Zweites Kapitel

[49] Der Menschenkenner wird mich begreifen, wenn ich gestehe, daß ich meine Brust etwas erleichtert fühlte, als die schreckliche Trennung von den Meinigen vorüber war, als der Wagen immer schneller dahinrollte und jeder Augenblick mich weiter von ihnen entfernte. Ich konnte wieder einen Blick in die Zukunft werfen: sie hatte bis jetzt noch nichts Schreckliches für mich. Eine Untersuchung in Petersburg, eine Prüfung meiner unschuldigen Papiere, meines schuldlosen Lebenswandels, vor einem gerechten Monarchen, der nicht ungehört richtet: was war das mehr, was konnte mir widerfahren? Einige Unannehmlichkeiten vielleicht und Mangel an Kenntnis der russischen Sprache konnten mich hier und da in Verlegenheit setzen. Aber, dachte ich, man wird mir einen Dolmetscher geben. Ich muß vielleicht einige Wochen lang den gewohnten Bequemlichkeiten entsagen; nun, das ist ja kein großes Unglück. Die Ausbrüche einer chronischen Krankheit, die mich seit zwölf Jahren martert, können heftiger werden; aber auch in Petersburg gibt es ja wackere Ärzte. Welche Ursache hatte ich denn also, mich unglücklich zu schätzen? Es war freilich ein unangenehmer, doch aller möglichen Wahrscheinlichkeit nach bloß ein vorübergehender Zufall. Ich fuhr in einem bequemen Wagen nach Petersburg; ich würde dort, hoffte ich, meine beiden Söhne, meine Freunde wiedersehen: das war ja ohnehin einer von den Zwecken meiner Reise. Freilich wurde sie mir nun etwas kostspieliger, als ich geglaubt hatte; aber am Gelde hing mein Herz nie. So gaben alle diese Betrachtungen mir nach und nach meine völlige Ruhe wieder.[50] Daß der menschenfreundliche Gouverneur von Kurland während meiner kurzen Abwesenheit für die Meinigen Sorge tragen würde, hatte er mir ja versprochen, und sein Herz war mir Bürge für sein Wort. Daß diese Hoffnung mich täuschte, wird leider die Folge lehren.

Riga ist von Mitau nur sieben kleine Meilen entfernt. Es war schon dunkel, als wir die Ufer der Düna erreichten, an welcher diese schöne, gastfreie Stadt liegt. Wegen hohen Wassers war die Schiffbrücke noch nicht wieder hergestellt, und es dauerte mehrere Stunden, ehe wir übergeschifft wurden. Um Mitternacht erreichten wir das Tor, wo der Kurier abstieg und sehr lange im Wachthause verweilte, ohne daß ich etwas Arges daraus hatte. Vom Tore fuhren wir, ohne die eigentliche Stadt zu berühren, durch enge, winkelige Straßen nach der Posthalterei und erhielten sogleich frische Kurierpferde. Unser Postpaß (Podoroschne) versicherte uns deren drei auf kaiserliche Rechnung. Meistenteils spannte man uns noch eins mehr unentgeldlich vor; wo aber die Posthalter sich weigerten, es zu tun, und auf die Postordnung trotzten, da mußte ich das vierte aus meiner Börse bezahlen.

Es war gegen ein oder zwei Uhr, in einer sehr kühlen Nacht, als wir Riga verließen. Die erschöpfte Natur forderte ihr Recht. Ich wurde sehr schläfrig, ließ das Fenster nieder, drückte mich in die Ecke des Wagens und schlummerte ein. Auf der ersten Station erwachte ich wohl und sah, daß es Tag geworden war, bekümmerte mich aber weiter um nichts, sondern versuchte, die Augen aufs neue zu schließen.

Doch welcher Pinsel malt mein Erstaunen, meinen Schrecken, als ich etwa eine Stunde nachher mich ermunterte[51] und gewahr wurde, daß wir keineswegs auf der mir wohlbekannten Petersburgischen Landstraße, sondern auf einer andern großen, mir völlig fremden Straße immer längs der Düna hinfuhren! Ich hatte kaum so viel Gewalt über mich, einen lauten Schrei zurückzuhalten. Eine Art von Instinkt gebot mir indes, zu schweigen und mich zu verstellen. Was in mir vorging, ist unbeschreiblich. Wohin führt man mich? Was hat man mit mir vor? Wo will man meine Papiere untersuchen und wer hat den Auftrag dazu? Das waren die Fragen, die ewig mein Gehirn durchkreuzten. Denn daß man mich ohne alle Untersuchung in die weite Welt schleppen würde, kam mir wahrlich noch immer nicht in den Sinn.

