Waldvöglein

[263] Waldvöglein zwitschert im Walde allein:

Werden wir niemals gleichgestellt sein

Jenen, die wir durch Lieder erfreu'n,

Und von all ihren Sorgen zerstreu'n?


Horch, aus Gebüsch und Blütenflor

Tönet hervor ein lustiger Chor:

Meinest Du etwa das Menschengeschlecht,

Ewig unmenschlich und ungerecht? –


Ach, nicht unsre Lieder bei Tag und Nacht,

Ach, nicht unsre Schönheitund Farbenpracht,

Keinerlei bricht seinen Uebermut,

Lechzend immer nach Fleisch und nach Blut!


Waldvöglein zittert, leise es weint,

Abendsonne es golden bescheint,

Plötzlich ruft es: Menschengeschlecht,

Jedes Geschöpf hat des Lebens Recht! –

Quelle:
Friederike Kempner: Gedichte. Berlin 81903, S. CCLXIII263-CCLXIV264.
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