Episteln

[36] Andreas an Anna.


1.

Liebes Mädchen! sahst du nicht, wie gestern

Ich auf hohem Berge lang gelegen,

Blickend auf das weiße Kreuz im Tale,

Das die Flügel deines Fensters bilden!


Glaubt' ich schon, du kämst durchs Tal gewandelt,

Sprang ich auf, da war's ein weißes Blümlein,

Das sich täuschend mir vors Auge stellte.


Lange harrt' ich, aber endlich breiten

Auseinander sich des Fensters Flügel,

Und an seinem weißen Kreuze stehst du,

Berg und Tal ein stiller Friedensengel.


Vöglein ziehen nah an dir vorüber,

Täublein sitzen auf dem nahen Dache,

Kommt der Mond, und kommen alle Sterne,

Blicken all dir keck ins blaue Auge.


Steh' ich einsam, einsam in der Ferne,

Habe keine Flügel hinzufliegen,

Habe keine Strahlen hinzusenden,

Steh' ich einsam, einsam in der Ferne!


Gehst du, sprech' ich mit verhaltnen Tränen:

»Ruhet süß, ihr lieben, lieben Augen!

Ruhet süß, ihr weißen, weißen Lilgen!

Ruhet süß, ihr lieben, lieben Hände!«


Sprachen's nach die Sterne an dem Himmel,

Sprachen's nach die Blumen in dem Tale.

Weh! o weh! du hast es nicht vernommen!


2.

[36] Sage mir, mein liebes Mädchen:

Was bedeutet dieser Traum?


Vor dem Fenster meiner Zelle

Steht halbwelk ein Rosmarin.

Träumte mir: es sei aus ihm heut

Schnell ein Rosenstock gesprossen,

Voll der düftereichsten Rosen,

Hätt' sich auch ein Lorbeer grünend

Um den Rosenstock gewunden.


»Rosmarin ist Wehmut, Trennung,

Rosen deuten Lieb' und Freude,

Lorbeer deutet Ruhm und Sieg.«


Darum fülle, blaues Auge!

Dich fortan nicht mehr mit Tränen,

Laß allein mein dunkles Auge

Still umwölkt in Tränen stehn.


Darum blicke, blaues Auge!

Nimmer trübe an den Himmel,

Sieh! sonst blickt er wieder trüb.


Und wohin kann ich noch schauen

Als gen Himmel, wenn ich nimmer

In dein Auge schauen kann?


3.

Blick' aus deinem Fenster, Liebe!

Schaue über die blauen Berge:

Denn dort will ich an den Himmel

Dir ein licht' Gemälde malen.


Steigen aus der Näh' und Ferne

Hohe Berge an den Himmel,

Stürzen helle, kühle Quellen

In ein blumicht, grünes Tal.


Stützt der Wanderer im Tale

Auf den Stab sich, einzuatmen

Jugend, Freiheit, Liebe, Kraft.


Steht gelehnt an einen Felsen,

Unter Laub und Rebenblüte

Dort ein kleines Haus verborgen,

Steh' ich vor dem kleinen Haus.[37]


Kommt vom Bache, Kräuter tragend,

Dort ein liebes, junges Wesen,

Bist du es – die Meine längst.


Ist kein Lauscher mehr zu fürchten,

Drück' ich dich, du süßes Wesen!

An ein treues Herz voll Liebe,

Offen vor des Himmels Aug'.


Aber weh! o wehe, Mädchen!

Siehst du dort nicht jenen Raben?

Ächzend fliegt er durch den Himmel

Und verlöscht mit schwarzem Fittich

Mein Gemälde, weh! o weh!


4.

Bin ich wie ein Kind, das seine Mutter

Erst verloren, weinend in der Nacht steht:

Sieh! so bin ich, seit ich fern gezogen.


Stund im Traum' ich heut auf unserm Berge,

Blick' ich in das tiefe Tal hernieder.

Such' dein Haus ich, aber find' es nimmer.


Seh' ich eine einsame Kapelle

Auf der Stelle, wo's gestanden, stehen,

Tret' ich in die heilige Kapelle.


Hallet lange jeder meiner Tritte

Im verlassenen Gewölbe wieder;

Blicken ernst und fragend mich die heil'gen

Bilder an von den geweihten Wänden.


Tret' ich vor den Hochaltar zu beten,

Knieest du in einem weißen Kleide

Bleich auf schwarzem Teppich am Altare,

Lilien und Tulpen um dich her.


Steht der Rosenstock zu deinen Füßen,

Blütenreich vom Lorbeer schön umwunden,

Kehr' ich nie aus der Kapelle wieder.


5.

Nicht im Tale der süßen Heimat,

Beim Gemurmel der Silberquelle –

Bleich getragen aus dem Schlachtfeld

Denk' ich dein, du süßes Leben![38]


All die Freunde sind gefallen,

Sollt' ich weilen hier der eine?

Nein! schon naht der bleiche Bote,

Der mich leitet zur süßen Heimat.


Flecht ins Haar den Kranz der Hochzeit,

Halt bereit die Brautgewande

Und die vollen, duft'gen Schalen:

Denn wir kehren alle wieder

In das Tal der süßen Heimat.


6.

Anna


Komm, Bräut'gam! kommt, ihr Gäste!

Schon steht im Hochzeitkleid

Die bleiche Braut bereit,

Erwartend euch zum Feste.


Herbei! herbei! zum Tanz

Die bleiche Braut zu führen, –

Seht! ihre Haare zieren

So Ros' als Lilienkranz.


So Mond und Sterne kränzen

Lichtvoll das dunkle Tal,

Lampen im Hochzeitsaal,

Die Leichensteine glänzen.


Und weil nach Tanz und Lauf

Der Ruh' wir nötig hätten; –

Schloß ich zu Schlummerstätten

Die stillen Gräber auf.


Seht! eure Betten kränzet

Der Rosen stolze Art,

Doch eine Lilie zart

Am Bett der Braut erglänzet.


Die Hochzeit ist bereit,

Komm, Bräut'gam! kommt, ihr Gäste!

Es öffnen sich zum Feste

Die schwarzen Tore weit!

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 36-39.
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