Als wir auf der Station ankamen, verlangte ich Kaffee, um nur etwas Zeit zu gewinnen. Der Kaffee wurde sogleich bestellt, und ich ging unterdessen in einer grausamen Gemütszerrüttung im Zimmer auf und nieder. Der Hofrat unterhielt sich draußen beim Wagen mit dem Posthalter. Der Kurier stand am Fenster, beobachtete ihn und sagte plötzlich verstohlen zu mir: »Fedor Carlowitsch!« – so nannte man mich nach russischer Gewohnheit – »wir reisen nicht nach Petersburg; wir reisen weiter.« Kaum hatte ich den Atem zu fragen: »Wohin?« – »Nach Tobolsk.« – Kaum hielt ich mich auf den Füßen. Es war kein Nerv in meinem Körper, der nicht erschüttert wurde. »Können Sie Russisch lesen?« fuhr er fort, indem er stets ein Auge auf den Hofrat hatte. »Ja.« – »Nun so lesen Sie hier die Podoroschne.« Ich las:

Auf Befehl Sr. Kaiserlichen Majestät usw. von Mitau nach Tobolsk, Herr Hofrat Schtschekatichin mit einem bei sich Habenden (so ist der russische Ausdruck), begleitet[52] von einem Senatskurier, in Krongeschäften usw. Ich selbst kann mir meine damalige Empfindung nicht mehr vergegenwärtigen; ich war vernichtet. – »Gern«, sagte der Kurier, »hätte ich Ihnen das schon in Mitau zugeflistert; aber wir wurden zu sehr beobachtet. Sie dauerten mich gleich, als ich Ihre Familie sah; denn auch ich habe Frau und Kinder.« Ich dankte ihm mit halben Worten. Er bat mich, ja den Hofrat nicht merken zu lassen, daß er mir das Ziel der Reise verraten habe; denn der sei ein harter, schlechter Mensch. Ich beruhigte ihn.

Der Hofrat trat wieder herein. Zum Glück verstand er sich ebenso wenig auf Menschengesichter als auf Kuckuckseier; sonst hätte er durchaus die Totenblässe meiner Wangen und das krampfhafte Zittern meines ganzen Körpers bemerken müssen. Er trank ein Glas Branntwein und bemerkte nichts. Der Kaffee wurde gebracht. Natürlicherweise war es mir unmöglich, einen Tropfen zu trinken. Ich schützte Unpäßlichkeit vor – ach, ich war mehr als unpäßlich! Ich bezahlte den Kaffee, und der Hofrat trank ihn aus.

Wir fuhren weiter. Das Rütteln des Wagens gab mir wieder einige Besinnung; und jetzt erwachte bei mir der erste Gedanke an Flucht. »Nach Sibirien führt man mich«, so sagte ich zu mir selbst, »ohne Verhör, ohne Untersuchung, ohne Urteil und Recht, ja, ohne daß man es auch nur der Mühe wert findet, mir zu sagen, warum? Das ist zu arg! Das kann der gerechte Kaiser unmöglich wissen oder man hat ihn auf das gröbste hintergangen. Meine Papiere sind also nicht die Ursache meiner Verhaftung; denn sonst würde man sie ja vorher untersucht haben, ehe man mir die gräßlichste aller Strafen zuerkannt[53] hätte. Es muß also eine andere schwere Anklage gegen mich vorhanden sein, die irgendein niederträchtiger Verleumder dem Kaiser als bereits erwiesen vorgestellt hat; und um nicht als ein Verleumder mit Schande zu bestehen, hat er, ohne weitere Untersuchung, meine Verbannung bewirkt. In Sibirien bin ich lebendig begraben; aus Sibirien erschallt meine Stimme nicht bis an die Ufer des Baltischen Meeres: von dort aus kann ich mich nicht verteidigen; und dürfte ich es auch, so wüßte ich ja nicht einmal, wogegen. Es bleibt mir also nichts andres übrig als die Flucht.«

Dieser Gedanke stand fest in mir und wurde nach und nach zum Entschlusse.

Vor der nächsten Station, Kokenhusen, liegen auf einem Hügel an der Düna die malerischen Ruinen einer alten Burg. Sie sind noch jetzt von großem Umfange und waren ehemals, wenn ich nicht irre, die wohlbefestigte Residenz eines Livischen Fürsten, der sich hier sehr lange gegen das christliche Raubgesindel wehrte und sich endlich mit seinen Untertanen daselbst taufen ließ. Der Anblick dieser Ruinen erweckte in mir die erste dunkle Idee, mich unter dem alten Gemäuer zu verbergen und lieber dort zu verhungern, als mich ohne Urteil und Recht nach Sibirien schleppen zu lassen. Zu dieser Idee gesellte sich noch eine dunkle Erinnerung, daß das jetzige Landgut Kokenhusen einem Baron von Löwenstern zugehöre, den ich vor drei Jahren in Leipzig als einen sehr edlen Mann hatte kennen lernen und der mir schon vorher durch den Ruf als solcher bekannt gewesen war. Im höchsten Notfalle, dachte ich, entdeckst du dich dem; er wird dich nicht ausliefern.

