|
[680] Rosental
In drei Minuten stand der Notar, dem Vults Verstimmung entgangen war, freudig auf dem grünen Wege nach dem Haßlauer Rosentale, das sich vom schönen Leipziger besonders dadurch unterscheidet, daß es sowohl Rosen hat als auch ein Tal und daher[680] mehr der Fantaisie bei Bayreuth ähnlich ist, die bloß die Zuckerbäckerarabesken und Phantasie-Blumen und Prunk-Pfähle vor ihm voraus hat. Aus der Stadt zog er eigentlich kaum, denn er fand die halbe unterwegs; und alle seine Seelen-Winkel wurden voll Sonnenlicht bei dem Gedanken, so mitzugehen unter Leuten, die mitgehen, mitfahren, mitreiten. Rechts und links standen die Wiesen, die wallenden Felder und der Sommer. Aus der Stadt lief das Nachmittags-Geläute der Kirche in die grüne warme Welt heraus, und er dachte sich hinein, wie jetzt die Kirchengänger sich herausdenken und ihn und das freie luftige Leben göttlich finden würden in den schmalen, kalten, steinernen Kirchen auf langen leeren Bänken einzeln schreiend, mit schönen breiten Sonnenstreifen auf den Schenkeln und mit der Hoffnung, nach der Kirche nachzumarschieren so schnell als möglich.
Die Zugherings-Herde von Menschen legte sich in die Bucht des Rosentals an. Die Laubbäume taten sich auf und zeigten ihm die glänzende offne Tafel des Julisonntags, die aus einbeinigen Täfelchen unter Bäumen bestand – »köstlich«, sagte der Notar zu sich, »ist doch wahrlich das allgemeine Sesselholen, Zeltaufschlagen, Rennen grüner Lauferschürzen, Weglegen der Schals und Stöcke, Ausziehen der Körke und Wählen eines Tischchens, die stolzen Federhüte zwischendurch, die Kinder im Grase, die Musikanten hinten, die gewiß gleich anfangen, die warmblühenden Mädchen-Stirnen, die durchschimmernden Gartenrosen unter den weißen Schleiern, die Arbeitsbeutel, die Goldanker und Kreuze und andere Gehenke auf ihren Hälsen und die Pracht und die Hoffnung, und daß noch immer mehr Leute nachströmen – – O ihr lieben Menschen, macht euch nur recht viel Lust, wünsch' ich!« –
Er selber setzte sich an ein einsames Tischchen, um kein geselliges zu stören. Vom Zuckerguß seines stillen Vergnügtseins fest überlegt, saß er daran, sich erfreuend, daß jetzt fast in ganz Europa Sonn- und Lusttag sei, und nichts begehrend als neue Köpfe, weil er jeden zwischen die Augen nahm, um auszufühlen, ob er dem roten Jüngling angehöre, wornach seiner Seele alle ihre Blütenblätter standen.[681]
Ein Geistlicher spazierte vorüber, vor dem er sitzend den Hut abnahm, weil er glaubte, daß Priester, gewohnt, durch ihre Rockfarbe jeden Hut zu bewegen auf dem Lande, jedesmal Schmerzen in der Stadt empfinden müßten, wenn ein ganz fester vorbeiginge. Der Geistliche sah ihn scharf an, fand aber, daß er ihn nicht kenne. Jetzt trabten zwei Reiter heran, von welchen der eine wenig zu leben hatte, der andere aber nichts, Vult und Flitte.
