[712] Am Morgen darauf fuhren beide Freundinnen nach Arkadien. Julienne – obwohl betrübter durch ihren kränkern Bruder – heiterte sich durch das Vertrauen auf einen Plan auf, den sie ungeachtet ihrer Versicherung zum Glücke des gesunden entworfen, um ihn in Arkadien auszuführen. Sie verbarg öfters, wie andere hinter den schwarzen Trauerfächern der Trauer und Empfindung, so hinter dem heitern Putzfächer des Lachens, der den Zuschauern die bemalte Seite zukehrte, ihren Kopf mit seinen Entwürfen; unter Lachen und Weinen ging und dachte sie diesen nach. So hatte sie an Albano die Bitte, Idoine mit zu besuchen, nur aus Schein und in der Gewißheit getan, daß er sie abschlage, oder im Falle er komme, daß es dann Idoine tue; denn sie wußte aus Idoinens Besuchen im vorigen Winter, daß diese an den von ihr hergestellten schönen Fieberkranken häufig in Gesprächen gedacht und daß sie jetzt vor seiner Ankunft geflohen war, um nicht über seine helle liebende Gegenwart, die ihr am leichtesten durch die Fürstin bekannt geworden, als ein Gewölke aus der Vergangenheit hereinzuziehen voll trüber Ähnlichkeiten. Julienne hatte sogar erfahren, daß die Fürstin sie umsonst länger halten und aufbewahren wollen, um vielleicht den Jüngling durch sie zu erinnern, zu schrecken, zu ändern, oder zu strafen. Juliennens Liebe gegen die Prinzessin wäre durch jene zarte Flucht vor Albano vielleicht so warm geworden, als die gegen Linda war, wenn eben diese Liebe nicht dazwischen gestanden hätte; wenigstens hatt' ihr diese schöne Flucht ein ungemessenes Vertrauen – was eben das rechte und einzige ist – auf die Prinzessin gegeben.
Der Reisetag war ein schöner Ernte-Morgen voll bevölkerter Kornfluren, voll Kühle und Tau und Lust. Linda freuete sich kindlich auf Idoine und sagte die Gründe in frohem Tone: »Zuerst weil sie deinem Bruder das Leben gerettet – und weil sie doch wußte, was sie wollte, und darauf mutig beharrte und sich nicht wie andere Prinzessinnen zum Opfer des Thrones verhandelte – und weil sie die deutscheste Französin ist, die ich kenne,[712] außer der Madame Necker – Ja mir gehört sie ordentlich mit aller schönen Jugend unter die alten Frauen, und diese sucht' ich von jeher vor, denn es ist doch etwas von ihnen zu lernen. Dich liebt sie sehr, mich, glaub' ich, weniger, einem so reizenden Mittelding von Nonne und Ehefrau schein' ich zu weltlich, ob es gleich nicht ist.«
Beide kamen im schönen Zauberdorfe – als schon die netten Kinder sich zur Ährenlese verbündeten und die Wagen schon den Sammlern der Garben entgegenfuhren – nachmittags vor dem Mittagsessen an. Idoinens Bruder, der künftige Erbfürst von Hohenfließ – der Zwerg in Tivoli –, sah aus dem Fenster, und Julienne bedauerte fast die Reise. Idoine flog ihr entgegen und drückte sie herzlich an die Brust. Als Julienne dieses große blaue Auge und jeden verklärten Zug der Gestalt, die einst ihr Bruder so selig und schmerzlich geliebt, vor und auf ihrem Angesicht hatte: so glaubte sie jetzt, da sie seine Schwester geworden, gleichsam als seine Stellvertreterin die Liebe der Stellvertreterin Lianens zu empfangen; und sie mußte, wie allzeit seit diesem Tode bei dem ersten Empfange, innig weinen.
Linda wurde von der Prinzessin mit einer so tiefen Zärtlichkeit empfangen, daß sich Julienne wunderte, da sonst beide in einem Wechsel von Kälte und Liebe lebten. Die Ministerin Froulay stand da, von der Trauer so alt, kalt, still und höflich, so kalt gegen die Zeit und die Menschen (ausgenommen das Ebenbild ihrer Tochter), besonders gegen Linda, deren kecker, entschiedner, philosophischer Ton ihr unweiblich und eine Trommete an zwei Frauen-Lippen zu sein schien.