Jetzt hielten wir vor dem Posthause. Ich beobachtete die[54] Gesichter des Posthalters und seiner ganzen Familie; nach ihren Physiognomien zu urteilen, waren diese Menschen wahrscheinlich gut und mitleidig. Während des Anspannens benutzte ich jeden Augenblick, wenn der Hofrat sich ein wenig entfernte, um in deutscher Sprache allerlei Erkundigungen einzuziehen:

»Wem gehört das Gut?«

»Dem Baron Löwenstern.«

»Wo ist das Wohnhaus?«

»Dort.« – Man zeigte es mir in einer kleinen Entfernung.

»Ist er jetzt hier?«

»Nein; er ist bei seinem Schwiegervater, vierzehn Werste von hier, auf Stockmannshof.«

»Ist auch seine Familie dort?« Ich kannte seine Gattin als eine der vortrefflichsten Frauen und seine Kinder als ihrer Eltern würdig.

»Ja.«

»Liegt Stockmannshof an der Landstraße?«

»Ja; Sie fahren vorbei.«

»Wie weit ist Dorpat von hier?«

»Ungefähr sechzehn Meilen.«

Mehr konnte ich nicht fragen; die Pferde waren vorgespannt, und wir fuhren ab. Als wir etwa sechs Werste zurückgelegt hatten, ereignete sich ein Zufall, der mir sehr willkommen war. Eins unserer Pferde wurde stätisch und ging nicht von der Stelle. Der Postillion, ein Lette, tat vergebens alles mögliche, um es anzutreiben. Der Kurier schimpfte, der Hofrat fluchte; beide beehrten die lettische Nation mit den verworfensten Beinamen. Endlich teilte sogar der Kurier, der auf dem in Federn hangenden Bocke gerade über dem Postillion saß, mit[55] geballter Faust die unbarmherzigsten Ohrfeigen und Kopfstöße aus. Der unschuldige Postillion sprang herunter und erklärte: er werde nicht weiter fahren, wenn man ihn so behandle. Diese Erklärung versetzte den Herrn Hofrat in Wut. Er stieg aus dem Wagen, brach einen derben Knüppel von dem nächsten Baume, ergriff den Postillion bei der Brust, warf ihn zu Boden und prügelte ihn unbarmherzig. Nach dieser edlen Expedition, welche durch die Gesetze streng verboten ist, befahl er ihm, sich aufzusetzen und weiterzufahren. Der Postillion benutzte aber den Augenblick, als der Kurier dem Hofrat in den Wagen half, und lief plötzlich querfeldein, dem nächsten Busche zu. Der Kurier versuchte zwar ihn einzuholen; doch jener war flinker auf den Beinen, und so standen wir nun zu meinem Vergnügen mitten auf der Landstraße, mit einem stätischen Pferde ohne Kutscher.

Was war zu tun? Wir mußten umkehren und, so gut es gehen wollte, nach Kokenhusen zurückfahren. Der Kurier ergriff die Zügel; er verstand sich aber schlecht auf das Fahren: es ging schief, krumm und langsam, wobei denn unzählige Flüche auf das arme Volk der Letten herausgedonnert wurden. Wenn ich sage Flüche, so verstehe ich darunter nur einen einzigen oft wiederholten Fluch; denn die Russen haben eigentlich nur einen Fluch, der aber so kräftig ist, daß er gar wohl die Stelle von hundert deutschen Flüchen ersetzen kann. Sie wünschen nämlich ihrem Gegner, daß der Teufel seine Mutter zur Hure machen möge. Und das wünschen sie in noch weit derberen Ausdrücken, als deren ich mich hier bedient habe, so daß in Ansehung der Deutlichkeit auch dem rohesten Menschen nichts zu wünschen übrig bliebe.[56] Ich übertreibe wahrlich nicht, wenn ich behaupte, daß jeder meiner Begleiter diesen Fluch täglich wenigstens fünfhundertmal ausstieß und natürlicherweise fast immer bei den geringsten Veranlassungen. Die Russen von schlechter Erziehung bedienen sich dessen, wie vormals die Franzosen des Wortes Monsieur und wie die Engländer noch heutzutage des Goddam: sie flicken es überall ein.

Als wir nach Kokenhusen zurückkamen, erhob der Herr Hofrat eine mächtige Klage gegen den entlaufenen Postillion, nahm sich aber wohl in acht, des Prügelns und seiner eignen entlaufenen Vernunft dabei zu erwähnen. Der Posthalter ergänzte indes diesen Mangel leicht. »Es ist einer meiner besten Leute«, sagte er. »Sie müssen ihn sehr übel behandelt haben.« Man leugnete. Der Posthalter sah mich an, und ich nickte unvermerkt mit dem Kopfe.

