Motion, ein Fasching ein medizinischer Kursus – und daher ist der Sitz der Seligen zugleich der Sitz der Unsterblichen. – –

»Ja er habe,« beschloß der Doktor, »weils Leute von Stande wären, zuletzt zum Hochmut geraten, der alle offizinellen Heilkräfte der Freude zeige; sehr starker wirke völlig wie diese, belebe den Puls, stähle die Fibern, sperre die Poren auf und jage das Blut durchs lange Aderngewinde51. – Seiner schwächlichen Frau, wie man sie da sehe, hab' er früher durch Kleider und Doktors-Rang dieses Medikament beigebracht und ihr damit auf die Beine geholfen. – Aber er wolle lieber 60 gemeine Weiber als eine vornehme kurieren – und er bedauere als Hausarzt bloß seine Rezepte und medizinischen Bedenken, falls einmal, wie er gewiß glaube, die schöne Liane von hinnen fahre.«

Die erste Frage, die der nie etwas überhörende Albano auf dem Rückwege vom Doktor an Augusti tat, war, was die Doktorin[164] mit dem unterschreibenden Bedienten haben wollen. Er erklärte es. Es ist nämlich in Pestitz wie in Leipzig die Observanz, daß, wenn ein Mensch verstirbt oder sonst verunglückt, dessen Familie einen leeren Bogen Papier samt Dinte und Feder in den Vorsaal legt, damit Personen, die nähern Anteil nehmen und zeigen, einen Lakaien dahin schicken können, der ihren Namen auf den Bogen setzt, so gut er weiß; – dieses kaufmännische Indossement des nähern Anteils, dieses niedersteigende repräsentative System durch Bediente, die überhaupt jetzt die Telegraphen unsers Herzens sind, macht beiden Städten großen Schmerz und Anteil süß und leicht durch Dinte und Feder.

»Ach das, Gott?« – (sagte Alban und erzürnte sich ungewöhnlich, als dringe man ihm Bedienten zu Chrysographen und Geschäftsträgern seiner Gefühle auf) – »o ihr egoistischen Gaukler! durch die Feder schreibender Lakaien gießet ihr euch aus? – Lektor, dem Satan selber würd' ich wärmer kondolieren als so!« –

Warum ist dieser verhüllte Geist so rege und laut? – Ach alles hat ihn bewegt. Nicht bloß der Jammer über die von allen nächtlichen Pfeilen des Verhängnisses verfolgte Liane trat eisern in sein offnes Herz, sondern auch das Erstaunen über das dunkle Einmischen des Schicksals in sein junges Leben; – Roquairols wiederkommender Ausdruck »Brust ohne Herz« klang ihm, als wenn er ihm bekannt sein sollte; endlich fiel ihm die Umkehrung ein, das Wort der insularischen Sphinx: Herz ohne Brust – – Also sogar dieses Rätsel war gelöset und der Ort bestimmt, wo er wider jede Erwartung die Weissagung der Geliebten hören sollte – aber wie unbegreiflich, unbegreiflich!

»O Liane heißet sie, und kein Gott soll den Namen ändern«, sagte seine innerste Seele. – Denn in frühern Jahren hat eben der kräftigste Jüngling an Mädchen reizende Kränklichkeit und weiche Vollgefühle und nasse Augen lieber – so wie man überhaupt in Albanos Jahren die Flut (später die Ebbe) der Augen zu hoch anschlägt, ob sie gleich oft wie zu reiches Begießen die Samenkörner der besten Entschlüsse wegschwemmen –; indes er später (weil er den Ehestand und die Wirtschaft antreten will)[165] sich mehr nach hellen und scharfen Augen als nach feuchten, und mehr nach kaltem und gesundem Blute erkundigt.