Der künftige Erbprinz von Hohenfließ entfernte sich zum Glücke bald von einem so unbequemen Ort, wo er auf einem Schiffbruchsbrett statt in einer Gondel fuhr. Nachdem er Julienne mit Anteil um das Befinden ihres Bruders, seines jetzigen Vorfahrers, gefragt – und sie und Linda an ihre und seine welsche Reise erinnert hatte: so wurd' er über Juliennens Kaltsinn und über die moralischen Gespräche der Weiber und über einen gewissen sittlichen Gewitterdruck – den Lüstlinge bei Weibern empfinden, wo alles Rauhe, die Selbsucht, die Anmaßung als[713] Mißton schreiet – und über die allgemeine plagende Heuchelei wofür er sogleich alles nehmen mußte – so verdrüßlich und verstimmt, daß er leicht aufbrach und dieses Schäferleben um den einzigen Wolf verkürzte, der darin schlich. Lüstlinge halten es unter vielen edlen Frauen, gedrückt von deren vielseitigen scharfen Beobachtungen, nie lange aus, obwohl leichter bei einer allein, weil sie diese zu verstricken hoffen. Was ihm am wehesten tat, war, daß er sie alle für Heuchlerinnen erklären mußte. Er fand keine gute Weiber, weil er keine glaubte; da man sie glauben muß, um sie da zu sehen, wo sie sind; so wie die Tugend üben, um sie zu kennen, nicht umgekehrt.
Mit ihm schien eine schwarze Wolke aus diesem Eden und Äther wegzuziehen. Die Ministerin erhielt eine Karte von ihrem Sohne Roquairol, der eben angekommen, und ging auch – zu Juliennens Freude, die an ihr ein kleines Hindernis ihres Bekehrungsplans für Linda fand, weil diese die Ministerin für eine einseitige, enge, bängliche, unnachgiebige Natur ansah. Idoine bat die beiden Jungfrauen, ihr kleines Reich mit ihr zu bereisen. Sie gingen hinab ins reine weite Dorf. Auf den Treppen begegneten ihnen heitere dienstgefällige Gesichter. Aus den fernen Zimmern des Schlosses hörte man bald Singen, bald Blasen. Wie am Vogel sich das glänzende Gefieder schnell und glatt in- und auseinanderschiebt: so bewegten um Idoine sich alle Geschäfte; ihre ökonomische Maschine war keine plumpe knarrende Turmuhr, sondern eine spielende Bilderuhr, welche hinter Töne die Stunden, hinter Bilder die Räder versteckt.
In einem Wiesengarten spielten die jüngsten Kinder wild durcheinander. Herrnhutische und holländische Reinlichkeit hatten das Dorf zu einer glatten hellen Putzbude gewaschen und gemalt. Neu und blank hing der Eimer über dem Brunnen unter der Linden-Rotunda des Dorfs war die Erden-Diele sauber gekehrt – überall sah man reine, ganze, schöne Kleider und freudige Augen – und Idoine zeigte unter der fremden Heiterkeit bedeutenden Ernst in den Blicken, womit sie ihr Arkadien Blume nach Blume prüfte.
Sie führte ihre Freundinnen über die verschiednen Sonntags-Tanzplätze[714] der verschiednen Alter, vor dem Hause des Amtmanns vorüber, worin die Ministerin wohnte und jetzt, zu Juliennens Furcht, ihr Sohn war, in die helle schmucklose Kirche. Bald kamen ihr der Pfarrer und Amtmann, für welche das Vorübergehen ein Wink gewesen, in die Kirche nach und holten von ihr Aufträge; beide waren junge schöne Männer mit offner Stirn und ein wenig Jugendstolz. – Als man aus der Kirche war, sagte sie: durch diese jungen Männer regiere sie über den Ort, und sie selber lenke sie sanft; nur junge seien mit Haß und Mut gegen den Schlendrian und mit Enthusiasmus und Glauben ausgerüstet. Sie setzte scherzhaft dazu, nichts beherrsche sie als eine Schule von Mädchen, an der ihr mehr gelegen sei als an der andern, weil Erziehung Angewöhnung sei und diese ein Mädchen mehr als ein Knabe brauche, dem die Welt doch keine lasse; und sie habe einigen Hang, eine la Bonne zu sein, weil sie es schon als Mädchen oft bei ihren Schwestern habe sein müssen.
Sie führte beide darauf in mehrere Häuschen; überall fanden sie ausgeweißte geordnete Zimmer, Blumen und Weinreben an Fenstern, schöne Weiber und Kinder, und bald eine Flöte, bald eine Violine, und nirgends ein spinnendes Kind. In allen hatte sie Aufträge zu geben, und was bloßer Spaziergang schien, war auch Geschäft. Sie zeigte einen scharfen Durchblick durch Menschen und ihr verwachsenes Treiben und einen Geschäftsverstand, der das Allgemeine und Besondere zugleich besaß und verknüpfte: »Ich wünschte freilich auch« (sagte sie) »nur Freuden und Spiele um mich; aber ohne Arbeit und Ernst verdirbt das Beste in der Welt; nicht einmal ein rechtes Spiel ist möglich ohne rechten Ernst.« – Linda lobte sie, daß sie alle an Musik gewöhnte, diesen rechten Mondschein in jedem Lebens-Dunkel; »ohne Poesie und Kunst« (setzte sie dazu) »vermoose und verholze der Geist im irdischen Klima.« – »O was wäre ohne Töne der meinige?« sagte Idoine feurig.
Linda fragte nach dem Bürgerrechte in diesem heitern Staate. »Meistens bekamen es Schweizerfamilien,« (sagte Idoine) »die ich an Ort und Stelle selber kennen lernte auf meiner Reise. Nach den Französinnen stell' ich sogleich meine Schweizer.« – Julienne[715] versetzte: »Sie sagen mir Rätsel vor.« Sie lösete ihr sie, und Linda, die kurz nach ihr in Frankreich gewesen, bestätigte es, daß da unter den Weibern von gewissem höhern Ton, zu denen kein Crebillon je hinaufgekommen, eine in Deutschland ungewöhnliche Ausbildung der zartesten Sittlichkeit, beinahe Heiligkeit gegolten. »Nur« (setzte Linda hinzu) »hatten sie in der Sittlichkeit, wie in der Kunst, Vorurteile des feinen Geschmacks und mehr Zartheit als Genie.«
Sie gingen zum Dorfe hinaus, der schönsten Abendsonne entgegen; auf den Bergen antworteten sich Alphörner, und im Tale gingen heitere Greise zu leichten Geschäften. Diese grüßte Idoine mit besonderer Liebe, weil es, sagte sie, nichts Schöneres gebe als Heiterkeit auf einem alten Gesicht, und unter Landleuten sei sie immer das Zeichen eines wohl und fromm geführten Lebens.
Linda öffnete ihr Herz der goldnen Gegenwart und sagte: »Wie müßte dies alles in einem Gedicht erfreuen! Aber ich weiß nicht, was ich dagegen habe, daß es nun so in der wirklichen Wirklichkeit da ist.«
»Was hat Ihnen« (sagte Idoine scherzend) »diese genommen oder getan? Ich liebe sie; wo sind Sie für uns denn anders zu finden als in der Wirklichkeit?« – »Ich« (sagte Julienne) »denke an etwas ganz anderes: man schämt sich hier, daß man noch so wenig tat bei allem Wollen. Vom Wollen zum Tun ists hier doch weit« (fügte sie dazu, indem sie den kleinen Finger aufs Herz aufsetzte und die Hand vergeblich nach dem Kopf ausspannte) – »Idoine, sagen Sie mir, wie kann man denn ans Große und Kleine zugleich denken?« – »Wenn man ans Größte zuerst denkt« (sagte sie) – »Wenn man in die Sonne hineinsieht, wird der Staub und die Mücke am sichtbarsten. Gott ist ja unser aller Sonne.«
Die Erden-Sonne stand ihnen jetzt tief auf einer unabsehlichen Ebene unter milden Rosen des Himmels entgegen – eine ferne Windmühle schlug breit durch die schöne Purpur-Glutan den Bergabhängen sangen Kinder neben den geweideten Herden, und ihre kleinern Geschwister spielten bewacht – die Abendglocke,[716] welche in Arkadien allzeit unter dem Scheiden der Sonne gezogen wurde, wiegte die Sonne und Erde mit ihren Tönen ein – nicht nur jugendlich, sogar kindlich lag das sanfte Dörfchen und seine Welt um sie her – kein Sturm, dachte man, kann hereingreifen in dies sanfte Land, kein Winter im schweren Eispanzer hereinschreiten, hier ziehen nur, dachte man, Frühlingswinde und Rosenwolken, keine Regen fallen als Frühregen und keine Blätter als der Blüten ihre, nur Staub aus Blumen kann steigen, und den Regenbogen halten nur Vergißmeinnicht und Maiblumen auf ihren blau und weißen Blättchen – die Gegend und alles und das Leben schienen hier nur eine unaufhörliche Morgendämmerung zu sein, so frisch und neu, voll Ahnung und Gegenwart ohne Glut und Glanz, und mit einigen Sternen über dem Morgenrot.
