Stirb, Lieb' und Freud'!

[60] Zu Augsburg steht ein hohes Haus

Nah bei dem alten Dom,

Da tritt an hellem Morgen aus

Ein Mägdelein gar fromm;

Gesang erschallt,

Zum Dome wallt

Die liebe Gestalt.


Dort vor Mariä heilig Bild

Sie betend niederkniet,

Der Himmel hat ihr Herz erfüllt,

Und alle Weltlust flieht:

»O Jungfrau rein!

Laß mich allein

Dein eigen sein!«


Alsbald der Glocke dumpfer Klang

Die Betenden erweckt.

Das Mägdlein wallt die Hall' entlang,

Es weiß nicht, was es trägt;

Auf dem Haupte, ganz

Von Himmelsglanz,

Einen Liljenkranz.


Mit Staunen sehen all die Leut'

Dies Kränzlein licht im Haar,

Das Mägdlein aber wallt nicht weit,

Tritt vor den Hochaltar:

»Zur Nonne weiht

Mich arme Maid!

Stirb, Lieb' und Freud'!«


Gott, gib, daß dieses Mägdelein

Ihr Kränzlein friedlich trag'!

Es ist die Allerliebste mein,

Bleibt's bis zum jüngsten Tag.

Sie weiß es nicht. –

Mein Herz zerbricht

Stirb, Lieb' und Licht!

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 60-61.
Lizenz:
Kategorien: