[541] »Ihr Herr Brandolf ist ja ein Ausbund von einem edlen und wohlmögenden Frauenwähler!« sagte Lucie, als Reinhart die verarmte Baronin in seiner Erzählung zu Glück und Ehren gebracht hatte; »aber sind Sie auch sicher, daß dieser Erkieser seines Weibes nicht ein wenig das Spiel des Zufalls war oder am Ende selbst eher gewählt wurde, während er zu wählen glaubte?«
»Wieso?« fragte Reinhart.
»Ich meine nur!« erwiderte Lucie; »haben Sie auch alle Umstände ordentlich aufgefaßt und wiedergegeben und nichts übersehen, was auf eine bescheidene Einwirkung, ein kleines Verfahren der guten Frau von Lohausen hindeuten ließe?«
»Kennen Sie die Leute, oder haben Sie sonst schon von der Geschichte gehört?«
»Ich? Nicht im mindesten! Ich höre heute zum ersten Male davon reden!«
»Nun, wenn Sie also keine andere Quelle kennen, so müssen Sie sich schon an meine Redaktion halten, die ich nach bestem Wissen und Gewissen besorgt habe. Ich beteuere, daß auch nicht die leiseste Spur von Koketterie und Schlauheit soll zwischen den Zeilen zu lesen sein, und ich bitte Sie, hochzuverehrendes Fräulein, nichts hineinlegen zu wollen, was heineinzulegen ich nicht die Absicht hatte!«
»Und ich bitte den hochzuverehrenden Herrn tausendmal um Verzeihung, wenn meine Vermutung beleidigend war, daß[542] der armen Frau Hedwig noch ein Rest von eigenem Willen hätte vergönnt sein können im Punkte des Heiratens!«
»Ei, mein ungnädiges Fräulein, warum denn so gereizt? Ich wehre mich ja lediglich für eine Frauengestalt, die durch ihre Hilflosigkeit nur gewinnt und dem Geschlechte zur Zierde gereicht!«
»Ei, natürlich, ja! So versteh' ich es ja auch!« sagte Lucie mit fröhlichem Lachen, welches ihre Locken anmutig bewegte; »ein sanftes Wollschäfchen mehr auf dem Markte! Diesmal handelt es sich noch um die Nutzbarkeit einer guten Wirtschafterin, und wir müssen gestehen, Sie haben das Thema fast wie ein Kinder- und Hausmärchen herausgestrichen!«
»Aber, liebe Lux«, rief jetzt der Oberst, »sei doch nicht so zänkisch! Du hast ja, Gott sei Dank, nicht nötig, dich über diese Dinge zu ereifern, wenn du doch unverheiratet bleiben und mein Alter verschönern willst! In dieser Hoffnung will ich dir übrigens jetzt etwas Hilfe bringen! Mit unserer Wahlfreiheit und -herrlichkeit, bester Freund, ist es nämlich nicht gar so weit her, und wir dürfen nicht zu sehr darauf pochen! Wenigstens hab' ich die Ehre, Ihnen in mir einen alten Junggesellen vorzustellen, der vor langen Jahren einst zum Gegenstande der Wahlüberlegung eines Frauenzimmers geworden, als er nur die Hand glaubte ausrecken zu dürfen, und dabei so schmählich unterlegen ist, daß ihm das Heiraten für immer verging. Wenn ihr es hören wollt, so will ich euch das Abenteuer, so gut ich kann, erzählen; es lächert mich jetzt und zugleich gelüstet mich, es vor meinem Ende zum ersten Male jemandem zu erzählen oder schwatzend zu redigieren, wie unser Freund Reinhart sich ausdrückt.«
Die jungen Leute bezeugten natürlich ihre Neugierde, die sie beide auch empfanden, und sie baten den Oheim, mit seinen Mitteilungen nicht zurückzuhalten.
Er warf noch einen aufmerksam forschenden Blick auf Reinharts Gesicht, blickte hierauf nachdenklich zu Boden und ließ[543] seinen weichen silbernen Schnurrbart durch die Finger laufen, als er seine Rede begann.
»Es ist bald geschehen, daß man alt wird (sagte er), so rasch, daß man beim Rückblick auf den durchlaufenen Weg sich nur auf einzelnes etwa besinnen und sich namentlich nicht mit reumütigen Betrachtungen über die begangenen dummen Streiche aufhalten kann. Denn dieselben scheinen in der perspektivischen Verkürzung so dicht hintereinander zu stehen wie jene Meilensteine, welche der Reiter für die Leichensteine eines Kirchhofes ansah, als er auf seinem Zauberpferde an ihnen vorüberjagte. Dennoch gibt es eine Art von Fehlern, Begehungen oder Unterlassungen scheinbar ganz unbedeutender und harmloser Art, welche ihrer Folgen wegen zehnmal schwerer im Gedächtnis haftenbleiben, als die gröberen Vergehungen und Versäumnisse, und während wir diese in unserem Sinne längst genugsam bedauert und gebüßt haben, überkommt uns immer wieder Reu und Ärger, sobald jene in der Erinnerung aufleben. Man verzögert den Besuch bei einem Kranken, und er stirbt, ohne ein letztes Wort gesagt zu haben, dessen man bedurfte. Einem guten Freunde haben wir Opfer gebracht und große Dienste geleistet; aber wir lassen ihn mit einer kleinen Freundlichkeit im Stiche, auf die er gerechnet hat; die Entfremdung, welche eintritt, halten wir für Undank, und nun erst überlassen wir den Mann auf schnöde Weise seinem Unstern und bereuen es zeitlebens. Statt, wie wir uns vorgenommen, ruhig an der Arbeit zu sitzen, laufen wir eines Morgens früh vom Hause weg, bleiben den ganzen Tag fort und verfehlen einen entscheidenden Besuch, der sich nie wiederholen wird. Wir lieben die Wahrheit und verhehlen sie aus blödem Hochmut oder aus einer Anwandlung von Mutlosigkeit das einzige Mal, wo es notwendig für uns war, sie zu sagen. Gegen Lust und Willen geht einer mit Menschen von schlechtem Rufe öffentlich spazieren und wird von einer ihm teuren Person gesehen,[544] die sich von ihm abwendet, und was dergleichen Unstern mehr ist.
Wir haben schon von der westdeutschen Universitätsstadt gesprochen, wo Sie geboren sind, Herr Reinhart. Dort habe ich auch einmal als Student gelebt, zur Zeit, als der erste Napoleon noch regierte und die Frauensleute unter den Armen gegürtet waren. Ich sollte Jura studieren, fand aber nicht viel Muße dazu, da ich einen Anführer unter den Rauf- und Zechbrüdern vorstellte und sonst allerlei Verworrenes zu treiben hatte. Von der politischen Not des Vaterlandes mit leidend, suchte ich Erleichterung in aufgespannten Kraftgesinnungen und verzweifelt heroischem Dasein, welches bald in ein halbkatholisches Romanzentum, bald in eine grübelnde Geisteskälte hinüberschillerte. Ich war bald mehr ein aufgeklärter Mystiker, bald mehr ein gläubiger Freigeist, alles natürlich ohne die entsprechenden Kenntnisse zu pflegen, die mit solchen Richtungen damals verbunden wurden. Nichts verstand ich ganz als die körperlichen Übungen, Fechten, Reiten und Trinken, letzteres nicht im Übermaß, aber doch genug, um zuweilen empfindsam zu werden und die moralischen Leiden der Zeit in erhöhtem Maße zu fühlen. Da war denn ein Freund vonnöten, der ohne Überhebung sein Herz dem Vertrauen öffnete und ohne Spott den gewünschten vernünftigen und kühlen Zuspruch erteilte.
Einen solchen fand ich in einem Studenten, dem wir den altdeutschen Spitznamen Mannelin gegeben, wobei wir ihn einstweilen noch lassen wollen. Ich hatte in einem Kollegium den Platz neben ihm erhalten, und er war mir vielleicht dadurch anziehend geworden, daß er fast in allem das Gegenteil von mir zu sein schien. Immer ruhig, meistens fleißig, war er doch kein Spielverderber, und obschon er weder focht noch ritt, noch viel trank, nahm er an den allgemeinen Versammlungen und Hauptsachen teil und sah mit einer fast gelahrten und feinen Haltung schon als Jüngling in die Welt und war gern gesehen.
Engere Bekanntschaft machte ich mit diesem Mannelin in dem[545] Bankhause, bei welchem ich empfohlen war und auch er seine Wechsel vorzuweisen hatte. Der Bankier pflegte auf jeden Sonntag einige Studenten zu seinen Tischgesellschaften einzuladen, und so trafen wir einstmals dort als Tischnachbarn zusammen und unterhielten uns so gut, daß wir nachher einen langen Spaziergang zusammen machten und uns auch in der Folge öfter sahen. Ich fühlte bald das Bedürfnis, meine Lustbarkeiten und Waffentaten häufiger zu unterbrechen und den ruhigen Genossen aufzusuchen, dem immer eine Stunde oder mehrere zur Verfügung standen, weil er immer vorher schon etwas getan hatte und auch nachher wieder gleichmütig arbeiten konnte, wenn es notwendig war, es mochte Tag oder Nacht sein.