Kinder mit Ähren-Sträußern in der Hand saßen auf fremden Wagen voll Garben und fuhren stolz herein.
Idoine hing mit inniger Liebe, als wär' alles neu durch diesen Abend, an den doppelten Gruppen. »Nur der Landmann allein ist so glücklich,« (sagte sie) »daß er in allen arkadischen Verhältnissen seiner Kindheit fortlebt. Der Greis sieht nichts um sich als Gerätschaften und Arbeiten, die er auch als Kind gesehen und getrieben. Endlich geht er jenen Garten drüben hinauf und schläft aus.« – Sie zeigte auf den Gottesacker am Berge, der ein wahrer Garten mit Blumenbeeten und einer Mauer aus Fruchtbäumen war. Julienne blickte erschüttert hin, sie sah den schwarzen Vorhang zittern, hinter welchen ihr kranker Bruder bald getrieben wurde.
Mit durchsichtigem Abend-Goldstaub war der Garten überweht – der laute Tag war gedämpft und das Leben friedlich, Ölzweige und ihre Blüten sanken aus dem stillen Himmel langsam nieder. – »Dort ist der einzige Ort,« (sagte Idoine) »wo der Mensch mit sich und andern einen ewigen Frieden schließet, sagte so schön zu mir ein französischer Geistlicher.« – »Solchen christkatholischen Jammergedanken« (versetzte Linda) »bin ich so gram wie den Geistlichen selber. Wir können so wenig eine Unsterblichkeit erleben als eine Vernichtung.« – »Ich versteh' das[717] nicht« (sagte Julienne) – »ach Idoine, wenn es nun keine Unsterblichkeit gäbe, was täten Sie?« – »J'aimerois«202, sagte sie leise zu ihr.
Plötzlich wurde vor ihnen wie aus weiter Ferne gesungen: »Freut« – dann spät »euch des« – endlich »Lebens« – »Das ist aus dem Gottesacker das Echo«, sagte Idoine und suchte zur Rückkehr zu bereden. »Echo und Mondschein und Gottesacker zusammen« (fuhr sie scherzend fort) »sind wohl zu stark für Frauenherzen.« – Dabei berührte sie ihr Auge mit einem Wink an Julienne, gleichsam als tu' es ihr weh, daß die Gräfin nur hinter dem Nebel ihrer Augen den schönen Abend von fernen stehen sehe. »Die Singstimme klingt mir so bekannt«, sagte Linda. »Roquairol ists, nichts weiter, wollen wir fort!« sagte Julienne; aber Linda bat zu bleiben, und Idoine willigte höflich ein.
Nun gab das Echo – das Mondlicht des Klangs – wieder Töne wie Totenlieder aus dem Toten-Chor; und es war, als sängen die vereinigten Schatten sie in ihrer stillen Woche unter der Erde nach, als regte sich der Leichenschleier auf der weißen Lippe und aus den letzten Höhlen tönte ein hohles Leben wieder. Das Singen hörte auf, Alphörner fingen auf den Bergen an. Da ging wieder das Nachspiel des Tonspiels feurig herüber, als spielten die Abgeschiednen noch hinter der Brustwehr des Grabhügels und kleideten sich ein in Nachklänge. Alle Menschen tragen Tote oder Sterbende in der Brust; auch die drei Jungfrauen; Töne sind schimmernd zurückflatternde Gewänder der Vergangenheit und erregen damit das Herz zu sehr.