Es ist bekannt, daß einen gemeinen Menschen nichts mehr in Hitze bringt, als wenn er fühlt, daß er Unrecht hat. So ging es auch dem Hofrat: er schimpfte, er drohte. Da dem Posthalter, den Gesetzen gemäß, nichts anderes übrig blieb, als einen Rapport an die Regierung in Riga zu machen, indessen aber den Kurier ohne Aufenthalt fortzuschaffen, so wurde ein andres Pferd vorgespannt und nach einem andern Postillion geschickt. Doch zog sich das, so wie ich es wünschte, ein wenig in die Länge.

Ich war im Wagen sitzengeblieben. In einem Augenblicke, als der Hofrat in die Stube gegangen war, trat der Bruder des Posthalters an den Wagen und sagte zu mir mit einer bedenklichen Miene: »Ihr Name ist im Postpasse nicht angegeben.« Ich wußte darauf nichts zu[57] antworten. Hätte ich gewußt, was ich erst später erfuhr, daß durch ein neueres Gesetz streng befohlen ist, jeden Reisenden in dem Postpasse namentlich aufzuführen und nicht bloß durch die vage Benennung ›nebst bei sich Habendem‹ zu bezeichnen, und daß, wenn jenes unterblieben ist, der Posthalter das Recht hat, auch sogar schuldig und gehalten ist, die Pferde zu verweigern: ich würde sogleich aus dem Wagen gesprungen sein und ihn ermuntert haben, sich dieses Rechtes zu bedienen. Was konnte der Herr Hofrat ohne Pferde machen? Er hätte es dulden müssen, daß vorher nach Riga berichtet worden wäre; der Gouverneur von Riga, der von nichts wußte, hätte wieder bei dem Gouverneur von Mitau anfragen müssen. Dadurch wäre viel Zeit gewonnen worden; und Zeit gewonnen, sagt das alte Sprichwort, viel gewonnen. Aber ich schwieg aus Unkunde des Gesetzes, und so fuhren wir nachmittags ohne Hindernis weiter.

Unterwegs beobachtete ich die Gegend so genau als möglich, besonders die Lage des schön gebauten Gutes Stockmannshof, an welchem wir nahe vorbei fuhren. Rechts hatten wir noch immer die Düna und links fast ununterbrochen waldige Hügel. Wir kamen gegen sechs Uhr auf die nächste Station, die bereits auf der Grenze des livländischen Gouvernements liegt und mit der, wenn ich nicht irre, die Witebskische Provinz ihren Anfang nimmt.

»Jetzt oder nie!« dachte ich bei mir selbst. »Hast du einmal Livland verlassen, so findest du keinen Bekannten, keinen Freund mehr, nicht einmal einen Menschen, der deine Sprache versteht. Jetzt oder nie ist der Augenblick zur Flucht.« Ich erklärte also, ob es gleich noch ziemlich[58] früh am Tage war, daß ich heute nicht weiterfahren würde, weil ich der Ruhe benötigt wäre. Meine Erklärung schien dem Herrn Hofrat sehr unangenehm zu sein. Aber er fügte sich ohne Widerspruch in mein Verlangen: ein neuer Beweis, daß er Instruktionen hatte, die milder waren als sein Herz.

Es sollten nun Anstalten zum Übernachten und vorher zum Abendessen getroffen werden. Aber das Posthaus war so unbeschreiblich elend, die Stube mit Hühnern und Schweinen so ekelhaft angefüllt, daß ich darauf drang, wir müßten uns in einen steinernen Krug begeben, den ich in einer geringen Entfernung bemerkt hatte und der etwas mehr Bequemlichkeit zu versprechen schien. Meine eigentliche Ursache war, daß ich dort leichter zu entschlüpfen hoffte. Denn ich hatte mit einem Blick übersehen, daß das Posthaus zu diesem Zwecke gar nicht taugte.

Auf mein wiederholtes ernstliches Verlangen begaben wir uns also in den kaum einige hundert Schritt entfernten Krug, der noch auf livländischem Grund und Boden lag, zu Stockmannshof gehörte und von einem Juden als Pächter verwaltet wurde. Er lag mit der Front an der Landstraße, die zwischen demselben und der Düna hin lief. Wenige Schritte hinter dem Kruge fingen die waldigen Hügel an, auf die ich besonders rechnete.

Der Kurier machte jetzt sehr geschäftig Anstalten zum Abendessen. Er rühmte seine Kochkunst, schlachtete ein Huhn und versprach mir eine köstliche Suppe. Ich stellte mich, als ob ich Teil an dieser frohen Aussicht nähme, und spazierte unterdessen in Gesellschaft des Hofrats vor dem Kruge hin und her, gleichsam die Ufer[59] der Düna und die daselbst liegenden Holzflöße zu besehen, eigentlich aber, die umliegende Gegend noch besser ins Auge zu fassen. Von Zeit zu Zeit ging ich auch wieder in die Stube. Und als ich mich einen Augenblick allein fand, versuchte ich, ob das Fenster sich ohne Schwierigkeit und leise öffnen ließe. Es war zu meiner Freude nur mit einem Bändchen an einem Nagel befestigt und machte gar kein Geräusch. Der Hofrat hatte kurz vorher in seinen Papieren gekramt und etwa ein halbes Buch weißes Papier auf dem Tische liegen lassen. Hiervon nahm ich in Eil einen Bogen und steckte ihn schnell in die Tasche, ohne mir eigentlich bewußt zu sein, warum oder wozu ich das täte.