Mit großer Duldsamkeit ertrug er meine Vorliebe für das Unerklärliche und Übersinnliche, das ich fortwährend in allen Dingen herbeizog und anrief, und verteidigte ohne allen Eifer seinen Standpunkt der Vernunft, wie einer, der es besser weiß, aber es nicht gerade fühlen lassen will. Er war schon von seinem Vater her ein geübter Kantianer und ließ, was darüber hinausging, sich nicht anfechten. Närrischerweise freute ich mich eigentlich dessen und war seiner Gesinnung und seines Wissens froh, während ich ihn mit phantastischen Reden bekämpfte. Es war mit mir, wie wenn jemand durch einen verrufenen Wald geht und auf seine Furchtlosigkeit pocht, im stillen aber sich auf das gute Schießgewehr verläßt, das ein Begleiter mit sich führt. Zuweilen wollte es mir allerdings vorkommen, als ob ich dem Mannelin ein bißchen zum stillen und am Ende gar spaßhaften Studium diente, wie es auf Hochschulen ja immer solche Leimsieder gibt, die für das Geld, das sie ihren Eltern kosten, von allem etwas glauben lernen zu sollen und sich allen Ernstes einbilden, sich für soundso viele Zehngroschenstücke selbst Lektionen in der Menschenkenntnis nehmen zu können. Die Zehngroschenstücke verwenden sie nämlich an einige Flaschen Bier oder Wein, die sie dabei wagen müssen, und sie bringen sie den Vätern unter der Rubrik ›Allgemeines zur Weltbildung‹ extra in[546] Rechnung. Aber ein solcher Leimsieder war Mannelin doch nicht. Er liebte wirklich in mir das Widerspiel und den harmlosen Kerl, der ich im Grunde war, und wenn eine kleine Spitzbüberei dabei mitwirkte, so war es die Kunst, mit der er sich an meinen vielen Erholungen, wenn ich sie erzählte, förmlich selber erholte, ohne sie zu teilen.
Als unsere gute Freundschaft in dem Bankierhause bemerkt wurde, lud man uns immer zusammen ein, wie wir auch bald zu einer Art von Hausfreunden gediehen, deren erwartetes oder unerwartetes Erscheinen stets gern gesehen wurde. Wegen der Verschiedenheit unseres Wesens ging für die andern auch immer etwas Kurzweiliges um uns vor, woran vorzüglich die einzige Tochter Hildeburg ihr Vergnügen zu finden schien. Ohne in der Denkweise dem einen oder andern entschieden beizustimmen, brachte sie uns immer ins Gefecht, und wenn nicht ein besonders angesehener Gast vorhanden war, der auf die Gesellschaft der Tochter des Hauses Anspruch erhob, so nahm sie bei Tisch unfehlbar zwischen uns beiden oder ganz in der Nähe Platz. Als das endlich zu scherzenden Bemerkungen Anlaß gab, erklärte sie uns offen als ihre lieben und getreuen Diener, ernannte mich zu ihrem Marschall und den Mannelin zu ihrem Kanzler, und was dergleichen Späße mehr waren. Eine vielbegehrte reiche Erbin und in allen Dingen verständige und, wie der Student sagt, patente Person, ein fixer Kerl, wie sie war, setzte sie sich durch solche Freiheiten keinerlei Mißdeutungen aus.
Das hinderte indessen nicht, daß wir beide uns in sie verliebten und einander leicht anmerkten. Doch blieben wir dabei nicht nur friedlicher Gesinnung, sondern die gemeinsame Verehrung diente sogar dazu, unsere Freundschaft zu befestigen und den Verkehr angenehm zu beleben, weil ja ohnehin von ernsthaften Folgen für uns noch jahrelang nicht die Rede sein konnte, auch Hildeburg uns so vollkommen unparteiisch behandelte, daß keiner vor dem andern aufgemuntert oder gereizt[547] wurde. Wie Mannelin im Innersten dachte, wußte ich freilich nicht; ich dagegen kann nicht leugnen, daß ich mich heimlich für prädestiniert hielt, weil die Schöne ebenso stark brünett war, wie ich selber, Mannelin hingegen der blonden Menschenart angehörte. In der Tat waren ihre wagerechten Augenbrauen so sammetdunkel wie der heraldische schwarze Zobel auf den alten Wappenschilden, und über der Stirne hing die krause Nacht eines Tituskopfes – na, ich will keine Beschreibung zum besten geben, nur anmerken will ich noch, daß an festlichen Tagen ein paar kleine Brillantsterne aus der nächtlichen Wildnis funkelten wie Leuchtwürmchen. Und dennoch fiel der Blick, der von dem Schimmer angezogen wurde, sogleich hinunter in den warmen Glanz der dunklen Augen, die meistens gütig ihn empfingen. Aber trau, schau, wem!
Doch ein heißeres Feuer entflammte sich, in welchem die Stadt Moskau aufging und das dem Napoleon die Stiefelsohlen verbrannte. Es dauerte nicht lange, so hieß es bei der studierenden Jugend überall: heimgereist! Mir stand schon eine Stelle in einem kaiserlichen Dragonerregiment offen; Mannelin wollte als bescheidener Fußgänger in die preußische Infanterie treten, und beide rüsteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber nochmals im Bankierhause speisen und wurden mit aller Freundschaft behandelt. Der Ernst jener Tage hinderte nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit und Scherz wieder aufblühten, und so wurde denn, als man auf das Wohl der scheidenden junge Krieger trank, die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen von uns sie am unliebsten verliere?
›Das weiß ich wahrhaftig selber nicht!‹ rief sie; ›erst war mir der Kanzler lieber; seit aber in seinem Umgange der wilde Marschall so gesittet und liebenswürdig geworden ist, verliere ich diesen auch ungern! Und doch ist es wieder nicht recht, wenn der andere, der die Quelle der Besserung ist, es büßen soll! Mag mir der Himmel helfen!‹[548]
Sie verbarg auf das artigste die Wehmut des Abschiedes hinter der Miene einer komischen Verlegenheit, ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nachtisches, zerbrach es und gab jedem von uns eine Hälfte. Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verschlang sie sogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin dagegen behielt die seinige in der Hand und spielte scheinbar damit, bis er sie unbeachtet in die Tasche schieben konnte.
Nach aufgehobener Tafel wurde ein Spaziergang durch den Garten gemacht, soweit die Wege in der frühen Jahreszeit gangbar waren; denn wir befanden uns in den ersten Monaten des Jahres 1813. Ich weiß nicht, wie es kam, daß wir uns mit dem Mädchen bald von den übrigen Gästen entfernten und ihr zu beiden Seiten gingen. Wir fühlten uns jetzt ernster und zugleich leidenschaftlicher gestimmt als früher, da wir uns der Tiefe unserer Neigung zu dem schönen Wesen deutlicher bewußt wurden; nur die Ungewißheit der Zukunft und die voraussichtliche Dauer und Gefährlichkeit des bevorstehenden oder vielmehr schon begonnenen Krieges mochten verhüten, daß sich die zwischen uns beiden bis anher waltende gleichmütige Freundschaft trübte.
Hildeburg merkte wohl an unserm stillen Wesen und an der Natur unserer Atemzüge, was uns bewegte, und sie selbst wurde fühlbar erregter. Als wir unversehens vor einem Pavillon anlangten, stieß sie die Türe auf, ging hinein und öffnete die vom Winter her noch verschlossenen Fensterläden, indem sie uns rasch mit einem Blicke überflog. Wir folgten ihr in den kleinen Saal, und sie wandte sich uns zu.
›Ich bin in allem Ernste in einer so traurigen Lage, wie noch nie ein Mädchen gewesen ist; denn ich habe euch beide lieb und kann es nicht auseinanderlösen. Du, Marschall, hast mein halber Herz verschlungen; das ist töricht, aber es verführt mich; und du, Kanzler, hast die andere Hälfte aufbewahrt, das ist auch töricht, aber es ist treu und beglückt mich. Ich werde nie die[549] Frau eines Mannes werden, es wäre denn einer von euch beiden; dazu müßte aber der eine fallen! Wenn beide fallen oder beide zurückkehren, werde ich ledig bleiben, als das Opfer eines heillosen unnatürlichen Naturspieles oder unvernünftigen Ereignisses, das in meiner Seele und meinen Sinnen vorgeht und das ich vor der Welt verbergen muß, wenn ich mich nicht mit Schmach bedecken will! Da ich mir aber keinen von euch tot denken kann und will, so lebt wohl auf ewig, liebste Brüder!‹
Nach diesen Worten fiel sie jedem von uns um den Hals und küßte ihn heftig auf den Mund, zuerst mich und dann den Mannelin, hierauf den Mannelin und endlich mich noch einmal. Wir standen wie vom Himmel gefallen und vermochten uns nicht zu regen. Für uns war die Situation ganz verflucht, und ich habe weder im Krieg noch im Frieden eine ähnlich verzwickte Lage wieder erlebt. Denn wenn, wie wir es ja soeben erfahren hatten, ein ehrbares Frauenzimmer allenfalls in leidenschaftlicher Wallung zwei Männer nacheinander küssen kann, so werden diese, wenn sie das Weib lieben, niemals dazu kommen, dasselbe nun gemeinsam anzufassen und wieder zuküssen. Wir brauchten uns auch nicht darüber zu besinnen, weil sie, ehe das möglich war, uns enteilte und im Vorbeigehen die Hand auf den Mund legend ausrief: ›Ihr verpfändet mir eure Ehre, daß ihr schweigt!‹
Es war uns nicht möglich, noch länger zu weilen; wir verabschiedeten uns, wobei Hildeburg wie alle andern unsere Hände schüttelte und die Tränen der Rührung nicht verhehlte.
Da gingen wir nun mit unserem geteilten Glück und Mißglück von hinnen und sprachen, nachdem wir ein gezwungenes Lachen bald aufgegeben, über eine Stunde lang kein Wort miteinander, obgleich wir zusammenblieben. Wir konnten uns nicht sehr gehoben fühlen; denn ein Graf von Gleichen, der zwei Frauen hat, kann dabei ein guter Ritter oder Kreuzfahrer sein; zwei gute Gesellen aber, die der Gegenstand der Doppelneigung eines[550] jungen Mädchens sind, müssen sich doch etwas zu zwiefältig, zu halbschürig vorkommen, und es ist nicht jedermanns Sache, ein siamesischer Zwilling zu sein. Dennoch hatte uns das seltsame Geständnis Hildeburgs und ihre leidenschaftliche Umarmung Herz und Sinn noch vollends gefangengenommen, und wir liebten das schöne schlanke Naturspiel unvermindert fort, zumal dasselbe ja noch tragischer als wir gestellt war, wenn es sich so mit ihm verhielt, wie es sagte.
Es half uns denn auch das Empfinden der Tragik über die gegenseitige Verlegenheit hinweg. Als wir den Versammlungsort aufsuchten, wo an die hundert junge Männer, die am nächsten Tage nach allen Seiten unter die Fahnen eilen mußten, den Abend noch zubringen wollten, da erhob sich unser Geist zu der Höhe der aufwogenden und rauschenden Vaterlands- und Kampfesfreude. Wir saßen dicht nebeneinander in der gedrängten Schar; und als gegen Mitternacht die Gläser unter dem donnernden Rufe: ›Tod und Freiheit!‹ in die Höhe fuhren, da hielt Mannelin mir sein Glas entgegen und sagte: ›Sollte es so kommen, daß einer von uns fällt und der andere das Weib gewinnt, so soll er leben! Auf sein Glück!‹
Nicht minder pathetisch stieß ich an, daß beide Gläser klirrten, indem ich rief: ›Und Friede dem Toten!‹
So trennten wir uns als wackere Freunde, und nach wenigen Stunden fuhren wir auf getrennten Wegen dahin, ohne daß wir für die Zukunft irgendeine Abrede oder Bestimmung getroffen hatten. Wie das Kriegsglück wollten wir auch das Schicksal unserer ungewöhnlichen Liebesgeschichte sich selbst überlassen.
Mannelin hatte hellere Sterne als ich; während ich noch immer unter Österreichs zögernden Standarten harren mußte, stürmte der blonde Duckmäuser mit seiner Muskete schon von Schlacht zu Schlacht, und erst auf Leipzigs Feldern kam ich zum Tanze und atmeten wir den gleichen Pulverdampf, aber ohne uns zu sehen oder voneinander zu wissen.[551]
Ich kann dem Verlaufe des gewaltigen Feldzuges jetzt nicht weiter folgen. Auch in Paris traf ich den Freund nicht, obgleich wir fast gleichzeitig dort einmarschiert waren. Schon zum Leutnant vorgerückt, war er sozusagen fast auf dem Pflaster jener Stadt noch schwer verwundet worden und lag, als ich seine Spuren suchte, unerreichbar in einem entlegenen Lazarett. Es hieß sogar, er werde bereits gestorben sein, als ich meine Nachforschungen fortsetzte; da widerstrebte es mir, mich von seinem Tode zu überzeugen, um an geweihter Stätte des Kampfes und Sieges nicht die nackte Selbstsucht in mir aufkommen zu lassen. Denn seit Streit und Mühsal aufgehört hatten und die Friedenspalmen winkten, waren auch die Gedanken an das verhexte Liebeswesen wieder stärker wach geworden, und ich bliebe absichtlich im dunkeln über Mannelins Tod, damit ich nicht gleich wie ein Wechselgäubiger vor das schöne Mädchen zu treten versucht würde, an dessen Verheißung, den Überlebenden zu heiraten, ich fest glaubte.
Im Monat Mai des Jahres 1814, zur Zeit, wo das lange Rheintal blühte wie ein einziger Fliederbusch, zog unser Regiment über den Strom ostwärts; es bekam aber den Befehl, in der Rheingegend haltzumachen, um die ferneren Umstände abzuwarten, wie wir denn auch bald nachher nach der Lombardei gesandt wurden. Die Schwadron, in der ich ritt, kam aber nirgends anders hin zu stehen als in unsere gute Universitätsstadt. Mit welchen Gedanken sah ich die Pferde in den Marstall und die Reitbahn stellen, in denen sich der Student so oft getummelt hatte! Und als ich mein Quartier im Gasthofe bezog, in welchem ich vor fünf Vierteljahren so manche Flasche ausgestochen, waren Wirt und Dienerschaft sehr verwundert über den ernsthaften Kriegsmann.
Allein auch ich verwunderte mich, da ich auf Befragen vernahm, die Bankiersfamilie befinde sich zur Zeit nicht in der Stadt, sondern auf einem Landsitze, der ungefähr eine Meile entfernt sei. Ein französischer Emigrant, der vor zwanzig Jahren[552] das Grundstück an sich gebracht, hatte es nämlich augenblicklich zum Verkaufe ausgeboten, als die Ordnung der Dinge in Frankreich umgestürzt war; und der Bankier hatte nicht gesäumt, das Gut auf die leichte und billige Weise zu erwerben, die in solchen Zeit- und Kriegsläufen denen möglich ist, welche bares Geld haben.
Ich konnte daher am Tage der Ankunft nicht mehr vorsprechen, ritt aber um so zeitiger am andern Morgen hinaus, von meinem Reitknechte begleitet. Es regnete ein wenig an dem Tage, weshalb ich den Kragen des weißen Reitermantels aufgestellt und die Schirmmütze etwas tief in die Augen gezogen hatte, als ich durch eine lange Allee auf das alte schloßartige Gebäude zuritt, das wenig gut unterhalten schien. Man mochte glauben, daß eine gewöhnliche Offiziers-Einquartierung angekommen sei, da auch in der Umgebung schon österreichische Reiterei erschienen war. Es trat daher nur ein Diener aus der Türe, mich zu empfangen und nach meinen Wünschen zu fragen. Statt ihm zu antworten, sprang ich vom Pferde, überließ die Zügel meinem Burschen und betrat sogleich das einst stattliche gebaute, jetzt etwas verfallene Vestibül des Hauses. Erst als ich ihm den Mantel übergab, erkannte mich der Diener trotz des veränderten Aussehens, das der Krieg mir verliehen, und führte mich freundlich überrascht in einen Saal, wo der Herr und die Frau des Hauses die Zeitungen lasen. Auch sie erkannten mich nicht sofort, erhoben sich aber mit lebhafter Freude, als es geschah, und hießen mich willkommen. ›Was wird Hildeburg sagen‹, riefen sie, ›wenn der Marschall wieder da ist! Und wo bleibt denn der Kanzler? Wissen Sie nichts von ihm? Wie oft haben wir von beiden Herren gesprochen!‹
Eh ich antworten konnte, trat Hildeburg in den Saal, die allein mich von einem Fenster aus erkannt hatte, sobald ich nur von der Landstraße in die Allee eingebogen war.
Ich vergesse niemals die Erscheinung, wie sie mir entgegentrat. Wie ein weißes Tuch so bleich war das Gesicht, das Auge träumerisch[553] erschreckt und auf dem Munde doch ein Lächeln des Wiedersehens, das aus dem Herzen kam, blasse Trauer und errötende Freude, mehrere Sekunden lang sich jagend: es war kein Zweifel, sie hielt den armen Mannelin für tot und mich für gekommen, mein Recht geltend zu machen!
Zum Glücke waren die Eltern an allerlei wunderliche Stimmungen gewöhnt, sonst hätten sie jetzt ihren wahren Zustand ahnen müssen, besonders als ich nicht länger vermeiden konnte, von Mannelin zu erzählen, was ich wußte, was freilich wenig und doch bedenklich genug war. Der Papa meinte, es sei doch zu hoffen, daß er sich noch unter den Lebenden befinde, ansonst gewiß der eine oder andere der jüngeren Freiwilligen, die in den letzten Wochen bereits in ihre Hörsäle zurückgekehrt seien, eine bestimmte Todeskunde gebracht hätte. Auch in den Verlustlisten, die er ziemlich aufmerksam durchlaufen, sei ihm der Name so wenig vorgekommen als der meinige.
Allein als Hildeburg eine Viertelstunde später mit mir zu zweit durch eine Zimmerflucht wandelte, um mir das Haus zu zeigen, das erst neu hergestellt und eingerichtet werden müsse, hielt sie plötzlich an und sagte mit leise hallenden Klagetönen: ›Es ist nur zu wahr! Mein kluger, lieber Kanzler Mannelin liegt in Frankreich unter dem grünen Rasen; sie haben ihm die Brust durchgeschossen und seine treuen blauen Augen ausgelöscht! Und du, Marschall, bist gekommen, es mir zu sagen!‹
Und gleichzeitig sah sie mich mit tief aufflammenden Augen Augen an, die ebensowohl aus Haß wie aus Liebe so erglüht sein konnten. Denn auf den blaß gewordenen Lippen lag jetzt nichts als bittere Trauer. Das Du, mit dem sie mich anredete, wagte ich nicht zu erwidern, so herrisch hatte es geklungen, beinahe, wie der Herr mit dem Diener oder der Offizier mit dem Soldaten sprach.
›Nein, Fräulein Hildeburg!‹ sagte ich, einen Schritt zurücktretend, doch mit scheuer Ehrerbietung, denn sie sah gar zu[554] merkwürdig aus, fast wie wenn sie besessen wäre: ›Ich weiß von nichts und hoffe, er lebt noch!‹
›Den Teufel hoffst du!‹ rief sie mit funkelnden Augen und lachte jählings laut auf, indessen mich das Gewissen Lügen strafte. Denn in diesem Augenblicke schien es mir, daß ich nicht genug getan hatte, um über das Schicksal Mannelins ins klare zu kommen, und zugleich fühlte ich mich von brennender Eifersucht gegen den Abwesenden gepeinigt, der so leidenschaftlich betrauert wurde. Sie hatte ihn offenbar mehr geliebt oder liebte jetzt nur noch ihn. In dieser Beklemmung tat ich einen unfreiwilligen schweren Seufzer, worauf Hildeburg mich bei der Hand nahm und mit veränderter Stimme sagte: ›Kommen Sie, und sprechen wir vorderhand nicht mehr davon!‹
Ruhig ging sie neben mir in den Saal zurück, wo eine Erfrischung aufgetragen war, und als ich gegen Abend mich nach der Stadt begab, reichte sie mir treuherzig die Hand und sagte, sie hoffe mich noch öfter zu sehen, solange das Regiment in der Gegend bleibe. Da die Witterung meistens gut war, so fand sich fast täglich Ursache und Vorwand, den Spazierritt zu wiederholen, und wenn ich ausblieb, sagte Hildeburg am nächsten Tage sogleich: ›Warum sind Sie gestern nicht gekommen?‹ Sie schien sich mir wieder mehr zuzuneigen, und das eine Mal velor sie unversehens einen trauten Blick an mich, das andere Mal streifte sie mich leicht mit einer Berührung, kurz, sie beglückte mich mit jenen kleinen Zeichen, mit welchen Liebende anfangen, sich an den Gedanken eines dereinstigen Beisammenseins zu gewöhnen. Dann aber blieb sie wieder tagelang in sich gekehrt und lebte sichtlich mit düsteren Sinnen in der Ferne. Mein eigener Zustand schwankte daher fortwährend zwischen Hell und Dunkel hin und her, so daß ich ungeduldig das Ende herbeiwünschte. Allerdings stand es auch einem jungen Dragoner, der seit Jahr und Tag den Säbel in der Faust führte und über manche Blutlache hinweggesetzt hatte, nicht sonderlich gut an, um ein Frauenzimmer herumzuschmachten, das doch nicht[555] dicker war als ein Spinnrocken, wenn auch noch so hübsch gedreht.
