Winterspiel

[60] Verschlossen und dunkel ist um und um

Mein winterlich Herze zu schauen,

Doch innen, da ist es leuchtend und hell

Und dehnen sich grünende Auen.


Da stell ich den Frühling im kleinen auf

Mit Rosengärten und Bronnen

Und spann ich ein zierliches Himmelsgezelt

Mit Regenbögen und Sonnen.


Da entzünd ich Morgen- und Abendrot

Und lasse die Nachtigall schlagen,

Schlank gehende, blühende Jungfräulein

Meergrüne Gewänder tragen.


Dann ändr' ich die Szene, dann laß ich mit Macht

Den gewaltigen Sommer erglühen,

Die Schnitter auf goldenen Garben ruhn,

Blutrot das Mohnfeld blühen.


Dann plötzlich erhell ich mit Wetterschein

Mein Herz und füll es mit Stürmen,

Laß Schiffe und Männer zu Grunde gehn,

Dann »Feuer« auf Bergen und Türmen!


Hei! Revolution und Mordgeschrei

Mit Galgen und Guillotinen!

Geköpfte Könige, wahnsinnig Volk,

Konvente und Höllenmaschinen!
[61]

Nun ist mein Busen der Grèveplatz

Voll Pöbels und blutiger Leichen;

Ich sehe mich selber im dicksten Gewühl

Entsetzt und todblaß schleichen.


Es wird mir so bang, kaum find ich die Kraft,

Den Greuel noch wegzuhauchen:

Braun dämmert ein Moor, ich liege tot,

Wo verlassene Trümmer rauchen.


Wie alles so stumm und erstorben ist,

So trag ich mich schweigend zu Grabe

Und pflanz ein schwarzes Kreuz darauf,

Das ich selber gezimmert habe.


Ich schreibe darauf: Hier ist ins Gras

Ein spielender Träumer gekrochen.

Wohl ihm und uns: wär die Welt von Glas,

Er hätte sie lange zerbrochen!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 60-62.
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