Gegen neun Uhr trug der Kurier seine fade Hühnersuppe auf, packte auch eine große italienische Wurst aus, die ich noch in Königsberg gekauft, und eine Flasche Likör, die ich aus Danzig mitgenommen hatte; beides hatte die Kammerjungfer ohne mein Wissen, aus Vorsorge in den Wagen gelegt. Ich zwang mich, einige Löffel Suppe zu verschlucken, und affektierte sogar einige Heiterkeit. Hiermit gelang es mir doch noch besser als mit dem Essen: die Seele war gehorsamer als der Körper. Ich konnte trotz allem Zureden unmöglich mehr als einige Löffelvoll hinunterbringen und schützte eine große Ermüdung vor.

Sogleich wurden Anstalten zum Schlafengehen gemacht. Es war eine einzige Bettstelle in der Stube befindlich, welche mir vorzugsweise eingeräumt werden sollte. Da sie aber in einem entfernten Winkel stand, so gab ich vor, sie sei mir zu schmutzig und ich fürchte mich vor Ungeziefer; ich bat daher, mein Lager ganz nahe am Fenster auf Stühlen zu bereiten. Man war sogleich willig.[60] Es wurden Stühle zusammengetragen, Heu darauf gelegt, mein Schlafrock darüber gebreitet und mein Mantel zur Bettdecke gemacht. Ich wollte mich völlig angekleidet niederlegen, mußte aber wenigstens leiden, daß der Kurier mir die Stiefel auszog. Glücklicherweise stellte er sie nahe neben mich. Ich warf mich nun auf mein hartes Bett und stellte mich, als ob ich vor Mattigkeit sogleich einschliefe. Man kann denken, wie weit der Schlaf von mir entfernt sein mußte.

Meine Begleiter blieben noch so lange auf, als irgend etwas zu essen und zu trinken übrig war; dann begaben auch sie sich zur Ruhe. Der Hofrat legte sich einen Schritt weit von mir auf eine Bank; zwischen uns stand der Tisch und über dem Tische war das von mir geprüfte Fenster. Der Kurier nahm seinen Platz draußen im Wagen, der ganz dicht unter dem Fenster stand.

Nicht lange, so überzeugte ich mich, daß der Hofrat schlief. Es mochte jetzt ungefähr elf Uhr sein. Wir hatten Vollmond, aber der Himmel war bewölkt. Der Augenblick schien günstig, und ich war im Begriff, zur Ausführung meines Entschlusses zu schreiten, als mir plötzlich ein ganz unvorhergesehenes Hindernis in den Weg kam. Es war nämlich unglücklicherweise eine Nacht vom Freitag auf den Sonnabend. Der Sonnabend ist bekanntlich der Sabbat der Juden, und unser Wirt hatte, vermutlich zur Vorbereitung auf diesen Tag, so oft und so viel in der angrenzenden Kammer zu tun, lief nebst Frau und Kindern so oft mit angezündeten Lichtern durch unser Zimmer, und es wurde in dem Nebenzimmer so viel gemurmelt und gesungen, daß der Hofrat alle Augenblick davon erwachte. Ich selbst stellte mich,[61] als ob mir dasselbe widerführe, und stimmte kräftig in seine Flüche mit ein. Indessen dauerte, gewiß zu meinem Unglück, der Lärm fort bis gegen zwei Uhr, da es endlich im ganzen Hause still wurde.

Jetzt erhob ich mich langsam auf meine Knie, wickelte das Band am Fenster los und öffnete dieses glücklich. Als es offen war, hörte ich den Kurier draußen im Wagen schnarchen. Ich tappte im Dunkeln um mich her, suchte meine Stiefel und meinen Hut und fand auch beides. Den letztern setzte ich auf, die Stiefel nahm ich in die linke Hand, den Mantel warf ich über den Arm. Nun stieg ich, so leise als möglich, auf den Tisch, immer mit zurückgehaltenem Atem und innehaltend, so oft der Hofrat sich zu rühren schien. Jetzt streckte ich das eine Bein zum Fenster hinaus und versuchte, irgendwo an den Balken eine Stütze dafür zu finden; aber vergebens. Die Erde konnte ich noch weniger sogleich erreichen; denn das Fenster war ungefähr mannshoch. Das andre Bein nachzuziehen, ohne daß ich beide Hände zum Anhalten gebrauchte, war ebenso unmöglich; ich hatte aber bloß die rechte Hand frei, da ich in der linken die unentbehrlichen Stiefel trug. So mußte ich mich denn entschließen, Mantel und Stiefel hinabzuwerfen, trotz der Gefahr, daß, wenn der Hofrat erwachte, ehe ich selbst hatte nachfolgen können, mein Plan durch die hinuntergeworfenen Sachen sichtbar vor Augen lag. Indessen war nun nicht länger zu zögern. Ich ließ den Mantel langsam fallen; die Stiefel glitten leise darauf nieder, da ihnen der Mantel zur Unterlage diente. Jetzt waren beide Hände frei; ich schwang mich hinaus, erreichte mit dem einen Fuße das Wagenrad und mit dem andern glücklich den Boden. Der Kurier schnarchte fort.[62] Ich nahm mir daher die Zeit, das Fenster, damit kein Zugwind den Hofrat wecken möchte, sacht wieder anzulehnen, ergriff sodann eilig Mantel und Stiefel, sprang um die Ecke des Krugs und war in Freiheit.