Als ich eines schönen Nachmittags auf den Landsitz hinausritt und eben in der langen Ulmenallee in unwilliger Gemütsbewegung das Pferd in eine unruhige und heftige Gangart versetzt hatte, ohne dessen bewußt zu sein, eilte mir aus dem Hause ein fröhliches Menschenpaar entgegen: Hildeburg, welche einen preußischen Infanterieoffizier, oder mein Freund Mannelin, der das Fräulein Hildeburg an der Hand führte; ich konnte in der Überraschung nicht erkennen, welches von beidem der Fall war. Meine erste Empfindung war die Freude über das unverhoffte Wiedersehen, die zweite ein Gefühl der Zufriedenheit über die Herstellung des frühern Zustandes zwischen den drei Personen, womit wenigstens für den Augenblick der quälende Zweifel beseitigt wurde. Auch Hildeburg gab ähnlichen Gefühlen Ausdruck, indem sie ausrief: ›Nun ist alles gut, nun sind wir alle wieder beisammen!‹
Mannelin vollends war unverkennbar glücklich und zufrieden, die Dinge so zu finden, da er schon gefürchtet haben mochte, zu spät zu kommen; denn er wußte, daß er irrigerweise für tot ausgegeben worden. Er war aber nicht so unrettbar verletzt gewesen und jetzt leidlich geheilt; doch hatte er einen mindestens halbjährigen Urlaub antreten müssen, um sich ganz zu erholen. Schon wieder mit Büchern versehen, war er auf dem Wege nach einem Badeort mit heißen Quellen begriffen und hielt kurze Einkehr in der Universitätsstadt. Erst auf dem Landgute des Bankherrn hatte er heute vernommen, daß ich ebenfalls im Lande sei. Mannelin hatte durch den Kriegsdienst sich sehr vorteilhaft verändert, was das Äußere betrifft. Ohne gerade martialisch dreinzuschauen, hatte er doch an fester Haltung gewonnen. Sein leichter blonder Bart auf Wangen und Oberlippe erhielt durch den Ernst der Ereignisse und Abenteuer, der in den Augen und auf dem Munde sich gelagert hatte, eine größere Bedeutung, als ihm sonst zugekommen wäre, und das[556] militärische Wissen und Erfahren, um welches er reicher geworden, vereinigte sich vortrefflich mit seinem wissenschaftlichen Geiste. Aber ungeachtet er die bedeutendsten Kriegstaten mitgemacht und zahlreichere Gefechte und Gefahren bestanden als ich, hörte man ihn niemals davon sprechen, und wäre er nicht unfreiwillig in die zeitgemäßen Gespräche mit verflochten worden, so würde man vermutet haben, er sei die ganze Zeit über nie aus seiner Studierstube herausgegangen.
Das verlieh dem liebenswürdigen Duckmäuser einen neuen Glanz, der indessen auch mir zugute kam; denn als ich einst nach eifrigem Sprechen vom Hauen und Stechen in der darauffolgenden Stille plötzlich wahrnahm, wie renommistisch ich mich neben ihm ausnehmen mußte, suchte ich mich beschämt zu bessern und wurde auch hie und da bescheidener. Leider mußte ich nachher, da ich Soldat von Profession blieb, mich doch wieder an das Schreien und Rufen gewöhnen.
So verlebten wir noch eine Reihe von angenehmen heiteren Tagen, bis nicht unerwartet und doch unverhofft der Abmarschbefehl für mein Regiment anlangte, und zwar hatte der Aufbruch in sechs Tagen stattzufinden. Von Stund an war Hildeburg in ihrem Benehmen verändert. Bald unruhig und zerstreut, bald in sich gekehrt und über etwas brütend, das sie beschäftigte und drückte, wechselten ihre Launen unaufhörlich, und als ob sie es selbst nur zu wohl wüßte, entzog sie sich meist der Gesellschaft, die zuweilen ziemlich zahlreich wurde, je mehr die Umgebung des erst später wohnlich zu machenden Hauses zum Aufenthalt im Freien einlud. Indem ich, von dem veränderten Betragen des Mädchens abermals betroffen, über dasselbe nachdachte, fühlte ich mich geneigt, die Erscheinung zu meinen Gunsten auszulegen und zu glauben, nun komme die Reihe, als Abwesender oder gar Verlorener zu glänzen und betrauert zu werden, an meine werte Person. Ich überlegte, wie ich mich dazu zu stellen habe: ob ich edel gesinnt die Dinge nach Abrede[557] gehen lassen und dem Rivalen vertrauensvoll das Feld räumen, oder ob ich den Vorteil benutzen und mit dem Gewicht der neuen Sachlage dem Zünglein der Wage einen leichten, aber plötzlichen Stoß geben solle?
Hildeburg selbst schien mir entgegenzukommen; sie veranlaßte ihre Eltern, mir zu Ehren ein Abschiedsessen zu geben, um mich forderte sie bei der Einladung auf, es so einzurichten, daß ich auch den Abend bleiben könne. Ein Bett für mich solle trotz der mangelhaften Einrichtung bereit sein, meinte sie, und vor Gespenstern würde ich mich wohl kaum genieren. Denn es gehe die Rede, daß in dem ältern Flügel des Hauses etwas nicht richtig sei.
In der Tat hatten die Dienstboten von einem alten Gärtner dergleichen Reden gehört und mit eigenen Beobachtungen, die sie zu machen glaubten, ergänzt. Während der Mahlzeit, welche reich und belebt genug war, geriet die Unterhaltung ebenfalls auf diesen Gegenstand. Die alte Mama beklagte sich über so beunruhigende Herumbietungen, die doch keinen vernünftigen Grund haben könnten; der alte Herr verwies darauf, daß mit Luft und Licht und und frischer Tünche der neuen Arbeiten das Unwesen sich wohl verziehen werde. Mich aber stach der Vorwitz, mich wieder einmal der sogenannten Nachtseiten und der jenseitigen Geheimnisse usw. anzunehmen, und ich kehrte den ernsten Kriegsmann heraus, der auf nächtlichen Schlachtfeldern und zwischen Tod und Leben verlernt habe, über dergleichen zu spotten.
Mannelin, der bisher das Gespräch nicht teilnahmswert gefunden, sah mich ganz verwundert an und fragte mich treuherzig lachend, ob ich noch unter die Geisterseher gehen wolle? Hierdurch gereizt, bejahte ich die Frage kühnlich, sofern ich nur das Glück wirklich haben sollte, ein Stück der andern Welt jetzt schon kennenzulernen; zugleich stellte ich aber ein wenig großtuerisch in Aussicht, den Dingen ins Gesicht zu sehen und sie zur Rede stellen zu wollen, wenn sie anders herankämen. Um[558] was sich's eigentlich handle im vorliegenden Falle? schloß ich meine Prahlerei.
›Es soll ein Poltergeist sein, den man die alte Kratt nennt!‹ sagte Hildeburg, halb eingeschüchtert durch meine Reden, wie wenn sie befürchtete, es möchte am Ende etwas Wahres aus der Sache werden. Vor achtzig Jahren habe nachweisbar eine freiherrliche Familie Kratt das Gut besessen; Weiteres habe man noch nicht herausgebracht, als daß es nur selten und nur in gewissen Nächten spuke.
Da die Mutter Hildeburgs ein ängstliches und noch mehr verdrießliches Gesicht zu machen begann über die Verunzierung des neuen Besitzes und mein Freund Mannelin sich gleichgültig von dem Gespräch wieder abgewandt hatte, wurde dasselbe fallengelassen, und man kam nicht mehr darauf zurück. Ich hatte zwei Kameraden mitgebracht, lustige Donauleute, die sich das gute Leben im Privatkreise wohl gefallen ließen nach langen Entbehrungen, und es ging den Rest des Tages über sehr munter zu. Als sie am Abend, da auch die anderen Gäste zurückkehrten, den leichten Wagen vorfahren ließen, in welchem wir gemeinschaftlich angekommen, schwankte ich einen Augenblick, ob ich nicht mit ihnen fahren sollte, da es wegen des bevorstehenden Abmarsches allerlei zu tun gab und ich mich doch in nichts verfehlen wollte. Ich brauchte nur Helm und Säbel zu holen und rasch Adieu zu sagen, das heißt bis zum folgenden Tage. Da stand aber schon die Hildeburg bei uns auf der Freitreppe und sagte gleichmütig: ›Ich dachte, Sie würden morgen noch mit uns im Garten frühstücken; doch lassen Sie sich nicht abhalten, wenn es nicht an geht. Jedenfalls steht ihr Zimmer bereit.‹
Natürlich blieb ich nun da; die zwei Österreicher küßten der Dame die Hand, schwangen sich in den Wagen und fuhren wie die Kugel aus dem Rohr davon, während ich mit Hildeburg dem leuchtenden Diener ins Haus zurückfolgte, mit einem geheimen Herzklopfen wegen der süßen Entscheidung, die ich[559] halbwegs erwartete. Hildeburg zog sich jedoch bald in die Unsichtbarkeit zurück, und der Tag endigte für mich damit, daß ich in der Gesellschaft Mannelins und von Hildeburgs Vater noch mehrere Gläser starken Punsches trank, den die Frauen uns hatten anrichten lassen. Dann plauderte ich noch eine Viertelstunde mit Mannelin auf seinem Zimmer und folgte endlich etwas schlaftrunken dem Diener, der mich in die Stube brachte, wo mein Nachtlager stand. Ich hatte fast alles vergessen, was mich vor Stunden noch erregte, und sah das Gemach nur flüchtig an, in dem ich mich befand. Es schien ein sehr großes, aber niedriges Zimmer, dessen Wände und Decke mit hölzernem Tafel- und Leistenwerke bekleidet waren. An den Wänden stand hie und da ein alter Polstersessel und in einer Ecke ein altertümliches Himmelbett, das von allen vier Seiten dunkle Umhänge umgaben. In der Nähe des Bettes befand sich ein Tisch mit Wasser und dergleichen, auf welchen der Diener seine zwei Leuchter stellte, eh er sich zurückzog; weiter war nichts zu erblicken als in einer entfernten Ecke, dem Bette schräg gegenüber, eine alte Schreibkommode mit einem Aufsatz. Dicht dabei befand sich eines der Fenster, durch welche ein schwaches Mondlicht in den Raum fiel, und ich sah noch, wie die verdunkelte Politur des alten Hausrates das Licht matt reflektierte. Als ich die Uhr auf den Tisch legte, sah ich, daß es halb zwölf Uhr war. Das erinnerte mich nochmals an die Spukgeschichte; da es mir aber jetzt mehr um den Schlaf als um ein Abenteuer zu tun war, verließ ich mich unbedenklich wieder auf Mannelins guten Verstand, löschte die Lichter und legte mich, immerhin die Unterkleider anbehaltend, in das Bett, das übrigens vortrefflich war. In drei Minuten schlief ich fest; ich glaube, ich dachte nicht einmal mehr an die geliebte Hildeburg, kann es aber nicht bestimmt sagen. Mein Leichtsinn nahm diesmal ein übles Ende.
Ich mochte kaum eine halbe Stunde geschlafen haben, so wurde ich durch einen schrecklichen Knall oder Fall geweckt, der mitten im Zimmer erfolgt sein mußte. Ich sperrte die Augen[560] auf, und halb schwindlig von den aufgestörten Geistern des genossenen Getränkes, von Schlaftrunkenheit und Überraschung, suchte ich mich zu besinnen, was ich denn gehört habe? Es dünkte mich, es könnte ein schwerer Gegenstand in oder außer dem Zimmer umgestürzt, ebensogut aber in dem baufälligen Hause oben oder unten etwas gebrochen sein. Zuletzt aber behielt ich wieder den Eindruck, daß der Ton in nächster Nähe entstanden sein müsse. Ich sah und horchte hin, aber nichts war zu sehen oder zu hören als der unheimliche Mondglanz auf der dunklen Schreibkommode. Auf einmal fegt' und kratzt' etwas hinter der Wand, dicht an meinem Bette. Ich warf mich herum und starrte; das war nun außer dem Spaß! Und wie ich starre, fährt mir ein eiskalter Luftzug über das Gesicht, die Bettvorhänge flattern einen Augenblick lang hin und her, und plötzlich wird mir die Decke vom Leib gerissen.
›Donnerwetter!‹ rufe ich beklemmt und setze mich endlich aufrecht, jetzt ganz munter geworden. Es spukte wahrlich. Ich brachte die Beine aus dem Bett und saß nun quer auf demselben; mehr vermochte ich nicht zu tun, weil das Unbekannte trotz der possenhaften Form, in der es sich ankündigte, lähmend auf meine Glieder wirkte. Eben dies Possenhafte war ja selbst schreckhaft mit seinem Höllenhumor. Plötzlich wehen die Gardinen wieder, der eisige Hauch fährt mir über die linke Seite des Gesichtes und über den Nacken. Und indem ich mich schüttle, höre ich dicht hinter mir, wie durch die Wand hindurch, Schritte schlurfen, eine dünne zitternde Weiberstimme stöhnt etwas Unverständliches, und indem ich mit neuem Schrecken hinhöre, steht schon einen Schritt links von mir eine gebeugte graue Weibergestalt mit einer verschollenen Schleiermantille um den Kopf. Sie muß hinter meinen Bettvorhängen und aus der Wand hervorgekommen sein. Nur einen Augenblick steht sie still, um Atem zu schöpfen; denn sie keucht wie eine engbrüstige Alte, die treppauf und -nieder und durch lange Korridore gegangen ist. Dann schlurft sie mit klatschenden[561] Pantoffeln weiter, schräg über den Zimmerboden, auf die Schreibkommode zu, vor der sie anhält. Mit einer leichenblassen Hand tastet sie an dem alten Möbel herum, wie wenn sie das Schlüsselloch suchte; ich sehe die gespreizten mageren Finger herumfahren. Richtig zieht sie einen Bund kleiner Schlüssel hervor, sucht einen derselben aus, steckt ihn in das Schlüsselloch und schließt die Schreibklappe auf. Unmittelbar darauf zieht sie mit sicherem Griff eines von den vielen Schieblädchen des Innern ganz heraus, guckt in die leere Öffnung und fährt mit der Hand hinein. Ich höre dort abermals ein Schlüsselchen umdrehen und sehe die Gestalt ein zweites verborgenes Fach hervorziehen, aus welchem sie hastig ein Paket nimmt, es öffnet und ein darin liegendes Papier entfaltet, in welchem ein drittes enthalten ist, das sie wiederum auseinanderschlägt. Dies alles sah ich im Zwielicht des Mondes, der durch das Fenster scheint. Und weiter sah ich deutlich, wie die alte Frau ein anderes Lädchen zieht, ein Etwas aus demselben nimmt, das ein Radiermesser sein muß; denn sie bückt sich tiefer auf das aufgeschlagene Papier, das jetzt einen stattlichen Foliobogen darstellt, und liest darin, liest, nachdem das Gespenst eine Brille aufgesetzt hat, einen veritablen Nasenklemmer! Jetzt setzt sie den Finger auf eine Stelle und fängt an, etwas auszuradieren. Obgleich sie mir den Rücken zukehrt, erkenne ich doch jede Bewegung. Sie keucht bei der Arbeit mit stärkeren Atemzügen, die in der Kehle wie boshafte Geister einander zu drängen und zu kratzen scheinen; sie bläst das Abgeschabte weg, hustet wie ein alter schwindsüchtiger Notarius publicus, bläst wieder, fährt mit dem Finger über die radierte Stelle und schabt abermals. Endlich scheint die Arbeit gelungen zu sein; ein niederträchtiges, kurzes, heiseres Gelächter mit hi, hi, hi! dringt mir durch Mark und Bein, und ohne mich rühren zu können, denke ich doch: Hier ist einstmals ein Vertrag gefälscht, ein Geburtsrecht, ein Erbe, ein Lebensglück gestohlen worden!
Plötzlich wird das Messerchen wieder hingelegt, wo es genommen[562] worden, mit der scheinbaren historischen Natürlichkeit solcher Dämonen, das Papier oder die Urkunde zusammengefaltet, eins ins andere gelegt und ein Schubfach nach dem andern zugestoßen, die Klappe zugeschlagen und verschlossen. Plötzlich dreht sich die Gestalt um und schleppt sich nach der Richtung hin zurück, wo ich reglos sitze, bis sie beinahe dicht vor mir stillsteht und mich anschaut. Nie vergesse ich das infame Hexengesicht, obschon es nur seitwärts vom Monde gestreift wurde und der größte Teil im Schatten lag. Nase, Kinn, der Mund, alles grinste wie in blühendem Leichenwachs ausgeprägt mir entgegen, voll Hohn und Grimm, wie das dunkle Feuer in den doch unkenntlichen Augen. Ich war in Kartätschenfeuer geritten, das mir wir Zephirsäuseln vorkam gegen die Schauerlichkeit, die mich jetzt übernahm. Was hatte ich mit diesem verfluchten Wesen zu schaffen, dem ich nie ein Leides getan? Was sollte das für eine Vernunft in der Welt sein, wo ein beherzter ehrlicher Kerl macht- und wehrlos dem wesenlosen Scheusal gegenüber dasaß und bei der geringsten Bewegung vielleicht durch die Schrecken der Ewigkeit um Gesundheit und Leben kam? Dergleichen verworrenes Zeug schwirrte mir durch den Kopf, als das Gespenst mich anschaute; ich fühlte, wie das Haar mir zu Berge stand, der Atem versagte mir, und ich konnte gleich einem, den der Alp drückt, nur noch rufen: ›Die alte Kratt!‹ als mir für einen Moment die Sehkraft und Besinnung schwand. Eine Minute später war die Erscheinung verschwunden. Selbstverständlich schlug jetzt, zur Vollendung des Spukes, auch noch die erste Stunde nach Mitternacht an einer entfernten Turmuhr. Als das bekannte wohltätige Eins gehörig verhallt war, wagte ich endlich, mich zu rühren, und suchte Licht zu machen. Die Leuchter standen da, aber ich fand kein Feuerzeug; so blieb mir nichts übrig, als mich zu Bette zu legen, und ich spürte bei dieser Gelegenheit die Bettdecke, die auf dem Boden lag. Ich nahm sie an mich, und sobald ich mich wieder horizontal ausgestreckt und nichts Verdächtiges mehr[563] geschah, schlief ich ein und erwachte, als es schon lange Tag war. Erst jetzt stellte ich einige Untersuchungen an. Die Türe, die sichtbar einzig ins Zimmer führte, war noch von innen verschlossen, und der besondere altmodische Riegel, der über dem Schlosse angebracht, überdies vorgeschoben. Die Schreibkommode war am Tage ein ganz gemütliches Möbel. Auf dem Pultdeckel oder der Klappe war von buntem Holze eine Landschaft eingelegt. Aus einem See ragte eine Insel mit einem Schloß, und auf dem Wasser saßen zwei Herren mit langen Perücken und kleinen Dreieckhütchen in einem Nachen und schossen auf Enten. Im Vordergrunde standen ein paar ruinierte Tempelsäulen, unter welchen ein dritter Herr mit hohem Rohrstocke tiefsinnig promenierte; alles so idyllisch und unverfänglich als möglich. Was mich aber am meisten wunderte, war ein Schlüssel, der ruhig im Schlosse stak, während ich doch deutlich den Schlüsselbund klirren und den Schlüssel des Gespenstes umdrehen und ausziehen gehört hatte. Ich machte die Klappe auf und sah die Schubläden, zog eines nach dem andern auf, aber alle waren leer, kein Radiermesser und nichts. Auch das geheime Fach fand sich mit seinem Schlüsselchen, es war auch leer, und ich hatte doch das Paket und die Papiere gesehen!
Es blieb also nur noch die Umgebung des Bettes zu untersuchen. Dasselbe stand mit dem Kopfende eine gute Spanne von der Wand entfernt, so daß zwischen der Gardine und der Wand allerdings jemand, der nicht zu dick war, sich mit Not durchwinden konnte. Als ich jedoch die schwere Bettstelle mit Mühe etwas weggerückt hatte, fand ich ringsum nichts als das gleiche Holzgetäfel, wie es überall die Wände und auch die Decke bekleidete. Von einer Ursache des Knalles konnte ich auch nirgends eine Spur entdecken.
Desto ernster erneuerte sich der Eindruck des Gesehenen; die schnurrige und widerwärtige Seite des Spukes trat zurück vor der Ahnung der endlosen Unruhe einer Seelensubstanz, für die sich, wenn dies Landhaus einst lange vom Erdboden verschwunden[564] sein wird, dasselbe stets wieder aufbaut mit dem alten Zimmer und der Kommode, in welcher die verbrecherischen Papiere liegen, sowie auch der Schlüsselbund und das Radiermesser immer vorhanden, obschon sie vom Roste längst aufgelöst sind. Ich grübelte über diese furchtbare Existenz und Fortdauer in der bloßen Vorstellung, deren reale Natur jedem einzelnen der einst noch schrecklich klarwerden könnte, und da der Tod in den Kriegszeiten mir als einem Soldaten sozusagen zur Seite stand, dachte ich über mich selbst nach, über meinen Leichtsinn und dies oder jenes, was ich verfehlt haben mochte. Erst jetzt, da ich keine Wahl mehr hatte, beschwerte mich die übersinnliche Jenseitigkeit mit ihren dunklen Schatten, und ich empfand ein Heimweh wie nach einem Beichtvater, während ich den Säbel umschnallte und die Gesellschaft aufsuchte, welche eben in einer Laube beim Frühstücke saß.
Man sprach eben von dem nächtlichen Knall, der demnach im ganzen Hause gehört worden war, und da ich mit düsterem Gesicht hinzutrat und mich erst schweigend verhielt, wurde die Stimmung noch betroffener und verlegener. Befragt, ob ich es auch gehört, bejahte ich, ohne Weiteres hinzuzufügen, da ich die Familie nicht erschrecken mochte und es der Zeit und dem Gespenste selbst überließ, die Herrschaft mit den Merkwürdigkeiten dieses Hauses bekanntzumachen. Erst als ich mit Hildeburg und Mannelin vor meinem Weggehen noch etwas auf und nieder ging und die erstere zu mir sagte: ›Was ist Ihnen denn, daß Sie so ernst und schweigsam sind?‹ antwortete ich unwillkürlich: ›Was wird es sein? die alte Kratt hab ich gesehen!‹
›Und haben Sie mir ihr gesprochen?‹
Sie sagte das mit unbefangenem Lachen, wie man tut, wenn man etwas für einen Scherz hält. Doch sah sie mich dabei aufmerksam an. Ich antwortete nicht darauf, zumal Mannelin mich ebenfalls erstaunt anblickte und ich nicht aufgelegt war, eine Disputation mit ihm zu bestehen. Da der Kutscher bereit war, mich nach der Stadt zu fahren, nahm ich mit dem Versprechen[565] Abschied, am nächsten Tage noch ein letztes Mal zu kommen, und fuhr nicht mit leichtem Herzen weg. Der Geisterbesuch, die Trennung von dem anziehenden und trefflichen Mädchen, die Ungewißheit der Zukunft und auch der Umstand, daß Mannelin allein bei Hildeburg zurückblieb, alles trug dazu bei, meine Gedanken trüb und schwer zu machen.
Ich will nur gleich den chronologischen Verlauf zu Ende erzählen. Nach meiner Abfahrt setzten Hildeburg und Mannelin die Gartenpromenade fort, und erst jetzt drückte der Freund seine mit einigem Unwillen vermischte Besorgnis über den Stand meiner geistigen und körperlichen Gesundheit aus, da ich nicht nur von Gewissensfurcht, sondern sogar von förmlichen Halluzinationen geplagt scheine. Es wäre schade für mich, wenn ich in dem krankhaften Wesen weiter dahinlebte und Fortschritte machte, und er frage sich, ob er mich nicht zur Einholung eines Urlaubes veranlassen und an den bewußten Badeort mit sich nehmen solle. Offenbar hätten die Kriegserlebnisse meinem beweglichen Wesen nicht gutgetan und so weiter.
Hildeburg erwiderte nachdenklich, ob er denn so sicher wisse, daß nur Täuschung sei, was ich gesehen zu haben vorgebe? Ihres Teiles befürchte sie, allerdings gegen alle Vernunft, daß doch dies oder jenes möglich sein könnte, und für diesen Fall wäre es ihr mehr um die Eltern zu tun sowie um die übrigen Verwandten und Freunde, denen der Aufenthalt in dem verrufenen Gebäude kein Vergnügen mehr machen würde. Die Vornahme der baulichen Wiederherstellungen schiene unter solchen Umständen geradezu nicht mehr ratsam, und dergleichen mehr.
Jetzt schaute Mannelin die Sprecherin mit ebenso besorgtem als liebevollem Blicke an. Ihn bekümmerte, daß sie solchem Unsinn zugänglich schien. Sie las die Sorgen in seinen Augen und blickte wahrscheinlich hierfür wieder dankbar zurück; doch verharrte sie in ihrem Zweifel und sagte nach fernerem Nachdenken:[566]
›Ich muß doch wenigstens wissen, ob andere in dem alten Gemache eine ähnliche Erfahrung machen oder ob es wirklich nur der Rittmeister ist, der etwas sieht. Ich werde den Johann beauftragen, dort eine Nacht zuzubringen.‹
›Der alte Johann‹, sagte Mannelin, ›wird natürlich so viele Geister sehen, als man wünscht oder fürchtet! Wenn Sie einen zuverlässigen Bericht wollen, so lassen Sie die Stube für mich zurechtmachen! Ich will mich in Gottes Namen der kuriosen Aufgabe unterziehen, wenn durchaus etwas geschehen soll!‹
›Sie?‹ rief Hildeburg, ›nein, Sie dürfen es nicht tun! Sie sind mir zu gut dazu! Wenn dennoch etwas an der Sache wäre, so könnte der Eindruck auf Sie gerade ein noch viel stärkerer sein als bei unserm Freunde und Ihnen ernstlich schaden!‹
Mannelin blieb aber bei seinem Vorsatze, und so ließ er sich, als gegen elf Uhr man allerseits schlafen ging, in das Gemach leuchten, in welchem ich die letzte Nacht zugebracht hatte.
›Wollen Sie nicht wenigstens Ihren Degen und die Pistolen mitnehmen?‹ sagte der Diener, der aus dem frühern Zimmer die nötigen Sachen trug und von dem Vorhaben unterrichtet war.
›Nein!‹ antwortete Mannelin; ›gegen Geister würden die Waffen nichts helfen, und wenn allenfalls lebendige Leute einen Unfug treiben, so muß man nicht gleich Blut vergießen!‹
Genug, mein Mannelin befand sich endlich, gleich mir, allein in dem unheimlichen Zimmer. Er ging mit dem Leuchter darin herum, verriegelte die Türe und legte sich halb angekleidet zu Bett, nachdem er den Tisch an dasselbe gerückt. Dann las er eine Stunde oder länger, bis es am Turme Mitternacht schlug. Dann klappte er das Buch zu und horchte noch eine Weile mit offenen Augen. Als aber alles still blieb, wurde ihm das Ding langweilig; er löschte das Licht, legte sich auf die Seite und schlief ein. Kaum hatte er einige Minuten geschlafen, so erfolgte zwar kein Knall wie gestern, allein es klopfte dich hinter ihm an die Wand, ein altes Mütterchen sagte vernehmlich: ›Ja,[567] ja!‹ Der kalte Luftzug strich über sein Gesicht, die Gardinen flatterten, und die Decke flog weg. Und indem Mannelin sich besann, aber ganz ruhig liegenblieb, wie wenn er nichts merkte, sah er schon die alte Kratt in der Mitte des Zimmers gegen die Fensterecke zuschlurfen, wo die Kommode stand und der Mond schien, wie gestern. Er war jetzt doch ziemlich überrascht, und das Herz klopfte ihm bedeutend, weil er die Natur und Tragweite des Abenteuers nicht kannte. Aber wie der Jäger, von einem Tiere überrascht, sein Gewehrschloß schnell in Ordnung bringt, stellte Mannelin geschwind seine Gedanken in eine kleine Reihe, als ob es Polizeileute wären, und sich selbst an ihre Spitze. Ohne sich zu rühren, folgte er der Erscheinung aufmerksam mit den Augen und sah, wie sie an der Kommode tastete und die Klappe öffnete, kurz alles tat, wie ich es gesehen. Als sie nun auf dem Papiere radierte, war er schon leise aufgestanden und ihr auf unhörbaren Socken nachgeschlichen und stand hinter ihrem Rücken. Das grauenhafte buckelige Weibchen kratzte, schabte, keuchte und hustete und blies den Staub weg, kurz, war so geschäftig wie der Teufel, und Mannelin guckte dem Gespenste still über die Schulter, bis es fertig war und sein schändliches heiseres Gelächter aufschlug. Da sagte er plötzlich:
›Na, Frauchen, was treiben Sie denn da?‹
Wie eine Schlange schnellte das Gespenst empor und stand um einen Kopf höher als vorher ihm gegenüber. Mit dem schrecklichen Gesichte starrte sie ihm entgegen; aber schon hatte er die Hand auf ihre Schultern gelegt; dann packte er sie unversehens um die Hüfte, um sie in die Gewalt zu bekommen und die graue Mantille wegzuziehen. Er fühlte einen allerdings schlangenförmigen, aber sehr lebenswarmen Körper, und da sie sich jetzt in seinen Armen hin und her wand und mit dem Leichengesicht nahe kam, faßte er unerschrocken die im Monde glänzende schreckliche Nase und behielt eine abfallende Wachsmaske in der Hand, während Hildeburgs feines Gesicht zu ihm emporlächelte. Leider küßte er es sogleich zu verschiedenen[568] Malen und an verschiedenen Stellen, beschränkte sich aber doch endlich auf den Mund, nachdem derselbe ein unhöfliches: ›Du lieber Kerl!‹ ausgestoßen hatte. Schließlich ließen sie sich auf einen Stuhl nieder, das heißt, Mannelin saß darauf und Hildeburg auf seinen Knien. Ich will nicht untersuchen, ob es nicht anständiger gewesen wäre, wenn sie einen zweiten Stuhl herbeigeholt hätten; die Außerordentlichkeit des Abenteuers und die einsame Nachtstille mögen zur Entschuldigung dienen; ich will nur die Tatsache meines Suppliziums erhärten: alles das wäre mein gewesen, wenn ich in der vorigen Nacht den einfachen Verstand des verfluchten Duckmäusers besessen hätte!