Sie weinten, und keine konnte sagen, ob trübe oder froh. Die bisher so gemäßigte Idoine ergriff Lindas Hand und legte sie sanft an ihr Herz und ließ sie wieder sinken. Sie kehrten schweigend und einig um. Idoine behielt Linda an der Hand. Die unterirdischen Wasser der Toten-Echos und Alphörner rauschten ihnen nach, obwohl ferner. Juliennen entging es nicht, wie sehr Idoine ihr Gesicht, bloß um es ihr mit den großen Tropfen in den großen Augen zu entziehen, immer der dicht verschleierten Linda zuwandte; und sie schloß daraus, daß Idoine vieles wisse und kenne[718] und die Braut des Jünglings ehre, dem sie durch ihre schöne Ähnlichkeit das frohe Leben zurückgegeben.
»Was haben wir nun davon?« (sagte Idoine spät und nahe am Dorfe) »Wir sehens voraus, daß wir zu weich würden, und geben uns doch hin. Darum nennen uns eben die Männer schwach. Sie bereiten sich auf ihre Zukunft durch lauter Abhärtungen vor, und nur wir uns durch lauter Erweichungen.« – – »Was soll man denn machen,« (sagte Julienne) »in Flüsse springen, auf Berge, auf Pferde und so weiter?« – »Nein,« (sagte Idoine) »denn ich seh' es an meinen Bäuerinnen: sie leiden an Nerven bei aller Muskel-Arbeit so gut wie andere – Mit dem Geiste, glaub' ich, müßten wir alle mehr tun und suchen; aber wir lassen immer nur die Finger und Augen sich üben und regen, das Herz selber weiß nichts davon und tut dabei, was es will, es träumt, weint, blutet, hüpft – Ein wenig Philosophieren wär' uns dienlich; aber so geben wir uns allen Gefühlen gebunden dahin, und wenn wir denken, ists bloß, um ihnen noch gar zu helfen.«
Sie kamen ins Dorf zurück, es war voll geschäftigen Abendlärms, Kinder tanzten Idoinen entgegen, von den Höhen klangen Alphörner herein und aus den Häusern Flöten und Lieder heraus. Idoine gab heiter Abendbefehle. »Wie doch« (sagte sie) »die äußere Ruhe so leicht die innere aufhebt! Ein beschäftigtes Herz ist wie ein umgeschwungenes Gefäß mit Wasser: man halt' es still, so fließet es über.«
Julienne hatte schon einigemal, aber vergeblich, nach dem Steuerruder der Zeit und Rede gehascht, um ihren Plan zu vollführen; jetzt, da sie Lindas Schweigen, Rührung und Träumen bemerkte, glaubte sie die lang' erwartete günstige Stunde zu treffen, wo einige Worte, die Idoine über die Ehe ausstreuete, in Linda einen aufgeweichten Boden für ihre Wurzeln finden würden. Durch die leichte Wendung eines Lobs, daß sie Idoinen über ihren mutigen Widerstand gegen das Schiffziehen in einer verhaßten Fürsten-Ehe und über den Gewinn eines ewigen Jugendlebens gab, brachte sie die Gräfin dazu, ihren ketzerischen Haß gegen die Ehe zu offenbaren und zu sagen, daß diese die Blume mit einem scharfen Eisenringe an ihren Stab peinlich gefangen[719] lege – daß Liebe ohne Freiheit und aus Pflicht nichts sei als Heuchelei und Haß – und daß das Handeln nach der sogenannten Moral so viel sei, als wenn einer nach der Logik, die er vor sich hätte, denken oder dichten wollte, und daß die Energie, der Wille, das Herz der Liebe etwas Höheres sei als Moral und Logik.
