Der Stephansturm

[76] 1809.


Lichtvoll die Herde gehet

Auf blauer Himmelshöh',

Einsam der Hirte stehet

Und klagt der Nacht sein Weh.


Also den alten Kummer

Singst du, o Riesengeist!

Indes der träge Schlummer

Die lasse Welt umfleußt.[76]


O schönste Zeit der Erde,

Wo ich einst, gut und recht,

Geführt die fromme Herde,

Ein kindlich treu Geschlecht!


Da heil'ge Lieder schallten

Ernst durch mein Gotteshaus,

Fürsten und Helden wallten

Demütig ein und aus.


Da Männer kräftig thronten

Im deutschen Kaisersaal,

Da Treu' und Recht noch wohnten

Unten im Erdental.


Sittsame Fraun, ihr lieben!

Ihr Helden, stark und groß –

Herde, die treu geblieben, –

Du schläfst in meinem Schoß!


Doch, was jetzt unten schleichet,

Blinzelnd im Sonnenlicht,

Ihr Knechte, von mir weichet!

Bin euer Hirte nicht!


Mich haben die Stern' erkoren

Zu ihrem Hirten gut,

Seit ihr euch selbst verloren

In eurem Frevelmut!


Also von hohen Zinnen

Der Geist des Turmes sang,

Die Sterne zogen von hinnen,

Der Vogel sich aufschwang,


Die Sonne stieg aus den Tiefen,

Der Turm, der stand gar stumm,

Zu seinen Füßen liefen

Die kleinen Menschlein herum.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 76-77.
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