Die Stiftung des Frauenklosters Lichtenstern

[73] Zu Weinsberg steht ein Hügel,

Der grauer Vorzeit Trümmer trägt,

In denen Westhauchs Flügel

In stiller Nacht die Harfe schlägt.


Hörst du dies fremde Klingen

Vom Berge durch die Rebenflur,

Fragst du: Woher dies Singen?

Singt ihren Kummer die Natur?


Ich Armer, halb erblindet,

Saß jüngst dort auf bemoostem Stein,

Da hat der Klang entzündet

Im Innern mir den hellsten Schein.


Ja, dank dem Traumgesichte,

So mir die äußre Nacht zerstreut!

In mir im hellsten Lichte

Steht dieses Berges alte Zeit.


Da ragen hohe Türme,

Da steht ein langes Ritterhaus,

Ringmauern, fels'ge Schirme,

Die blicken stolz das Tal hinaus.[73]


Da reiten kühne Ritter

Durchs Eisentor im Kleid von Stahl;

Doch aus Verließes Gitter

Statt Harfenlaut tönt Laut der Qual.


Und in der Burgkapelle,

Da kniet in tiefer Finsternis,

Beraubt der Augenhelle,

Die fromme Gräfin Luitgardis.


Sie spricht und Tränen flossen:

»Bekränzt hat heut mein Kind dein Bild

Mit Lilien und Rosen,

O Mutter Gottes, reich und mild!


Nur einmal noch laß sehen

Den Gatten mich, das süße Kind!

Dann werd' ich, soll's geschehen

Nach Gottes Rat, gern wieder blind.«


Lang fleht sie so in Nächten,

Bis draußen auch erstirbt das Licht;

Als plötzlich ihr zur Rechten

Maria strahlend steht und spricht:


»O Menschenleid! hast Grenzen!

Dir werde mehr, als du gefleht!

Blick' auf! und sieh erglänzen

Den Stern, der licht gen Morgen steht!«


Das Fenster der Kapelle

Aufwehet Paradiesesduft;

Auf blickt die Gräfin helle

Und sieht den Stern in blauer Luft;


Sieht hoch aus goldnen Lüften

Die Mutter Gottes lächeln mild;

Ein wundersüßes Düften

Ringsum das Rebental erfüllt.


Des Dankes Tränen flossen

Aus Augen klar, nie wieder blind,

Auf des Altares Rosen,

Und die der Lust auf Mann und Kind.


Und dort, wo sie erschaute

Den lichten Stern am Walde fern,

Ein Kloster sie erbaute,

Das hieß zum Dank sie: Lichtenstern.[74]


Die Glocken hör' ich klingen,

Hör' in des Chores Heiligtum

Viel zarte Stimmen singen:

»Der Mutter Gottes Preis und Ruhm!« –


Des innern Schauens Schimmer

Ungern aus meiner Seele schwand.

Da lag die Burg in Trümmer,

Und die Kapelle nicht mehr stand;


Und wehmutsvoll aus Mauern

Klang mir der Äolsharfe Laut,

Als hätt' Natur zum Trauern

Sich ein Asyl hier aufgebaut


Ich rief: »O du Kapelle!

Zeig' mir von dir noch einen Stein!

Um meiner Augen Helle

Soll heiß auf ihm gebetet sein.


Und du, Maria, Reine!

Kommt's, daß mein Auge decket Nacht,

Hier mir in Lieb' erscheine

Und zeig' mir eines Sternes Pracht!


Kein Kloster kann ich bauen;

Doch, Mutter Gottes! mein Gesang

Soll tönen lieben Frauen

Zum Preis und Ruhm mein Leben lang!«

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 73-75.
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