Jetzt kam ein Briefchen von der Ministerin, worin sie ihre heutige Abwesenheit mit dem zu traurigen Abschiede entschuldigte, den ihr Sohn diesen Abend so sonderbar und wie auf immer von ihr genommen. So viele stille Gedanken auch diese Nachricht in Julienne und Linda nachließ: Idoine kam durch sie nicht aus der lebhaften Bewegung, worein die vorige Rede sie gesetzt, sondern mit einem edlen Zürnen, das aus der schönen Jungfrau einen schönen Jüngling machte und ihr Minervens Helm aufsetzte, erklärte sie der hohen Gegnerin, die weniger durch fremde Heftigkeit als durch fremde Gesinnung aufzureizen war, diesen Krieg: gewiß sei nur ihre Abneigung gegen die »Priester« an der zweiten Abneigung gegen die Ehe schuld sei denn das Eheband etwas anders als ewige Liebe, und halte sich nicht jede rechte für eine ewige? – eine Liebe, die einmal zu sterben glaube, sei schon tot, und die ewig zu leben fürchte, fürchte umsonst – wenn sogar Freunde am Altare verbunden würden, wie irgendwo geschehen soll203, sie würden höchstens sich nur noch heiliger binden und lieben – man zähle ebenso viele, wo nicht mehrere unglückliche Liebeshändel als unglückliche Ehen – man könne zwar eine Mutter, aber nicht ein Vater sein ohne die Ehe, und dieser müsse jene und sich durch die Sitte ehren – »Ich bin eine Deutsche« (beschloß sie) »und achte die alten Ritterfrauen, meine Ahnen, hoch; selig ist eine Frau wie eine Elisabeth und ein Mann wie Götz von Berlichingen in ihrer heiligen Ehe.« – –
Auf einmal fand sie sich selber überrascht von ihrem Feuer und ihrem Strome: »Ich bin ja« (setzte sie lächelnd hinzu) »eine pedantische Predigerswitwe geworden; das macht, ich bin die höchste Obrigkeit von dem Dörfchen und lasse, da fast in jeder[720] Hütte eine glückliche Widerlegung der Ehelosigkeit wohnt, ungern andere Meinungen hier aufkommen.«
»O, Mädchen« (sagte Julienne lustig, weil sie Linda ernst sah) »sprechen immer mitunter ein wenig von Liebe und Ehe; sie ziehen sich gern aus einem Brautkranz Blumen.« –
»Daraus, wissen Sie, könnt' ich mir wohl keine nehmen«, sagte Idoine, auf das eidliche Versprechen anspielend, welches sie ihren über ihre enthusiastische Kühnheit argwöhnischen Eltern geben müssen, nie unter ihrem Fürstenstande zu heiraten, was ihr nach ihrer scharfen Gesinnung und Lage so viel hieß als Ehelosigkeit. »Recht hatten Sie indes,« (verfolgte Julienne und wollte scherzhaft bleiben) »die Liebe ohne Ehe gleicht einem Zugvogel, der sich auf einen Mastbaum setzt, der selber zieht; ich lobe mir einen hübschen grünen Wurzelbaum, der dableibt und ein Nest annimmt.«
Wider ihre Gewohnheit lachte Linda darüber nicht, sondern ging allein, ohne ein Wort zu sagen, in den Garten und Mondschein hinunter.
»Die Gräfin« (sagte Idoine zur Freundin, bekümmert über die Bedeutung des stummen Ernstes) »hat uns, hoff' ich, nicht mißverstanden.« – »Nein,« (sagte Julienne mit freudigen Mienen über den errungnen Eindruck, den die Rede auf Linda gemacht) »sie hat die seltenste Gabe, zu verstehen, und das häufigste Unglück, nicht verstanden zu werden.« – »Das ist immer beisammen«, sagte sie, sann nach, sah Juliennen an, endlich sagte sie: »Ich muß ganz wahr sein, ich wußte der Gräfin Verhältnis durch meine Schwester – Freundin, ist Er ihrer ganz wert?« Eine Frage, deren Quelle die Prinzessin nur in rachsüchtigen Einflößungen der Fürstin suchen konnte.
»Ganz!« antwortete sie stark. »Ihnen glaub' ich gern«, versetzte Idoine, mit den Lauten eilend, aber mit Blicken ruhend. Sie sah die Schwester Albanos immer länger an – die großen blauen Augen schimmerten stärker – Minervens Helm war vom jungfräulichen Haupte abgehoben – das sanfte Angesicht erschien lieblich, ruhig, klar, nicht stärker bewegt, als es ein Gebet vor Gott erlaubt, und so wenig begehrend wie eine Verklärte, und[721] doch immer himmlischer glänzend. – Juliennens schönes Herz stürmte auf, sie sah Liane wieder, als sei sie vom Himmel gekommen, den geliebten Menschen an einem neuen Herzen einzusegnen; – sie sagte mit Tränen: »Du, du hast Ihm einst den Frieden gegeben.« – Idoine wurde überrascht – aus ihren hellen Augen drangen zwei Tränen – mit Nachdruck antwortete sie: »Gegeben« – erschrocken und heftig drückte sie sich an die Freundin – sagte: »Ich liebte Sie schon lange«, und weiter sprachen sie nichts.
