Trochäen

[292] Wohl, ich saß im hohen Eschenbaume,

In der grünen Krone still verborgen,

Unterm Baume lag ein schönes Fräulein

Auf dem sonnbeglänzten Sand im Bade.

Auf dem Rücken lag sie unbeweglich,

Mit dem Köpfchen auf dem warmen Ufer,

Ihre Arme reglos drum geschlungen;

Doch die zarten Füße, sie verschwanden

In dem blauen Purpur des Gewässers.

Aber sichtbar wurde schon das Leuchten

Ihrer Kniee aus der klaren Feuchte,

Und wie Glas auf ihrem weißen Schoße

Unablässig floß die Welle weiter,

Und die Silberfischchen schwammen ruhig

Über ihre Hüften hin, erblinkend,

Wenn sie lässig ihre Flossen regten.


Auf des Stromes hellbeglänzte Breite

Sah die Schöne mit halboffnen Augen.

Kahl und einsam lag das andre Ufer,

Nicht ein menschlich Wesen zu erspähen.


Doch auf einmal kam ein Schiff gefahren

Mitten auf des Stromes heitrem Glanze;

Und ich sah das Schiff und sah die Schöne.

Sachte, sachte schloß sie ihre Augen,

Nicht sich regend, bis das Schiff vorüber.

Und die Schiffer fuhren in die Ferne,

Nur nach ihrem Ziel den Sinn gewendet. –


Triumphierend lächelte die Holde;

Denn das Äußerste zu wagen und ihm[293]

Zu entgehen lieben stets die Frauen.

Doch sie ahnte nicht, daß ihr zu Häupten

Sie belauscht' ein arger Müßiggänger,

Den die Laune auf den Baum getrieben.

Und ich mußte mich zusammenfassen,

Nicht wie reife Frucht vom Baum zu fallen,

Während ich in meinem Sinn erwägte,

Was zum Heil der Schönen zu beginnen?

Schweigen, dacht ich, ist das Heil für alle;

Wenn ich schweig von dem, was ich gesehen,

Ist mir wohl und ihr nicht weh geschehen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 292-294.
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