Der Elsasser tanzte reichgekleidet und lustig – obgleich seine te deum laudamus in laus deo bestanden – nach seinem eignen Gesang vom Steigbügel unter seine Bekanntschaften, d.h. sämtliche Anwesende hinein; geliebt von jedem, dem er nichts schuldig war. Er überstand lustig eine kurze Aufmerksamkeit auf sich als den Menschen, der die Kabelsche Erbportion eingebüßet, welche er schon als Faustpfand so oft wie den Reliquienkopf eines Heiligen vervielfacht unter seine Gläubiger verteilt hatte, weil das marseillische Schiff, worauf er eine große, ebensooft verpfändete Dividende hatte, jedem zu lange ausblieb. Walt wunderte und freute sich, daß der singende Tänzer, der alle Weiber grüßte, der kühn ihre Fächer und Sonnenschirme und Armbands-Medaillons handhabte und kühner die Häng-Medaillen und Hänguhren von jeder weißen Brust mit den Fingern ans Auge erhob, sich gerade vor den Tisch der drei häßlichsten postierte, denen er Wasser und Aufwärter holte, sogar schöne Gespielinnen. Es waren die drei Neupeterischen Damen, bei welchen Gottwalt gestern drei Visitenkarten abgegeben. Der Elsasser machte in kurzem umherlaufend das ganze Rosental mit dem dort sitzenden Nanking bekannt, der den alten Kabel beerbte; aber Walt, zu aufmerksam auf andere und zu wenig sich voraussetzend, entging durch sein menschenfreundliches Träumen dem Mißvergnügen, das allgemeine Schielen zu sehen. – Zuletzt trat Flitte gar zu ihm und verriet durch einen Gruß ihn der Kaufmannschaft. Unter allen sieben Erben schien der lustige Bettler gerade am wenigsten erbittert auf Walten zu sein; auch dieser gewann ihn herzlich lieb, da er zuerst den Spielteller der Musikanten nahm, belegte und herumtrug, und gern hätt' er ihm ein[682] großes Stück der Erbportion oder des Testaments zum Lohne mit daraufgeworfen.
Der Notar war besonders auf die feinste Lebensart seines Bruders neugierig. Diese bestand aber darin, daß er sich um nichts bekümmerte, sondern auswärts tat, als sitz' er warm zu Hause und es gebe keine Fremden auf der Welt. Sollt' es nicht einige Verachtung oder Härte anzeigen, dachte Walt, durchaus keine fremde erste Stunde anzuerkennen, sondern nur eine vertraute zweite, zehnte etc.? – Dabei machte Vult das ruhigste Gesicht von der Welt vor jedem schönsten, trat sehr nahe an dieses, klagte, sein Auge komme täglich mehr herunter, und blickte (als Schein-Myops) unbeschreiblich kalt an und weg, als sitze die Physiognomie, verblasen zu einem gestaltlosen Nebel, an einer Bergspitze hängend vor ihm da. Sehr fiel dem Notarius – welcher glaubte, auch gesehen zu haben in Leipzig in Rudolphs Garten, was feinste Sitten und Menschen sind, und mit welchen forcierten Märschen junge männliche Kaufmannschaft weibliche bedient und bezaubert, gleichsam willige cartesianische Teufelchen, die der Damenfinger auf- und niederspringen lässet – sehr fiel ihm Vults männliche Ruhe auf, bis er zuletzt gar seine Definition des Anstands änderte und sich folgende für den »Hoppelpoppel« aus dem weltgewandten Bruder abzog: »Körperlicher Anstand ist kleinste Bewegung; nämlich ein halber Schritt oder schwacher Ausbug statt eines Gemsensprunges – ein mäßiger Bogen des Ellenbogens statt einer ausgereckten spitzen Fechter-Tangente, das ist die Manier, woran ich den Weltmann erprobe.«
Zuletzt wurde der Notar auch keck und voll Welt und Lebensart und stand auf mit dem Vorsatz, wacker hin und her zu spazieren. Er konnte so zuweilen ein Wort seines Bruders von der Seite wegschnappen; und besonders irgendwo den roten Liebling des Morgens auffischen. Die Musik, welche die Dienste des Vogelgesangs tat eben durch Unbedeutsamkeit, schwemmte ihn über manche Klippe hinüber. Aber welche Flora von Honoratioren! Er genoß jetzt das stille Glück, das er oft gewünscht, den Hut abzuziehen vor mehr als einem Bekannten, vor Neupeter et Compagnie, die ihm kaum dankten; und er konnte sich nicht[683] enthalten, manche frohe Vergleichungen seiner jetzigen lachenden Lage im Haßlauer Rosental mit seiner sonstigen anonymen im Leipziger anzustellen, wo ihn außer den wenigen, die er nicht richtig bezahlen konnte, fast keine Katze kannte. Wie oft war er in jener unbekannten Zeit versucht, öffentlich auf einem Beine zu tanzen, oder auch mit zwei zinnernen Kaffeekannen in der Hand, oder geradezu eine Flammen-Rede über Himmel und Erde zu halten, um nur Seelen-Bekannte sich ans Herz zu holen! So sehr setzt der Mensch – der älter kaum bedeutenden Menschen und Büchern zuläuft – jünger schon bloß neuen Leuten und Werken feurig nach.