Schnell faßte sie sich – erinnerte Julienne an Lindas Nachtblindheit – und bat sie geradezu, ihr als ihre Freundin nachzugehen, ob sie gleich selber gern ihr dieses Verdienst abstehlen würde, wenn sie dürfte. Julienne eilte in den Garten, fühlte es aber nach, daß Idoine ihr Du nicht erwidert hatte. Idoine mied das weibliche Du; ungleich den Orientalerinnen, welche vor Verwandten den Schleier weglassen, nahm sie, wie ihre Französinnen, sogar in die Herzlichkeit die zarten Gesetze der Politesse herüber.
Julienne fand ihre Freundin im Garten in einer dunkeln Laube still, mit tief gesenkten Augen, in Träume eingegraben. Linda fuhr auf: »Sie liebt Ihn!« (sagte sie mit Schmerz und Feuer) »Hör es, Julienne, Sie liebt Ihn!« – Diese konnt' ihr über das Aussprechen einer Wahrheit, mit der sie gerade aus Idoinens Armen gekommen war, nichts als ihr Erschrecken zeigen; aber Linda nahm es für Erstaunen und fuhr fort: »Bei Gott! – Mein Blick hat sie aufgehascht. O sonst war sie weit nicht so lebhaft und ernst und rührbar und weich – Ihre innerste Bewegung bei meinem Erblicken – und ihr Weinen bei Roquairols Stimme, weil sie seiner gleicht – und ihre lange feurige Hochzeitpredigt – Und die Seelenblicke auf mich – o hat sie Ihn denn nicht im großen herrlichen Augenblick gesehen, da der Blühende weinend kniete und das göttliche Haupt gen Himmel hob und die Verklärte und den Frieden herunterrief? – O daß sie es nur wagte, ihm beides vorzuspielen! Und kann sie das vergessen?«
Julienne kam endlich zum Worte »So setz es denn; ist Idoine aber nicht edel und fromm?« – »Ich habe nichts wider sie und nichts für sie« (antwortete Linda) – »Wenn aber Er sie nun sieht,[722] wenn er die Fromme noch einmal der Verstorbnen ähnlich findet, wenn die ganze erste Liebe umkehrt und über die zweite triumphiert? ... Bei Gott! Nein,« (setzte sie stolz und stark dazu) »nein, das duld' ich nicht; bitten will ich nicht, weinen nicht, oder resignieren, um ihn aber kämpfen will ich. – Bin ich nicht auch schön? Ich bin schöner, und mein Geist ist kühner geschaffen für seinen. Was kann sie geben, was ich ihm nicht dreifach biete? Ich wills ihm geben, mein Glück, mein Dasein, auch meine Freiheit, ich kann ihn so gut heiraten wie sie, ich wills.... O sprich, Julienne! Aber du bist eine kalte Deutsche und ihr heimlich zugetan aus gleicher Gottesfurcht. O Gott, Julienne, bin ich denn schön? Beteuer' es mir doch! Bin ich der Verklärten gar nicht ähnlich? Säh' ich nur so aus, wie er es gerade wollte! Warum war ich nicht seine erste Liebe und seine Liane und wäre auch gestorben? – Gute Julienne, warum sprichst du nicht?« »Lasse mich nur sprechen«, sagte diese, wiewohl nicht ganz wahr. Sie war ergriffen und gestraft von Lindas treffender Wahrheit und vom eignen Bewußtsein, daß sie einen Plan, Lindas Vorurteile gegen die Ehe aufzulösen, angelegt, dessen Hülfsmittel ihr von Linda gerade als Rechtfertigungen der Eifersucht vorgezählt worden; und daß sie einen Felsen auf der Spitze eines Felsen in Bewegung und in den Fall gebracht, den sie nun nicht mehr regieren konnte. Auch war sie betäubt, ja erzürnt von einem ihr fremden Ungestüm der Liebe, vor welchem sie den verhaßten Trost gar nicht aussprechen durfte, daß Albano stets nach der Pflicht der Treue handeln würde. – Schön war sie überrascht von der geglückten Bekehrung zum Trauungs-Ja. Mit einiger Ungewißheit des Erfolgs bei Linda, die durch das Mondlicht und die ferne milde Bergmusik nur stürmischer geworden, fuhr sie fort: »Ich wollte dich nicht gern unterbrechen mit dem Lobe deines Entschlusses zur Ehe – Unrecht hast du sonst in allen Stücken. Freilich ist Sie jetzt ernster; aber sie stand am Sterbebette ihres Ebenbildes und sah sich in Lianen erbleichen – das mäßigt sehr. Ihn anlangend: so, hätt' Er dich früher gesehen....«
