An die Frau Doktorin M.

[68] Frau, der das Leben niemals bitter

Bey irgend einem Zufall ist:

Die Du die Zärtlichste der Mütter

Und der Gattinnen wärmste bist;


Und in Entzückung aller Sinnen

Umarmest den geliebten Mann,

Und sprichst: Ihr Lebensspinnerinnen,

Fangt seinen Faden täglich an –


O Freundin! hilf mir deine Freuden

Vertheidigen in einer Welt,

Wo man nicht glaubt, daß zum Beneiden

Dein Glücke Glanz genug enthält.


Mein Freund, ein Schüler von Apollen,

Ein Meister in der Homelie,1

Glaubt, daß die Tauben küssen wollen

Aus Zärtlichkeit und Harmonie.
[68]

Nur warme Busen ältrer Ehen,

Als die der Hochzeitmonath sieht,

Die setzt er in das Reich der Feen

In ein Ovidianisch Lied.


Und in die nie vorhandnen Staaten

Des Plato, der im hohen Styl

Den Jünglingen weis anzurathen

Ein leeres geistiges Gefühl.


Sey Richterin, und überführe

Den Freygeist, der die Liebe lobt,

Und dennoch stoisch wieder ihre

Glückseeligkeit mit Läugnen tobt.


Dein Freund, Dein Liebling, Dein Getreuer,

Lad' ihn auf einen Abendschmaus;

Dann athme Du der Ehe Feuer

In hundert sanften Küssen aus,


Und sprich: Neun Lenze sind vorüber,

Und meine Flamme ward nicht matt,

Und meinem Gatten ward ich lieber,

Seitdem er mich besessen hat.
[69]

Fußnoten

1 Herr Professor E*b*d.


Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 68-70.
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