Schnell zog ich meine Stiefel an, wickelte mich in meinen Mantel, lief ein Stück hinter dem Kruge weg, durch einen nassen Wiesengrund, und kam dann bald wieder auf die Landstraße. Es war mein Plan, nach Kokenhusen zurückzugehen und den Posthalter zu bewegen, daß er mich verbergen möchte. Die Hoffnung, welche ich auf diesen Mann nebst seiner Familie setzte, gründete sich zum Teil auf seine menschenfreundliche Physiognomie, zum Teil auf den Verdruß, den er gestern durch den Hofrat gehabt und der ihn wahrscheinlich in eine mir günstige Stimmung versetzt hatte, endlich noch größtenteils auf eine beträchtliche Summe Geldes, die ich ihm anbieten wollte. Gab es vielleicht keinen verborgenen Winkel in seinem Hause, so war ich entschlossen, in den Ruinen der alten Burg Kokenhusen zu bleiben, wenn er mich dort nur mit Lebensmitteln versorgte. Dann wollte ich durch ihn den Baron Löwenstern von meinem Aufenthalt benachrichtigen. Dieser sollte meiner Frau und diese wiederum einigen geprüften Freunden Winke mitteilen. Kurz, ich hatte einen Entwurf gemacht, dessen Ausführung gar nicht unmöglich schien.

Freilich hatte ich darauf gerechnet, noch in dieser Nacht Kokenhusen zu erreichen, da allerdings sehr viel daran gelegen war, daß der Hofrat mir nicht zuvorkam. Aber der Jude hatte mir mit seiner Frömmigkeit einen Strich durch diese Rechnung gezogen. Es war jetzt beinahe drei Uhr und zwar noch Nacht, durch den verhüllten[63] Mond nur schwach beleuchtet; aber ich brauchte doch wenigstens vier bis fünf Stunden, um drei deutsche Meilen zurückzulegen, und ich mußte erwarten, daß der Hofrat früh aufstehen, mich vermissen, mir nachsetzen und mich einholen würde. Gesetzt aber auch, daß er länger schlief und meine Flucht nicht so bald gewahr wurde, so durfte ich es doch nicht wagen, bei Tage in Kokenhusen zu erscheinen. Wie mancher Bauer konnte mich dann bemerken, vielleicht wohl gar sehen, daß ich zu dem Posthalter hineinging oder auch die Ruinen erkletterte! Und der Hofrat mußte doch natürlicherweise nachfragen, auch für jede belehrende Antwort reichliche Belohnung versprechen. Es kam folglich alles darauf an, von niemand gesehen zu werden, als der mich sehen sollte. Ich änderte daher meinen Plan insoweit ab, daß ich beschloß, so lange die Dunkelheit mir Schutz gewährte, rüstig fortzugehen, sobald aber das verräterische Tageslicht anbräche, mich auf den waldigen Hügeln zu verbergen und erst in der folgenden Nacht meine Wanderung fortzusetzen.

Mit diesem Vorsatz ging ich weiter. Doch wich ich von der Landstraße ab, so oft etwa eine daneben gelegene Wiese es mir erlaubte, und hielt mich parallel mit derselben in einer mäßigen Entfernung. Ich war noch nicht weit gekommen, als ich durch die matte Mondesdämmerung ein Haus erblickte, welches ich am vorigen Tage für ein sogenanntes Quartierhaus erkannt hatte. Man findet nämlich in Liv- und Estland viele dergleichen Häuser zerstreut, welche, wenn Regimenter in der Gegend einquartiert sind, den Offizieren zur Wohnung dienen, wenn aber das Regiment abmarschiert, verschlossen werden und gänzlich unbewohnt bleiben. Als[64] wir gegen Abend an diesem Hause vorbeifuhren, hatte ich es genau beobachtet und dabei bemerkt, daß sowohl die Tür als die sämtlichen Fensterladen zugemacht und auch das dabei stehende Schilder- oder Wachthäuschen leer war. Ich schloß daraus natürlich, daß jetzt niemand hier wohne. In dieser Überzeugung, und da es einige hundert Schritte weit von der Landstraße entfernt lag, wollte ich dicht daran vorübergehen. Aber wie erschrak ich, als mir plötzlich eine donnernde Stimme aus dem Wachthäuschen ein Wer da? zurief! Ich faßte mich jedoch schnell und gab die gewöhnliche Antwort: »Sdeschnoi« (ein Hiesiger).