Denn in seinem Arme ruhend, erklärte sie ihm nun den Handel. Sie habe, seit wir beide wieder in ihrer Nähe gewesen, ihre Lage nicht länger ertragen und doch auch nicht zur frühern Entsagung so ohne weiteres zurückkehren mögen, und da sie die unglückliche Doppelliebe längst als eine unwürdige Krankheit erkannt, beschlossen, sich durch gewaltsame Wahl zu heilen. Die Idee der Ausführung sei ihr plötzlich durch das Gerede von der Spukgeschichte gekommen. Demjenigen von uns beiden, welcher dem Gespenste gegenüber den größern Mut erweise, wolle sie sich ergeben und den andern freilassen; denn daß sie uns beide gefangenhalte, habe sie wohl gewußt. Nun habe sich die Verwirrung so klar ausgeschieden, wie wir alle nur wünschen könnten. Ich, der Rittmeister, so brav ich sei, habe der göttlichen Vernunft mankiert im rechten Augenblick; Mannelin sei ihr treu geblieben ohne Wanken, und sie trage ihm daher Herz und Hand an, und so weiter, und so weiter muß ich abermals sagen, um das Unerträgliche nach so viel Jahren noch abzukürzen. Sie wurden in der Nacht noch handelseinig, daß sie heimlich verlobt sein wollten, bis der Augenblick gekommen sei, wo Mannelin bei ihren Eltern um sie werben könne.
Diese artigen Vorgänge wurden mir in einer Geheimsitzung, die zu dritt stattfand, am andern Tage feierlich eröffnet, als ich zum letzten Male hinausritt. Ich hatte ahnungsvoll das raschere[569] Pferd gewählt, da ich jetzt um so unaufhaltsamer wieder davongaloppieren konnte. Vorher mußte ich jedoch mit dem Pärchen den Weg begehen, den Hildeburg als Gespenst gemacht hatte. Ich will nicht weitläufig beschreiben, wie schlau sie alles angestellt; wie sie den Knall einfach dadurch hervorgebracht, daß sie auf dem Boden über dem alten Zimmer einen wackeligen leeren Schrank mittels einer Hebelstange umgestürzt, ihn freilich nachher nicht mehr aufrichten konnte, weshalb auch in der zweiten Nacht die Detonation unterblieb; wie aus einem verborgenen Vorraume das Heizloch eines ehemaligen Ofens in das Zimmer ging und von einem verschiebbaren Felde des Holzgetäfels verdeckt war, das Gespenst aber eben dort durchkriechen und hinter den Bettvorhängen hervorschlüpfen konnte; wie sie die Bettdecke mittels eines Schnurgeschlinges wegziehen konnte, das in den Falten der Gardinen versteckt hing; wie sie den kalten Durchzug verursachte, indem sie im besagten Vorraume ein nach Norden gehendes Fenster sperrweit öffnete, im Zimmer aber schon vorher den obern Flügel eines nach Osten gehenden Fensters aufgetan hatte, so daß im Augenblicke, wo sie das alte Ofenloch frei machte, die Luft durchstrich; wie sie den Charakter der Gespensterrolle mit merkwürdiger Phantasie ausstudiert, und zwar in der größten Schnelligkeit: das erklärte sie uns jetzt Schritt für Schritt, damit ja kein Zweifel übrigblieb, und besonders mich ermahnte sie auf dem Passionswege wiederholt, gewissermaßen bei jeder Station, doch nicht mehr so leichtgläubig zu sein. Dabei hing sie sich zuweilen traulich an meinen Arm, so daß mir nichts übrigblieb, als das Gesicht eines Ideals von Esel dazu zu schneiden und fromme Miene zum bösen Spiel zu machen.
Zum Überflusse mußte auch noch das Traurigste, was es gibt, der Zufall, sein Siegel darauf drücken. Um ganz unparteiisch zu verfahren, hatte das gute Mädchen vorher im stillen das Los gezogen, welchen von den zwei Liebhabern sie zuerst der Prüfung unterwerfen solle; denn, sagte sie, mancher zufällige[570] Umstand konnte auf das Ergebnis von Einfluß sein, die Verschiedenheit des Wetters, der Mondhelle, des körperlichen Befindens und der Gemütsstimmung konnte eine veränderte Urteilskraft bedingen, wie ich denn auch geschehenermaßen am Tage vor meiner Prüfungsnacht mehr Getränke zu mir genommen, als der andere zu seiner Stunde wegen Mangel an Gesellschaft habe tun können, da ich ja fort gewesen sei! Also genau wie beim Pferderennen, wo bis aufs kleinste alles verglichen und abgewogen wird!
Daß durch den Sieg meines Nebenbuhlers trotz des technisch untadelhaften Verfahrens ihren geheimsten Wünschen besser entsprochen worden sei, als wenn ich gesiegt hätte, daran durfte ich schon damals nicht zweifeln. Denn sie schien von Stund an von jeder Last befreit und ungeteilten leichten Herzens zu leben, welches hat, was es wünscht.«
»Das ist die Geschichte von Hildeburgs Männerwahl, bei der ich unterlegen bin«, schloß der Oberst, und rasch gegen Reinhart gewendet sagte er:
»Wissen Sie, wie sie eigentlich hieß? Denn Hildeburg wurde sie nur von Mannelin und mir genannt, wenn wir am dritten Orte von ihr sprachen. Sonst aber hieß sie Else Moorland, später Frau Professorin Reinhart und wird demnach Ihre Frau Mutter sein! Lebt sie noch? Und wie geht's ihr?«
Für erwachsene junge Leute ist es immer eine gewisse Verlegenheit, von den Liebesgeschichten zu hören, welche der Heirat der Eltern vorausgegangen. Die Erzeuger stehen ihnen so hoch, daß sie nur ungern dieselben in der Vorzeit auf den gleichen menschlichen Wegen wandeln sehen, auf denen sie selbst begriffen sind. Auch Reinhart saß jetzt in nicht angenehmer Überraschung und war ganz rot, da die Laune, in welcher er sich seit zwei Tagen bewegte, sich gegen ihn selbst zu kehren schien. Ein paarmal während der Erzählung des alten Herrn hatte es ihm vorkommen wollen, als ob es sich um Bekanntes[571] oder Geahntes handle; doch war das alles vorübergegangen, wie man oft nicht merkt oder nicht erkennt, was einen am nächsten angeht. Zu der seltsamen Entdeckung trat ein noch seltsamerer Eifer der Selbstsucht, als er bedachte, wie nahe die Gefahr gestanden habe, daß ein anderer als sein Vater die Mama bekommen hätte, und was wäre alsdann aus ihm, dem Sohne, geworden? Und was war er jetzt anderes als der Sohn der willkürlichsten Manneswahl einer übermütigen Jungfrau? Nun, Gott sei Dank, war es wenigstens seine Mutter und sein Vater! Es hätte können schlimmer ausfallen! Wie denn schlimmer, du Dummkopf? Gar nicht wäre es dann ausgefallen!
Dergleichen Gedanken fuhren ihm in rascher Folge durch den Sinn, bis er die Augen aufschlug und sah, wie Lucie behaglich in ihrem Gartenstuhle lehnte, die Arme übereinandergelegt, und die Augen in voller Heiterkeit auf ihn gerichtet hielt. Das ganze Gesicht war so heiter wie der Himmel, wenn er vollkommen wolkenlos ist.