Mit Freuden bemerkt' er im Gehen, wie Vult in seine Ruhe und Würde so viel insinuante Verbindlichkeit, und in sein Gespräch so viele selber an Ort und Stelle geerntete Kenntnisse von Europens Bilderkabinetten, Künstlern, berühmten Leuten und öffentlichen Plätzen zu legen wußte, daß er wirklich bezauberte; worin ihn freilich seine Verbindung mit seinen schwarzen Augen (darin bestand besonders seine schwarze Kunst bei Weibern) und wieder die Kälte, welche imponiert (Wasser gefriert sich immer erhoben), sichtbar unterstützte. Eine alte Hofdame des regierenden Häuschens von Haßlau wollte schwer von ihm weg; und bedeutende Herren befragten ihn. – Aber er hatte den Fehler, nichts so sehr zu lieben – das Bezaubern ausgenommen – als Entzaubern darauf, und besonders die Sucht, Weiber, wie ein elektrisierter Körper leichte Sachen, anzuziehen, um sie abzustoßen. Walt mußte über Vults Einfälle über Weiber bei Weibern selber erstaunen; denn er konnte im Vorübergehen recht gut vernehmen, daß Vult sagte: sie kehrten stets im Leben und sonst, wie an ihren Fächern, gerade die reichste bemalte Fläche andern zu und behielten die leere – und mehr dergleichen, als z.B.: sie machten, wie man die Coeurs auf Karten zu Gesichtern mit malerischer Spielerei umgewandelt, wieder leicht aus ihrem und einem fremden Gesicht ein Coeur – oder auch: die rechte poetische, aber spitzbübische Art der Männer, sie zu interessieren, sei, ihnen immer die geistige Vergangenheit, ihre Lieblingin, vortönen zu lassen, als z.B. welche Träume vergangen, und wie sich[684] sonst das Herz gesehnt usw.; das sei die kleine Sourdine, die man in die Weite des Waldhorns stecke, dessen nahes Blasen dann wie fernes Echo klinge.
»Sie pfeifen auf der Flöte?« sagte die Hofagentin Neupeter. Er zog die Ansätze und Mittelstücke aus der Tasche und wies alles vor. Ihre beiden häßlichen Töchter und fremde schöne baten um einige Stücke und Griffe. Er steckte aber die Ansätze kalt ein und verwies bittend auf sein Konzert. »Sie geben wohl Stunden?« fragte die Agentin. »Nur schriftliche«, versetzt' er, »da ich bald da, bald dort bin. Denn längst ließ ich in den Reichs-Anzeiger folgendes setzen:
›Endes Unterschriebener kündigt an, daß er in portofreien Briefen – die ausgenommen, die er selber schreibt – allen, die sich darin an ihn wenden, Unterricht auf der herrlichen Flûte traversière (sie hier zu loben, ist wohl unnötig) zu geben verspricht. Wie die Finger zu setzen, die Löcher zu greifen, die Noten zu lesen, die Töne zu halten, will er brieflich posttäglich mitteilen. Fehler, die man ihm schreibt, wird er im nächsten Briefe verbessern.‹
Unten stand mein Name. Gleicherweise kegle ich auch in Briefen mit einem sehr eingezognen Bischof (ich wollt', ich könnt' ihn nennen); wir schreiben uns, redlicher vielleicht als Forstbeamte, wieviel Holz jeder gemacht; der andere stellt und legte seine Kegel genau nach dem Briefe und schiebt dann seinerseits.«
Die Haßlauer mußten lachen, ob sie gleich ihm glaubten; aber die Agentin strich sich mit innerer Hand so rot als einen Postwagen, dessen Stöße Hr. Peter Neupeter am besten kannte, an und fragte die Töchter nach Tee. Das Kirwanentee-Kästchen war vergessen. Flitte war froh, sagte, er sitze auf nach dem Kästchen, hoffe es in fünf Minuten aus der Stadt herzureiten, und sollte sein Gaul fallen – d.h. der geborgte, denn sein Zutritt in allen Häusern war auch einer in allen Ställen – und er denke sogar noch dem Hrn. van der Harnisch eine bewährte Starbrille mitzubringen. Vult behandelte, glaubte Walt, das Anerbieten und das Männchen etwas zu stolz.[685]
Wirklich kam Flitte nach 7 Minuten zurückgesprengt, ohne Starbrille – denn er hatte sie nur versprochen – aber mit dem Neupeterischen Tee-Kästchen von Mahagoni, dessen Deckel einen Spiegel mit der Tee-Doublette aufschlug.
Plötzlich fuhr Vult, als aus dem sogenannten Poetengange des Rosentals eine reiche rote Uniform mit rundem Hut heraustrat, auf den spazierenden Notarius los – tat kurzsichtig, als glaub' er ihn zu kennen – fragte ihn unter vielen Komplimenten leise, ob jener rote Bediente des Grafen von Klothar der bewußte sei – entschuldigte sich nach dem Kopfschütteln des bestürzten Notars laut mit seinem Kurzblicke, der jetzt Bekannte und Unbekannte durcheinanderwerfe, und setzte hinzu: »Verzeihen Sie einem Halbblinden, ich hielt Sie für den Herrn Waldherrn Pamsen aus Hamburg, meinen Intimen« – und ließ ihn im Bewußtsein einer Verlegenheit, deren Quelle der redliche Notar nicht in seiner Wahrhaftigkeit suchte, sondern in seinem Mangel an Reisen, die immer das Hölzerne aus den Menschen wegnehmen, wie die Versetzungen das Holzige aus den Kohlrüben.
Jetzt trat nach dem dienerischen Abendrote der Aurora, hinter welcher der Notar seine Lebens-Sonne finden wollte, wirklich der Reiter des Morgens im blauen Überrock, aber mit Federbusch und Ordensstern aus dem dichten Laubholze heraus samt Gesprächen mit einem fremden Herrn. Der Flötenspieler brauchte bloß auf einen brennenden Blick des Notars seinen kalten zu werfen, um fest zu wissen, daß der Morgen-Mann dem Feuerherzen des Bruders wieder erschiene, den er nur aus Ironie mit der Verwechslung des roten Bedienten mit dem blauen Herrn geneckt. Walt ging ihm entgegen; in der Nähe erschien diesem der Musengott seiner Gefühle noch länger, blühender, edler. Unwillkürlich nahm er den Hut ab; der vornehme Jüngling dankte stumm fragend und setzte sich ans erste beste Tischchen, ohne durch den sprungfertigen Rot-Rock etwas zu fodern. Der Notar ging auf und ab, um, wie er hoffte, vielleicht unter das Füllhorn der Reden zu kommen, das der schöne Jüngling über den Begleiter goß. »Wenn auch.... (fing der Jüngling an, und der Wind wehte das Hauptwort Bücher weg) nicht gut oder[686] schlecht machen, besser oder schlechter machen sie doch.« Wie rührend und nur aus dem Innersten in das Innerste dringend klang ihm diese Stimme' welche des schönen wehmütigen Flors um das Angesicht würdig war! – Darauf versetzte der andere Herr: »Die Dichtkunst führt ihre Inhaber zu keinem bestimmten menschlichen Charakter; wie Kunstpferde machen sie Küssen und Totstellen und Komplimentieren und andere fremde Künste nach; sind aber nicht die dauerhaftesten Pferde zum Marsch.« – Das Gespräch war offenbar im Poetengange aufgewachsen.