Da Alban das Feuer seiner innern Wolken meistens an den Ausladeketten der Klaviersaiten niedergehen ließ – seltener in die Hippokrene der Poesie –: so macht' er aus seinem innern Charivari unbewußt einen Klavierauszug. Ich transponiere seine Fantaisie folgendermaßen in meine Phantasie. Auf den weichsten Molltönen ging die Erblindung mit ihren langen Schmerzen vorüber, und im Sprachgewölbe der Tonkunst hört' er alle leisen Seufzer Lianens laut. – Dann führten ihn härtere Molltöne in den Tartarus an das Grab und Herz des alten freundlichen Mannes, der mit ihm einmal gebetet hatte, und da sank in der Geisterstunde leise wie ein Tau der Laut vom Himmel: Liane! – Mit einem Donnerschlage des Entzückens fiel er in den Majore-Ton, und er fragte sich: »Diese fromme lichte Seele konnte das Schicksal deinem unvollkommnen Herzen versprechen?« Und da er sich antwortete, daß sie ihn vielleicht lieben werde, weil sie ihn nicht sehen könne – denn die erste Liebe ist nicht eitel –, und da er sie von ihrem gigantischen Bruder führen sah und da er an die hohe Freundschaft dachte, die er ihm geben und abverlangen wollte: so gingen seine Finger in einer erhebenden Kriegsmusik über die Tasten, und es klangen die himmlischen Stunden vor ihm, die er genießen werde, wenn seine zwei ewigen Träume lebendig aus der Nacht in den Tag herübergingen und wenn ein verschwistertes Paar seinem so jungen Herzen zugleich den Freund und die Freundin gäbe. – Hier verklang leise sein inneres und sein äußeres Stürmen – und die gleichschwebende Temperatur des Instruments wurde die des Spielers....

Aber eine Seele wie seine wird leichter vom Schmerze befriedigt als vom Glücke. Als wäre die Wirklichkeit da, so drang er weiter: unbeschreiblich-hold und überirdisch sah er Lianens Bild in ihrem Leidenskelche zittern; denn die Dornenkrone veredelt leicht zum Christuskopfe, und das Blut der unverdienten Wunde ist Wangenrot am innern Menschen, und die Seele, die zu viel gelitten, wird leicht zu viel geliebt. – Die zarte Liane schien ihm schon für die Flora der zweiten Welt in den Leichenschleier eingesponnen,[166] wie die weichen Glieder der Bienennymphe durchsichtig über der kleinen Brust gefaltet liegen – die weiße Gestalt aus Schnee, die einmal in seinem Traume auf seinem Herzen zerronnen war, öffnete das helle Wölkchen wieder und sah blind und weinend auf die Erde und sagte: »Albano, ich werde sterben, eh' ich dich gesehen habe.« – »Und wenn du mich auch«, sagte das sterbende Herz in seiner Brust, »niemals siehst: so will ich dich doch lieben. – Und wenn du auch bald vergehst, Liane, so erwähl' ich gern den Schmerz und gehe treu mit dir, bis du im Himmel bist.«.... Der Himmel und die Hölle hatten vor ihm zugleich ihre Vorhänge aufgezogen – nur wenige und dieselben Töne und höchste und unterbrochene konnt' er noch leise bestreifen – und endlich sanken die Hände unter- und er fing zu weinen an, aber ohne zu harte Schmerzen, wie das Gewitter, das seine Blitze und Donner aufgelöset hat, nur noch mit einem leisen weiten Regen über der Erde steht. –

48

Eine nervenschwache (ich weiß nicht, obs die nämliche ist), welche viel Religion, Phantasie und Leiden hatte, wurde, wie sie mir erzählt, auf dieselbe Weise blind und auf dieselbe geheilt.

49

Das ewige Prickeln der empfindlichern Finger-Nerven durch Strick-, Tambour- u.a. Nadeln macht vielleicht so gut wie das Berühren der Harmonikaglocken durch Reizen nervenschwach.

50

Der Tartarus ist die melancholische Partie in Lilar.

51

Den Blutumlauf beschleunigt Hochmut bis zum Wahnsinn. Übrigens ist die ganze Bemerkung von dem pharmazeutischen Werte des Hochmuts aus Tissots »traité sur les Nerfs« geholt.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 159-167.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Titan
Sämtliche Werke, 10 Bde., Bd.3, Titan
Titan (insel taschenbuch)
Titan. Bd. 1/2
Titan: A Romance from the German (German Edition)
Titan, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon