Trinklied im Juni

[32] Was duftet von des Berges Haupt

So tief ins Tal hinab?

Die Rebe ist's, die neubelaubt

Sich blühend hebt am Stab.


Was regt sich in des Hauses Grund,

In den Gewölben tief?

Der Wein ist's, der in Fasses Rund

Schon längst gebunden schlief.


Die Blüte hat ihn aufgeregt,

Der Duft im Heimatland,

Daß er, von Sehnsucht tiefbewegt,

Will sprengen jetzt sein Band.[32]


Zwingherren, Freunde, sind wir nicht,

Bringt die Pokale her!

Und laßt den Armen jetzt ans Licht,

Wie er es wünscht so sehr!


Und singend hebt dem Berge zu

Den schäumenden Pokal:

»Befreier, siehst die Heimat du

In Duft und Sonnenstrahl?«


Seht, wie mit tausend Augen er

Die Heimat schaut entzückt,

Aus der die Rebe blütenschwer

Ihm in die Augen blickt!


Er braust, er singt: »Willkommen du,

O Heimat voller Licht!

Und jetzt, ihr Lieben! trinkt nur zu!

Ich bin der letzte nicht!«


Du edler Saft! du dringst mit Macht

Uns in das Herz hinein!

Wohlan! stoßt an! du sollst gebracht

Der teuren Heimat sein!


Und dem, der irrt am fremden Strand,

Und dem in Kerkernot,

Daß ihm erschein' sein Heimatland

Wie dir noch vor dem Tod.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 32-33.
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