»Was gehst du da für einen besondern Weg? Wo willst du hin?«

»Ich will nach Stockmannshof.«

»Aber die Landstraße ist ja da drüben!«

»Ich bin in der Dunkelheit ein wenig abgekommen.« Hier wollte ich mich schnell entfernen.

»Halt! Wer bist du?« rief der Kerl mit doppelt lauter Stimme.

»Stille, mein Freund! Ich bin Hofmeister auf Stockmannshof und habe diese Nacht ein hübsches Judenmädchen besucht. Sage niemand, daß du mich gesehen hast.«

Mit diesen Worten drückte ich ihm etwas Geld in die Hand und nahm eilig meine Richtung nach der Landstraße. Die Schildwache hörte ich zwar noch eine Weile hinter mir brummen. Sie ließ mich aber gehen, da sie entweder durch meine Lüge oder durch mein Geld kirre geworden war.

Dieser kleine Vorfall hatte mich so scheu gemacht, daß ich nun beschloß, doch lieber auf der Landstraße fortzugehen,[65] wo es wenigstens nicht auffiel, einen Wandrer anzutreffen, und auf der ich noch überdies, weil sie bequem gebahnt war, weit schneller fortkam.

Ich mochte kaum wieder einige Werste gegangen sein, als ich in weiter Entfernung hinter mir das auf dem Lande gewöhnliche Lärmzeichen hörte. Man pflegt nämlich in ganz Rußland auf den Dörfern und auch in entlegenen Stadtteilen ein dickes Brett zwischen zwei Stangen aufzuhängen und, wenn man das Gesinde zum Essen versammeln oder die Glocke an deuten oder sonst plötzlich Lärm machen will, mit einem großen hölzernen Klöppel aus allen Kräften sehr schnell hintereinander darauf zu schlagen: ein Ton, den man sehr weit hören kann. Er fuhr mir jetzt durch alle Glieder. »Dem Gesinde auf irgendeinem benachbarten Edelhofe,« dachte ich, »kann es nicht gelten; denn zum Frühstück ist es noch allzu früh. Die Glocke, die sonst immer nach den schnelleren Schlägen in einem langsamen Zeitmaß angegeben wird, kann es auch nicht bedeuten; denn man trommelt ja in einem fort auf dem Brette. Der Hofrat hat mich also wahrscheinlich vermißt und gibt dieses Lärmzeichen entweder bei dem Kruge, oder er ist auch bereits bis zu dem Quartierhause gekommen, hat dort erfahren, daß ich vorbeigegangen bin, und läßt, indessen er mir eilig nachsetzt, durch die Schildwache die Bauern zusammentrommeln.«

Ob ich richtig vermutete, habe ich nie erfahren, da ich aus leicht begreiflichen Ursachen nachher nie von dieser Begebenheit sprechen mochte. Genug, das Klappern schien mir so verdächtig, daß ich augenblicklich von der Straße abbog und mir durch das dickste Gebüsch einen Weg bahnte. Ich hielt mich auch nicht länger mit der[66] Landstraße parallel, sondern suchte vielmehr so weit als möglich von ihr abzukommen.

Anfangs stieß ich von Zeit zu Zeit auf kleine offene Plätze oder auch größere Heuschläge, die ich schnell durchstreifte, um den Schutz der Bäume zu suchen. Nach und nach wurde das Gebüsch immer dichter. Ich hatte kaum noch tausend Schritt bis zu einem waldigen Hügel, den ich zu erreichen wünschte, nahm die gerade Richtung darauf zu, kehrte mich nicht daran, daß der Boden immer feuchter wurde, sah mich aber plötzlich mitten in einer morastigen Gegend und sank mit jedem Schritte bis an die Knie in den Schlamm. Nach einer halben Stunde, in der ich mich sehr abgearbeitet hatte, war ich so erschöpft, daß ich mitten im Schlamme ausruhen mußte. Der Tag war inzwischen angebrochen, gewährte mir aber keinen Trost, da das dicht verwachsene Unterholz und die vielen umherliegenden Fichten mit ihren aufgereckten dürren Ästen mich keine zehn Schritte vorwärts sehen ließen. Ich war indes entschlossen, eher in diesem Morast umzukommen als den Rückweg zu suchen.

