An das Herz

[316] Willst du nicht dich schließen,

Herz, du offnes Haus!

Worin Freund' und Feinde

Gehen ein und aus?


Schau, wie sie verletzen

Dir das Hausrecht stets!

Fühllos auf und nieder,

Polternd, lärmend geht's.
[316]

Keiner putzt die Schuhe,

Keiner sieht sich um,

Staubig brechen alle

Dir ins Heiligtum;


Trinken aus den goldnen

Kelchen des Altars,

Schänden Müh und Segen

Dir des ganzen Jahrs;


Werfen die Penaten

Wild vom Herde dir,

Pflanzen drauf mit Prahlen

Ihr entfärbt Panier.


Und wenn zu verwüsten

Nichts sie finden mehr,

Lassen sie im Scheiden

Dich, mein Herz, so leer!


Nein! und wenn nun alles

Still und tot in dir,

Oh, noch halt dich offen,

Offen für und für!


Laß die Sonne scheinen

Heiß in dich herein,

Stürme dich durchfahren

Und den Wetterschein!


Wenn durch deine Kammern

So die Windsbraut zieht,

Laß dein Glöcklein stürmen,

Schallen Lied um Lied!
[317]

Denn noch kann's geschehen,

Daß auf irrer Flucht

Eine treue Seele

Bei dir Obdach sucht!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 316-318.
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