»Sah er nicht früh das Bild auf dem Lago maggiore, aber unähnlich, wie er sagt?«[723]
»So will ich dirs denn gestehen, Wilde,« (versetzte Julienne) »weil man dich nicht überraschen soll, daß ich ihn gestern gebeten, mit zur Prinzessin zu reisen, und daß er eben aus Rücksicht und Kälte gegen alle Ähnlichkeiten mir es derb abgeschlagen; aber morgen erwartet er uns im Prinzengarten.«
Verändert – weich – mit verklärten Augen sagte Linda mit gesunkner Stimme: »Mein Freund liebt mich so sehr? – Ich lieb' ihn aber auch sehr, den Reinen. Morgen will ich zu ihm sagen: nimm meine Freiheit und bleibe ewig bei mir. Vom Altare ziehen wir davon, meine Julienne, du und er und ich, nach Valencia, nach Isola bella, oder wohin er will, und bleiben beisammen. Du guter Mond und Musik! Wie die Töne und die Strahlen so kindlich miteinander spielen! – Umarme mich, meine Geliebte, vergib, daß Linda unartig gewesen!« – Hier war der Sturm des Herzens in süßes Weinen zergangen. So wird in den Ländern unter der scheitel-rechten Sonne täglich der blaue Himmel Donner, Sturm und schwarzer Regen, und täglich geht die Sonne wieder blau und golden unter.
Julienne versetzte bloß: »Schön! nun wollen wir hinauf!«, weniger als sie zu schnellen Übergängen fähig. Als sie oben die stille, helle, nichts begehrende Idoine wiedersah – die fest und heiter Handelnde – klagenlos und hoffnungslos – nur den Ährenkranz der Taten, nie den blumigen Brautkranz tragend – so viele weiße Blüten zu ihren Füßen, die zu keinem Kranz und Gewinde zusammengehen – ihre helle reine Seele einem hellen reinen Tone gleich, der sei nen Reiz durch nasse wolkige Luft ungetrübt und ungebrochen trägt: so fühlte sie, Idoine sei ihr schwesterlicher verwandt als Linda, jene sei ihr ein Ideal und Sternbild in ihrem Himmel über ihr, diese ein fremdes, das fern und unsichtbar in einer zweiten Halbkugel des Himmels glänzt; aber in ihr wirkte die weibliche Kraft, fortzulieben fast bis in den Haß hinein, stärker als in irgendeiner Frau, und sie blieb der alten Freundin getreu. Idoine gehörte unter die weiblichen Seelen, die dem Monde ähnlich sind: blaß und matt muß er am prächtigen Abendhimmel, den Glanz und brennende Wolken schmücken, stehen und kann auf der Erde keinen einzigen Schatten verdrängen und steigt mit[724] unsichtbaren Strahlen, aber das fremde Licht verbleicht, und seines wächset aus dem Schatten auf, bis zuletzt sein überirdischer Glanz die Erden-Nacht umzieht und in eine zweite Welt umkleidet, und alle Herzen lieben ihn weinend, und die Nachtigallen singen in seinen Strahlen.
Alles war nun bestimmt und geendigt. Linda hielt sich in ihrer Ferne und bloß aus Gesetz der geselligen Artigkeit, das sie niemals übertrat. Idoine zog sich, eine Veränderung erratend, aus der vorigen Nähe sanft zurück. Früh am dunkeln Morgen schieden sie, aber Julienne sagte es ihrer Freundin nicht, daß sie Idoinen, als sie voneinander gingen, sich mit nassen Augen hatte wenden sehen.
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