Neuntes Kapitel.

[24] Schwarz und wundersam stand das Schloß von Kastell auf einer abgesonderten Berghöhe, hoch über das weite Tal ragend, mit Türmen, von denen wie von hohen Mastbäumen lange Wimpel in die Luft flatterten. Es war dieses Schloß auch seltsam, ganz in Gestalt eines Schiffes gebaut und trug aus uralter Zeit viele in Stein gehauene Bilder von Meerfrauen und rätselhaften Seeungetümen. Zwei Linden von unsäglichem Alter, die ihre schwarzen Arme weit in den hellen[24] Himmel hinhielten, standen vor den Toren des Schlosses gleichsam wie riesige Wächter.

Der Graf, welcher das Schloß bewohnte, war ein Mann in den mittleren Jahren. Einst hatte er auf der See gedient; eine erhaltene Wunde aber machte ihn des Dienstes unfähig, und er zog sich auf die Burg seiner Väter zurück. Jetzt trat er mit Serpentin in das Schloß ein. Schon war Luchs daselbst angekommen und ging dem Grafen freudig entgegen. Dieser umarmte in ihm einen längst erwarteten Bekannten. Er hatte die Gäste in seinen Familiensaal geführt. Hier waren die Bilder seiner Ahnen, mehrere in verschiedenen Epochen ihres Lebens aufgestellt; es war ein kräftiger Menschenstamm. Serpentin zog vor allen das Bild eines Kindes an. Es war ein Knabe von unbeschreiblicher Lieblichkeit und Zartheit. Er saß am Gestade des Meeres unter bunten Muscheln und spielte mit einer Schildkröte. Lüfte, wohl von duftvollen Eilanden, schienen in seinen goldenen Locken zu wehen. Seine großen blauen Augen waren voll Anmut und Klarheit. Im Hintergrunde des Bildes zeigte sich das Meer, darob ein klarer Morgenhimmel. »Dieser Knabe«, sprach der Graf, »steht hier als Mann.« Serpentin wandte seinen Blick nach dem größeren Gemälde. Es war das Bild eines kecken Seemanns. Sein blaues Auge wie die ruhige See zeugte von Tiefe und Kraft. Seine Stirne war breit und frei, und das auf ihr gescheitelte braune Haar hing in langen Locken hernieder. Auch hier war ihm wieder eine Schildkröte beigegeben. Im Hintergrunde des Bildes erblickte man ein Schiff, das in stürmender See vor Anker lag.

»Diese Schildkröte«, sprach der Graf, »soll bei hundert Jahre und mehr in unsrer Familie lebend gewesen sein; wir erblicken sie noch auf einigen Abbildungen meiner Vorfahren, die alle zur See dienten.« – »O du beneidenswertes, sorgloses Geschöpf,« sagte Luchs, »Zentnerlasten gehen über dich hin, wie ruhst du so sicher noch lebend unter deiner Schale, harmlos, wie der arme Mensch erst unter dem Sargdeckel!«

Der Graf hatte sich in dem erleuchteten Saale mit Luchs und Serpentin zur Abendtafel gesetzt.

Bei Gelegenheit einiger Früchte, die ihm gereicht wurden, sprach Luchs: »Nur eine schwache Erinnerung haben wir jetzt noch von der Lust, die uns in früher Kindheit das Essen eines Apfels, einer Kirsche, eines Stückleins Brot verursachte. Als wir noch keine so fleischfressenden Tiere waren, da wir noch mehr von Kraut und Früchten lebten, da war es auch noch[25] anders, noch harmloser in uns, so harmlos wie dem grasfressenden Tiere, das geruhig auf dem großen, grünen Teller der Wiese weidet, das nur eine Miene machen kann, weil es keine andere zu machen bedarf als die, welche die größte Ruhe und Harmlosigkeit ausdrückt. Seit wir auf eigenen Füßen gehen, seit wir unsrer Mutter, der Erde, entwöhnt sind, will uns, was so ganz von ihr genommen ist, wie Kraut, Frucht und Brot, nicht mehr so munden. Nur das Weib, das stets treue Kind der Erde, verbleibt gerne bei der Kost, die die Mutter reicht; wir aber streben nach einer ihr fremden, fleischigen Kost mit Beil und Geschoß, bis wir im Alter, zu Kindern geworden, wieder der Muttererde uns nähern; da labt uns wieder Kraut und Obst wie in der Kindheit, und endlich legen wir uns selbst, ein Samenkorn, in ihren Schoß, wo es uns freilich am allerharmlosesten wird.«

Serpentin saß gerade dem Bilde jenes Seemannes gegenüber. Ein Kronleuchter erhellte das Bild.

Während die andern in solchen ihm gleichgültigen Gesprächen begriffen waren, hatte er es öfters unwillkürlich scharf in das Auge gefaßt.

Jetzt hatte er gerade wieder seinen Blick fest darauf gerichtet, es schien ihn mit so wundersamen bekannten Augen anzublicken und dieselben nicht von ihm zu lassen; da stürzte das Bild plötzlich, ohne eine sichtbare Berührung erhalten zu haben, mit einem dumpfen Schlag von der Wand hernieder.

»Schade, daß dieser Mann schon vor fünfzig Jahren gestorben, es müßte gewiß seinen Tod bedeuten«, sprach der Graf.

»Wer weiß,« sprach Luchs, halb scherzend, halb im Ernste, »ob mit dem Manne nicht gerade in diesem Moment eine wichtige Veränderung in einem andern Leben, in welchem wir ihn anzunehmen haben, vorging? Es ist bekannt, daß, wenn die Reben blühen, der Wein sich im Fasse rührt; allein nicht so bekannt ist die gewisse Beobachtung, daß die Weine aus den verschiedenen Weinbergen sich in ihren Bewegungen gänzlich nach der verschiedenen Blütezeit der verschiedenen Berge, von denen sie genommen sind, richten. Was geschieht mit einem Weine, dessen Weinberg ausgerottet wurde? Gewiß hat er auch Ahnung davon. Sollten wir weniger Ahnung von bedeutenden Schicksalen, von dem Tode anverwandter teurer Personen haben, von denen wir so ganz genommen sind wie die Traube von der Rebe?«

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 24-26.
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