»Trösten Sie sich mit dem Evangelium«, sagte sie, »wo es heißt: Ihr habt mich nicht erwählet, sondern ich habe euch erwählet!«
»Schönsten Dank für den Rat!« erwiderte Reinhart, durch den Sonnenschein in ihren Augen zum Lachen verführt; »ich begreife und würdige durchaus die Genugtuung, die Ihnen die Erzählung des Herrn Oberst verschafft! Daß ich in meinem eigenen Papa geschlagen würde, hätte ich allerdings nicht geglaubt!«
»Wie undankbar! Seien Sie doch stolz auf Ihren Herrn Vater, der meinen so vortrefflichen Onkel hier besiegt hat! Wie vortrefflich muß er selbst sein! Ich bin wahrlich ein bißchen verliebt in ihn nur vom Hörensagen! Ist er noch so hübsch blond?«
»Er ist schon lange grau, aber es steht ihm gut.«
»Und die Mutter?« warf jetzt der Oberst dazwischen, »ist sie auch grau, oder noch schwarz und schlank wie dazumal?«[572]
»Dunkelhäuptig ist sie noch und schlank auch, aber nur dem Geiste nach; ich glaube nicht, daß sie jetzt noch durch das Ofenloch und zwischen Bett und Wand hervorschlüpfen könnte.«
»Ich möchte sie doch nochmals sehen und den Mannelin auch«, sagte der Oheim Luciens mit weicher Stimme. »Ich fühle mich ganz versöhnlich und verzuckert im Gemüt!«
»Und mich empfehlen Sie wohl gütigst der Mama, wenn Sie ihr schreiben?« sagte das Fräulein mit einem anmutigen Knicks; »oder werden Sie nichts von Ihrer kleinen Reise und den hiesigen Ereignissen sagen?«
»Ich werde es gewiß nicht unterlassen, schon weil ich trachten muß, den Herren Oberst und vielleicht auch die Nichte mit gutem Glück einmal hinzulocken, wo die Eltern wohnen.«
»Das tun Sie ja! Sie werden auch sicher gelegentlich hören, daß wir unversehens dort gewesen sind, nicht wahr, lieber Onkel?«
»Sobald ich wieder fest auf den Füßen bin«, rief dieser, »werden wir die lang geplante Reise machen und alsdann die alten Freunde im Vorbeigehen aufsuchen.«
»Jetzt fällt mir erst ein«, sagte Reinhart, »daß unser seit mehr als dreißig Jahren neuerbautes Landhaus an der Stelle des alten Gebäudes stehen wird, das die Großeltern Moorland gekauft hatten! Da können Sie auch darin rumoren, wenn Sie kommen, Fräulein Lucie!«
»Sobald ich in zwei Männer zugleich verliebt bin, werde ich mir damit helfen!« erwiderte sie ausweichend, und Reinhart bereute sein unbedachtes Wort; wenn eine feine Seele auf nachtwandlerischem Pfade einer neuen Bestimmung zuschreitet und aus sich selbst freundlich ist, so darf man sie nicht mit zutäppischen Anmutungen aufschrecken.
Der heitere Glanz ihres Gesichtes war zum Teil erloschen, als die kleine Gesellschaft sich jetzt erhob. Reinhart sprach von seiner Abreise, sowohl aus Schicklichkeit als in einer Anwandlung[573] von Kleinmut, und erbat sich Urlaub, um die nötigen Anstalten zu treffen. Der alte Herr widersetzte sich.
»Sie müssen wenigstens noch einen Tag bleiben!« rief er; »an den paar Stunden, die ich mit Ihnen zugebracht, habe ich vorläufig nicht genug, und über das Zukünftige sprechen wir noch weiter. Das unverhoffte Vergnügen, an meine jungen Tage wieder anzuknüpfen, lasse ich mir nicht so leicht vereiteln!«
»So plötzlich wird Herr Reinhart nicht gehen können«, sagte jetzt Lucie; »denn sein Pferd ist in der Frühe mit unsern Pferden auf die Weide hinauf gelaufen und soll dort drollige Sprünge machen. Es kann also heute niemand weder fahren noch reiten bei uns, es müßte denn strenger Befehl ergehen, die Tiere heimzuholen.«
»Nichts da!« versetzte der Oberst; »dem armen Leihpferd ist es auch zu gönnen, wenn es einen guten Tag hat. Jetzt will ich mich für eine Stunde zurückziehen und sehen, ob meine Zeitungen angekommen sind. Soll ich Ihnen auch welche schicken, Sohn Hildeburgs?«
»Zeitungen werden für Ihre angegriffenen Augen schwerlich gut sein«, sagte Lucie, »wenn Sie lesen wollen, so holen Sie sich lieber irgendein altes Buch mit großem Druck, Sie wissen ja wo, und bleiben Sie dort im kühlen Schatten oder gehen Sie damit unter die Bäume! Ich muß jetzt leider ein bißchen nach der Wirtschaft sehen!«
Luciens Sorge für seine Augen, deren Zustand er beinahe selbst vergessen hatte, tat ihm so wohl, daß er sich ohne Widerrede fügte und nach ihrem Bücher- und Arbeitszimmer ging, nachdem die drei Personen sich getrennt. Er griff das erste beste Buch, ohne es anzusehen, von einem Regale herunter, und da es in dem Zimmer ihm nicht ganz geheuer dünkte, begab er sich in den Vexierwald hinaus, durch welchen er hergekommen war. Dort bemächtigte sich seiner immer mehr ein gedrücktes Wesen, das sich zuletzt in dem Seufzer Luft machte: »Wär ich doch in meinen vier Wänden geblieben!« Nicht nur die vernommene[574] Kunde von den ganz ungewöhnlichen Jugendtaten seiner Mutter, die Anwesenheit eines Liebhabers und Rivalen seines Vaters, sondern auch der ungebührlich wachsende Eindruck, den Lucie auf ihn machte, verwirrten und verdüsterten ihm das Gemüt. Das waren ja Teufelsgeschichten! Der Verlust seiner goldenen Freiheit und Unbefangenheit, der im Anzuge war, wollte ihm fast das Herz abdrücken. Man sieht ja, dachte er, welchen Wert sie darauf legen, obenauf zu sein! Da lob ich mir die ruhige Wahl eines stillen, sanften, abhängigen Weibchens, das uns nicht des Verstandes beraubt! Aber freilich, das sind meistens solche, die rot werden, wenn sie küssen, aber nicht lachen! Zum Lachen braucht es immer ein wenig Geist; das Tier lacht nicht!
Auf diese Weise brachte er die Zeit zu, und als er in das Haus zurückkehrte, traf er zum Überflusse die Pfarrfamilie, welche auf Besuch gekommen war, um das Ereignis gerade seiner Erscheinung weiter zu betrachten und nach der Wirkung zu forschen, welche dieselbe unter den großen Platanen am Berge zurückgelassen habe. Das Pfarrerstöchterchen errötete über und über, da er dem Mädchen im blauen Seidenkleidchen die Hand gab, und Lucie, welcher er die Geschichte erzählt hatte, blickte ihn mit heller Schadenfreude an, die aber in ihren Augen so gutartig und schön war, wie in andern Augen das wärmste Wohlwollen. Über diesem Besuche verging der Tag in anhaltendem Geräusch und Gespräch; die Pfarrleute duldeten nicht, daß man sie eine Minute ohne Rede und Antwort ließ oder sich einer Zerstreuung hingab. Da der Oberst sich auf Grund seiner schlechten Gesundheit zeitig unsichtbar machte und Lucie das Töchterlein mehrmals entführte, um ihr allerlei Anpflanzungen zu zeigen, blieb Reinhart zuletzt allein übrig, den Eltern standzuhalten, und als gegen Abend die Familie mit ihrer Kutsche abgefahren war, schien eine Mühle abgestellt zu sein.
»Ich bewundere Ihre Geduld«, sagte Lucie, als sie nun allein waren, »mit der Sie den guten Leuten zugehört und Bescheid gegeben haben.«[575]
»Hab ich denn wirklich so geduldig ausgesehen?« fragte Reinhart verwundert; er hatte nicht das beste Gewissen, weil er die guten Menschen innerlich dahin gewünscht, wo der Pfeffer wächst.
»Vortrefflich haben Sie ausgesehen! Glauben Sie nur, man ist immer etwas besser, als man es Wort haben will! Zur Belohnung sollen Sie eine gute Tasse Tee bekommen und meine Mädchen wieder spinnen sehen! Wein gebe ich Ihnen nicht mehr; denn Sie haben bei Tische schon etwas mehr in den heimlichen Zorn hinein getrunken, als für Ihre Augen gut war.«
»Nun soll ich doch wieder zornig gewesen sein?«
»Ja freilich! Um so rühmlicher ist die nachherige Selbstbeherrschung und Geduld!«
Als es dunkel und der Tee getrunken war, nahmen die Mädchen wirklich ihre Rädchen und spannen noch eine Stunde. Das Schnurren, sowie das zwanglose und friedliche Gespräch, das man zuweilen wie zum Spaße beinahe ausgehen ließ, um es doch gemächlich wieder anzubinden, beruhigten vollends die aufgeregten Geister in Reinharts Brust, so daß er zuletzt sich häuslich mit der Lampe beschäftigte, die nicht hell brennen wollte, und dabei plauderte, indessen Lucie ihm vergnüglich zuschaute.
In guter Laune zog er ab, als alles zu Bett ging, und nahm vermutlich aus Versehen das Buch mit, das er aus Luciens Zimmer geholt und bis jetzt noch nicht aufgeschlagen hatte. Erst auf seinem Gastzimmer tat er es und sah, daß es eine Geschichte von Seefahrten und Eroberungen des siebzehnten Jahrhunderts war. Das Buch mußte seinerzeit fleißig gelesen worden sein, da es zum zweiten Male gebunden worden. Denn viele Blätter klebten von der Farbe des bunten Schnittes zusammen, und als Reinhart zwei solche voneinander löste, lag ein Blättchen altes Papier dazwischen mit vergilbter Schrift bedeckt. An einem Junimorgen des Jahres 1732 schrieb eine Dame in französischer Sprache an eine andere: »Liebste Freundin! Lesen Sie die artige kleine Geschichte, die ich hier angestrichen habe! Guten Tag![576] Ihre getreue Freundin J. Morgens 9 Uhr.« Dies Briefchen mußte der Buchbinder, der den neuen Einband gemacht, nicht gesehen haben, denn es war mit eingebunden und seither von keinem Auge mehr erblickt worden. Daneben war in der Tat eine halbe Seite des Buchtextes mit Rotstein angestrichen, der sich auch auf dem gegenüberliegenden Blatte abgedruckt hatte, so daß Reinhart nicht wußte, welche der beiden bezeichneten Stellen galt. Dennoch wunderte ihn, was an jenem Junimorgen vor hundertundzwanzig oder mehr Jahren die verschollene Dame so pikierte, daß sie das Buch der Freundin schickte. Er las daher auf beiden Seiten und fand eine allerdings seltsame Heiratsanekdote, die ohne Zweifel das war, was die zwei Damen beschäftigt hatte. Das Histörchen gefiel auch Reinharten, und weil er doch keinen Schlaf verspürte, spann und malte er den größten Teil der Nacht hindurch das Geschichtchen aus und nahm sich vor, es vorzutragen, sofern nochmals eine Erzählerei stattfinden sollte. Es schien ihm nämlich prächtig zur Abwehr gegen die Überhebung des ebenbürtigen Frauengeschlechts zu taugen.
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