Der Rosenstrauch

[121] Bei Winters Frost in Kluft und Wald

Sich Kaiser Karl verloren,

Die Diener treu, die liegen bald

Rings um den Herrn erfroren.[121]


Er knieet hin auf kalten Stein,

Legt ab die güldnen Ketten,

Legt ab den Purpurmantel sein

Und tät demütig beten.


Ach, weh! ach, weh! der Rosenkranz

Der starren Hand entsinket,

Doch als er sinkt, wie Sonnenglanz

Er auf der Erde blinket.


Ein Rosenstock schnell aus ihm sproß,

Tät über Eichen steigen,

Ein süßes Duften sich ergoß

Aus seinen Blüten, Zweigen.


Auch rings, so weit sein Duft gereicht,

Die Bäume grünend prangen,

Die Vögel sich mit Singen leicht

Wohl durch die Lüfte schwangen.


Durch Wald und Kluft die Sonne hell

Mit mildem Glanz geschienen,

Die Knappen treu erstehen schnell,

Den Herren zu bedienen.


Und wo den Rosenstock man schaut

Auf der geweihten Stelle,

Zur Andacht ward gar wohl erbaut

Eine heilige Kapelle.


Ein Rosenkranz umfängt sie bald,

Untern Altar die Wurzeln dringen.

Da innen Chor und Orgel schallt,

Da draußen die Vögel singen.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 121-122.
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