Tokaier

[226] Reminiszenz an Lenau


Als die Wetterwolken schlossen

Dicht den Himmelssaal,

Kam noch zwischendurch geschossen

Hell ein Sonnenstrahl.


Der versank in eine Traube

Und erlosch zuletzt;

Diese aber glüht, ich glaube,

Mir im Glase jetzt.


Denn ein leises, schrilles Klingen

Zirkelt um den Rand,

Tönt, als wenn der Becher springen

Wollte in der Hand.
[226]

Gieße dich, du Becherklage,

Tief in meinen Mund:

Das Geheimnis komm zu Tage

Auf dem leeren Grund!


Schwarz seh ich die Gründe gähnen,

Wo erlosch der Strahl,

Der sich durch Gewittertränen

Aus der Sonne stahl.


Eine ungeheure Leere

Tut sich greulich kund,

Wie im abgelaufnen Meere

Wimmelt's auf dem Grund.


Und, ein schwarzer Wirbel, drehet

Es sich niederwärts,

Bis in ew'ger Nacht vergehet,

Scheidet Lust und Schmerz.


Schenke, Wirt! o laß es brausen!

Gieß den Becher voll,

Wenn mein Herz ob innerm Grausen

Nicht verzagen soll!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 226-227.
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