»Ich bin gar nicht in Abrede«, versetzte der blaue Jüngling ruhig ohne alle Gestus, und Gottwalt ging immer schneller und öfter vorüber, um ihn zu hören, »sondern vielmehr in der Meinung, daß jede, auch willkürliche Wissenschaft, dergleichen Theologie, Jurisprudenz, Wappenkunde und andere sind, eine ganz neue, aber feste Seite an den Menschen oder der Menschheit nicht nur zeige, auch wirklich hervorbringe. Aber desto besser! Der Staat macht den Menschen nur einseitig und folglich einförmig. Der Dichter sollte also, wenn er könnte, alle Wissenschaften d.h. alle Einseitigkeiten in sich senden; alle sind dann Vielseitigkeit; denn er allein ist ja der einzige im Staat, der die Einseitigkeiten unter einen Gesichtspunkt zu fassen Ruf und Kräfte hat und sie höher verknüpfen und durch loses Schweben alles überblicken kann.«
»Ganz evident«, sagte der Fremde, »ist mir das nicht.« – »Ich will ein Beispiel geben«, versetzte der Graf Klothar. »Im ganzen mineralogischen, atomistischen oder toten Reiche der Kristallisation herrschet nur die gerade Linie, der scharfe Winkel, das Eck; hingegen im dynamischen Reiche von den Pflanzen bis zu den Menschen regiert der Zirkel, die Kugel, die Walze, die Schönheitswelle! Der Staat, Sir, und die positive Wissenschaft wollen nur, daß sein Arsenik, seine Salze, sein Demant, sein Uranmetall in platten Tafeln, Prismen, langrautigen Parallelepipedis usw. anschießen, um leichter eingemauert zu werden. Hingegen die organisierende Kraft, eben darum die isolierende, will das nicht, das ganze Wesen will kein Stück sein; es lebt von sich und von der ganzen Welt. So ist die Kunst; sie sucht die beweglichste[687] und vollste Form und ist, wie sonst Gott, nur wie ein Zirkel oder ein Augapfel abzubilden.«
Aber der Notar zwang ihn aufzuhören. – Er hatte sich darüber Skrupel gemacht, daß er so im Auf- und Abschleichen die obwohl lauten Meinungen des edeln Jünglings heimlich weghorche; daher lehnt' er sich aus Gewissen an einen Baum und sah unter dem Hören dem Blaurock deutlich ins Gesicht, um ihn anzuzeigen, daß er aufpasse. Aber den Jüngling verdroß es und er verließ den Tisch.
Herzlich wünschte der nachgehende Notar den Flötenisten herbei, um durch ihn mehr hinter den Donnergott zu kommen. Zum Glücke teilte und durchschritt der Graf einen bunten Menschen-Klumpen, der sich um ein Kunstwerk ansetzte. Es war ein knabenhohes und – langes Kauffahrteischiff, womit ein armer Kerl auf der Achse zu Lande ging, um mit diesem Weberschiffchen die Fäden seines hungrigen Lebens zu durchschießen und zusammenzuhalten. Als der Notar sah, daß der Jüngling sich ans Fahrzeug und Notruder des Menschen stellte, drang er ihm nach, um dicht neben ihm zu halten. Der Schiffspatron sang sein altes Lied von den Schiffsteilen, den Masten, Stengen, Reen, Sege'n »und Touw-Werk« ab. »Das muß ihm hundslangweilig werden, es täglich wiederholen«, sagte der Herr zum Grafen.
»Es folgen sich«, versetzte dieser mit einigem Lehrtone, »in jeder Sache, die man täglich treibt, drei Perioden: in der ersten ist sie neu, in der nächsten alt und langweilig, in der dritten keines von beiden, sondern gewohnt.«
Hier kam Vult. Der Notar gab ihm durch Winke die entbehrliche Nachricht des Funds. »Aber, Patron«, sagte der Graf zum Schiffsherrn, »die Brassen der Fock-Ree müssen ja mitten von dem großen Stag an nach den Schinkel-Blocken laufen, dann sieben oder sechs Fuß tiefer nach dem großen Stag durch die Blocke und so weiter nach dem Verdeck. Und wo habt Ihr denn den Vor-Teckel, die Schoten des Vor-Mars-Segels, die Gy-Touwen des Bezaans-Segels und das Fall von dem Seyn?« – Hier ließ der Graf verachtend den Schiffer, der seinen Mangel durch Bewunderung fremder Kenntnis verkleistern wollte, in einer[688] zweiten aufrichtigern über eine Geld-Fracht stehen, dergleichen ihm sein Proviantschiff und Brotwagen noch nie aus den beiden Indien des Adels- und des Bürgerstandes zugefahren.
