Die Gräber

[166] Zwei Gräber waren auf der Heide,

Von Immortellen ganz bedeckt.

Ein schönes Weib mit schwerem Leide

Lag auf dem einen hingestreckt;

Das andre hielt mit bittern Tränen

Ein trauervoller Mann bewacht,[166]

Und beide sahn mit Liebessehnen

Hinauf zur hellen Frühlingsnacht.


»In jenen heil'gen Ätherfernen

Harrt nun die liebste Seele mein,

Bald werd ich unter goldnen Sternen

Auf ewig, ewig bei ihm sein!

Als einen Hauch und Seufzer zähle

Ich noch die kurze Spanne Zeit;

Dann aber sind so Lieb wie Seele

Ganz der Unendlichkeit geweiht!« –


»O kreiset rascher, träge Sonnen,

Und löset dieses Leibes Bann,

Daß ich befreit in neuen Wonnen

Mein selig Liebchen finden kann!

Heil mir! Ich will sie wiedersehen!

Und ob auch Stern um Stern zerbricht,

In Ewigkeit wird nie vergehen

Zwei treuer Seelen Bund und Licht!«


So riefen Weib und Mann, so beide,

Ganz in den eignen Gram gebannt;

Sie sahn sich nicht auf dunkler Heide,

Die Blicke himmelwärts gewandt.

So trauerten sie, bis der Morgen

Erröten hieß der Wolken Schar,

Im Ätherblau das Gold verborgen

Und lichter Tag auf Erden war.


Da rafften sie sich auf und gingen

Entlang das schimmernde Gefild,

Bis plötzlich ihre Augen hingen

Eins an des andern schönem Bild.[167]

Und eh der junge Tag, der warme,

Die letzten Tränen weggeküßt,

Schon fielen lächelnd in die Arme

Sich beide, Leid in Lust gebüßt.


Der Enkel Trupp mit festen Händen

Auf selber Heid im Sonnenschein

Sieht pflügen man und singend wenden

Ein längst verschollenes Gebein.

Sie decken rasch, was sie gefunden,

Mit jungen Saaten, im Gemüt

Leis ahnend, daß die eignen Stunden

Aus diesem Tode nur erblüht!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 166-168.
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