Wochenpredigt

[168] In heißem Glanz liegt die Natur,

Die Ernte lagert auf der Flur;

In langen Reihn die Sichel blinkt,

Mit leisem Geräusch die Ähre sinkt.


Doch hinter jenen grünen Matten,

In seines Kirchleins kühlem Schatten

Geborgen vor dem Stich der Sonne,

Da steht das Pfäfflein der Gemeine,

Auf diesem, dann auf jenem Beine,

In seiner alten Predigertonne

Hoch an dem Pfeiler grau und fest,

Dem Kranich gleich in seinem Nest.


Schwarz glänzt das kurzgeschorne Haar,

Wie Röslein blüht das Wangenpaar;[168]

Nur etwas schläfrig blinzen nieder

Die Äuglein durch die fetten Lider,

Weil er sich seiner Wochenpredigt

Mit ziemlich saurer Müh entledigt.

So spricht er von dem ewigen Leben,

Das nach dem Tod es werde geben:

Wie man auch da noch müsse ringen

Und immer weiter vorwärtsdringen,

Und nie von Handel und Wandel frei,

Bis man zuletzt vollkommen sei;

Von einem Stern zum andern hupfen

Und endlich in den Urquell schlupfen.


Doch unten in des Kirchleins Tiefen

Die Hörer auf den Bänken schliefen.

Sie waren alle hoch an Jahren,

Mit weißen oder gar keinen Haaren,

Ganz klingeldürre Fraun und Greise,

Gebeugt von ihrer langen Reise;

So lehnten sie an ihren Krücken

Mit lebensmüdem sanftem Nicken.

Sie hatten gelebt und hatten gestritten,

Erde gegraben und Garben geschnitten,

Bürden getragen und Freuden gehabt

Und, wenn sie gedürstet, sich gelabt.

Sie hatten nicht ihr Leben verfehlt,

Kein Genie und keine Tugend verhehlt,

Auch keine Schwänke unterlassen;

Wen s' konnten bei der Nase fassen,

Den haben sie gar fest ergriffen

Und ihn mit Freuden ausgepfiffen,

Nicht immer bezahlt, was sie geborgt,

Und fleißig doch für Erben gesorgt.
[169]

Die Predigt schweigt, sie sind erwacht,

Die Kirchentür wird aufgemacht,

Und leuchtend bricht der grüne Schein

Der Bäume in die Dämmrung ein.

Die Alten stehen mühsam auf

Und setzen sich gemach in Lauf

Und schleichen seltsam kreuz und quer

Zwischen den Gräbern hin und her.

Sie setzen sich auf die Leichensteine

Und reiben ihre kranken Beine,

Sie hüsteln, spucken aus und lachen

Und sprechen bewußtlos kindische Sachen.

Sie schauen in die goldnen Auen,

Wo ihre Enkel und Sohnesfrauen

Im fernen Sonnenglanze gehen,

Die reifen Früchte rüstig mähen;

Sie sehen in all den hellen Schein

Mit blöden Augen stumm hinein.

Schon ist verklungen leis und weit

Das Lied von der Unsterblichkeit.

Und wie vor langen achtzig Jahren

Die Flämmlein im Entstehen waren

Und mählich aus der tiefen Nacht

Sich in ein helles Licht entfacht,

Das freilich auch sich ewig schien,

So glimmen sie jetzt wieder hin

Und denken Beßres nicht zu tun,

Als ewig, ewig auszuruhn.

Von Durst nach neuem Kommerzieren,

Wenn recht ihr schaut, ist nichts zu spüren.


Das Pfäfflein ist nach Haus gekommen,

Hat einen Schluck zu sich genommen[170]

Und wandelt jetzt im schmucken Garten,

Den kühlen Abend zu erwarten,

Wo er sich freut auf ein Gelage,

Zu dem er freundlich ist gebeten;

Doch steht die Sonn noch hoch am Tage.

Des ist er nun in großen Nöten;

Er weiß, die besten Bachforellen

Werden auf blumiger Schüssel schwellen,

Ausländische Wurst und köstlicher Schinken

Reizen ihn zu frohem Trinken;

Er kennt die staubigen Flaschen zu gut

In Herrn Confratris frommer Hut,

Die schön geschliffnen Gläser dringen

Schon in sein Ohr mit feinem Klingen;

Er kennt das Tischlein hinter der Türen,

Von wo die Flaschen hermarschieren,

Bis er eine mit silbernem Hals entdeckt,

Die vor dem Abschied doppelt schmeckt.


Und doch drei lange, lange Stunden! –

Hier hat er Ranken angebunden,

Ein nagendes Räupchen abgelesen,

Dort aufgehoben einen Besen

Und an das Gartenhaus gelehnt,

Dann einen Augenblick gewähnt,

Er wolle auf den Sonntagmorgen

Noch schnell für eine Predigt sorgen;

Doch ist er hievon abgegangen,

Hat einen Schmetterling gefangen,

Wirft einen Socken über den Hag,

Der mitten in einem Beete lag.

Die Sonne steht noch hoch am Tag.

Er wird der langen Weil zum Raube

Und sinkt in eine kühle Laube,[171]

Macht dort ein Ende seiner Pein,

Schläft zwischen Rosen und Nelken ein.


O Pfäfflein, liebes Pfäfflein, sag:

Ist dir zu lang der eine Tag,

Was willst du mit all den Siebensachen,

Den Millionen Sternen und Jahren machen?


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 168-172.
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