Walt – auch in einem süßen Erstaunen über die nautischen Einsichten bei so viel philosophischen – ließ den blauen stolzen Jüngling schwer durchpassieren und sich von ihm statt an die Brust doch recht an die Seite so lange drücken, daß der Blaurock ziemlich ernsthaft ihn ansah. Vult war verschwunden. Der Jüngling flog bald mit seinem Bedienten auf schönen Pferden davon. Aber der Notarius blieb als ein Seliger in diesem Josaphats-Tal zurück, ein geheimer stiller Bacchant des Herzens. »Das ist ja gerade der Mensch«, sagt' er heftig, »den du feurig wolltest, so jung, so blühend, so edel, so stolz – höchstwahrscheinlich ein Engländer, weil er Philosophie und Schiffsbau und Poesie wie drei Kronen trägt. Lieber Jüngling, wie kannst du nicht geliebt werden, wenn du es verstattest!«
Jetzt verschüttete die Abendsonne unter ihre Rosen das Tal. Die Musikanten schwiegen, von dem Spielteller das Silber speisend, der umgelaufen war. Die Menschen zogen nach Hause. Der Notarius ging noch eilig um vier leere Tische, woran holde Mädchen gesessen, bloß um die Freude einer solchen Tischnachbarschaft mitzunehmen. Er wurde nun im langsamen Strome ein Tropfen, aber ein rosenroter heller, der ein Abendrot und eine Sonne auffaßte und trug. »Bald«, sagt' er sich, als er die drei Stadttürme sah, an welchen das Abendgold herunterschmolz, »erfahr' ich von meinem Vult, wer er ist und wo – und dann wird mir ihn Gott wohl schenken.« Wie liebt' er alle Jünglinge auf dem Wege, bloß des blauen wegen! »Warum liebt man«, sagt' er zu sich, »nur Kinder, nicht Jünglinge, gleichsam als wären diese nicht ebenso unschuldig?« – Ungemein gefiel ihm der Sonntag, worin jeder sich schon durch den Anzug poetisch fühlte. Die erhitzten Herren trugen Hüte in Händen und sprachen laut. Die Hunde liefen lustig und ohne scharfe Befehle. Ein Postzug Kinder hatte sich vor eine volle Kinderkutsche gespannt, und Pferde und Passagiere waren sehr gut angezogen. Ein Soldat mit dem Gewehr auf der Achsel führte sein Söhnchen nach Hause. Einer[689] führte seinen Hund an seinem rotseidnen Halstuch. Viele Menschen gingen Hand in Hand, und Walt begriff nicht, wie manche Fußgänger solche Finger-Paare und Liebes-Ketten trennen konnten, um nur gerade zu gehen; denn er ging gern herum. Sehr erfreuet' es ihn, daß sogar gemeine Mägde etwas vom Jahrhundert hatten und ihre Schürzen so weit und griechisch in die Höhe banden, daß ein geringer Unterschied zwischen ihnen und den vornehmsten Herrschaften verblieb. Nahe um die Stadt unter dem ersten Tore rasete die Schuljugend, ja ein gedachtes Mädchen gab der herrischen Schildwache einen Blumenstrauß keck neben das Gewehr – und so schien dem Notar die ganze Welt so tief in die Abendröte geworfen, daß die Rosenwolken herrlich wie Blumen und Wogen in die Welt hineinschlugen.[690]
Ausgewählte Ausgaben von
Flegeljahre
|
Buchempfehlung
Zwei späte Novellen der Autorin, die feststellte: »Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro