Erste Vorstellung.

[32] Ich hatte nicht nötig, hinter dem Vorhange zu schnarchen, der Chemikus und der Antiquarius Haselhuhn schnarchten schon längst ganz entsetzlich; die Redaktionen aller Morgen-, Mittag-, Abend- und Nachtblätter schnarchten, und die Pferde schlichen halbschlummernd mit dem Wagen durchs Heidekraut. Wir waren in einem weiten Tale angekommen; der Mond schien ganz wundersam hell. Es war eine herrliche, romantische Gegend.

Ich sah durch das Wagenfenster; da sah ich, daß die Zwerglein sich aus ihren Kästen geschlichen: denn es lief auf jedem Rade eines, das blies mit einem silbernen Horne ins Tal hinaus. Von diesem Schall erwachten Haselhuhn und der Chemikus und entschlossen sich, ein wenig zu Fuße zu gehen. Ich und die Studenten aber waren recht erfreut über die wundersamen Gestalten da außen.

Der Mond stieg immer heller und voller über die Berge. Da ersah ich plötzlich, wie ein Reiter auf einem weißen, dürren[32] Gaule einhergeritten kam; der alte Gaul war gar seltsam mit Blumen umhängt, der Reiter aber hatte ein langes weißes Tuch im sonderbarsten Faltenwurf um sich geschlungen und eine hohe Lilie in der Hand.

Ich erkannte alsbald in ihm den wahnsinnigen Dichter Holder.

Mit wildem Singen kam er durchs Tal her, die Zwerge schlichen furchtsam wieder in ihre Kästen.

Als er sich dem Wagen gegenüber befand und mich erblickte, sprang er mit einem wilden Schrei vom Pferde durchs Wagenfenster herein und fing an mit Küssen auf uns loszustürmen. Die Studenten, so ihn gar nicht kannten, suchten ihn von sich abzuwehren, Holder aber drang immer heftiger auf sie ein.

Es entstand ein allgemeiner Tumult; die Postknechte erwachten, und die Pferde, besonders vom vorübersprengenden Pferde Holders scheu gemacht, fingen aus allen Leibeskräften zu laufen an.

Vergebens schrie ich: »Es sind noch zwei zurück!« Der Wagen hatte schon einen zu großen Vorsprung gemacht.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 32-33.
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