Sobald ich mich wieder etwas erholt hatte, versuchte ich aufs neue, mit Anstrengung aller meiner Kräfte hindurchzuwaten; und nach einer peinlichen Stunde war ich endlich am Fuße des Hügels. Ich erkletterte ihn, fand ihn aber noch viel zu licht und schweifte von Hügel zu Hügel weiter. Immer glaubte ich, in der Ferne zu meiner Linken die Düna rauschen zu hören, und dieses Geräusch sollte mir zum Wegweiser dienen, damit ich nicht allzu weit von der Landstraße abkäme. Oft traf ich auf kleine von Bauern gemachte Holzwege, die bisweilen zu kleinen, mitten im Walde gelegenen Stücken Ackerland[67] führten. Ich bog dann sogleich ab, und dies geschah so häufig und in so verschiedenen Richtungen, daß ich am Ende, zumal da der Himmel sehr bewölkt war, durchaus nicht mehr wußte, nach welcher Gegend ich mich auf den Abend zu wenden haben würde. Nur jenes Geräusch tröstete mich in dieser Furcht, und nach zwanzig bald getroffenen, bald wieder verworfenen Wahlen eines Schlupfwinkels ersah ich mir endlich ein dichtes sehr dunkles Tannengebüsch, in welchem zwei Birken standen, die aus einem Stamme heraufgewachsen und ineinander verschlungen waren. Diese Birken gaben mir die erste sanfte Empfindung wieder. Ich dachte an meine gute Frau; ich meinte, unter diesen Birken könne mir kein Leid widerfahren, und wählte sie wohlgemut zu meiner Wohnung für heute.

Es war jetzt sechs oder sieben Uhr. Vor zehn Uhr abends durfte ich nicht daran denken, meine Freistatt zu verlassen. Ich hatte also Zeit genug, über meine Lage und über das, was mir zu tun am dienlichsten sein möchte, nachzudenken. Zuerst reinigte ich mich vom Schlamm, so gut ich konnte. Gern hätte ich mich auch getrocknet; aber der Boden, auf dem ich stand, war sehr feucht und die Luft an diesem Tage sehr kühl. Hin und her gehen konnte ich auch nicht, da die Bäume zu dicht standen; ich wickelte mich also in meinen Mantel, setzte mich nieder und lehnte mich mit dem Rücken an die Birken. Rings um mich her gewährten mir die Tannen eine dichte Mauer. Wenn man durch dieselben etwa dreißig bis vierzig Schritt durchbrach, so gelangte man auf einen nassen Heuschlag von geringer Breite, der durch einen kahlen Hügel begrenzt wurde. Alles, was durch diesen Heuschlag ging oder von dem Hügel herabkam,[68] konnte ich durch die Zweige erblicken. Zu beiden Seiten und hinter mir war, so weit mein Auge reichte, nichts als Wald.

Ich stellte nunmehr folgende Betrachtungen an: »Stockmannshof muß mir jetzt sehr nahe liegen. Der Besitzer dieses Gutes ist der Kammerherr von Beyer, der Schwiegervater des Barons Löwenstern. Ich habe diesen Mann als edel rühmen hören; auch würde seine Tochter schwerlich eine so vortreffliche Frau sein, wenn sie ihre Erziehung nicht sehr edlen Eltern verdankte. Also könnte ich mich im Notfall heute abend auch den Kammerherrn wenden, von dessen Dekungsart ich, wenn nicht Hülfe, doch Schonung und vielleicht guten Rat erwarten darf.« Aber – gegen diesen Gedanken stritten wieder manche Gründe. »Wird nicht der Hofrat sogleich auf dieses an der Landstraße gelegene Gut fahren und den Besitzer desselben sowohl als die Bauern im Namen des Kaisers aufbieten, mich zu suchen oder, wenn ich von selbst dahin kommen sollte, mich zu verhaften? Kann ich zu dem Herrn von Beyer kommen, ohne mich vorher durch einen Schwarm von Bedienten zu schlagen, die mich alle sehen und es schon dadurch ihrem Herrn unmöglich machen werden, mich in Schutz zu nehmen? Ferner ist der Kammerherr ein Mann, den bloß sein eignes Herz bestechen muß und den ich nicht durch einen zu hoffenden Gewinn auf meine Seite ziehen kann. Es ist also besser, ich bleibe bei meinem ersten Plane, das Posthaus in Kokenhusen zu erreichen. Denn obgleich auch dort der Hofrat Lärm machen und vorbauen wird, so bin ich doch gewiß, daß man sich dort vielmehr über seine Verlegenheit freuen und mir williger forthelfen werde, besonders, wenn ich die Summe, die er etwa für meine[69] Ergreifung geboten hat, verdopple, um das Gegenteil zu bewirken. Indessen wird es doch ratsam sein, da ich jetzt einen ganzen Tag Zeit habe, mich auf mehrere mögliche Fälle vorzubereiten.«

Nach dieser Gedanken-Audienz zog ich den Bogen Papier, dessen ich mich am vorigen Abend bemächtigt hatte, aus der Tasche, teilte ihn in mehrere Teile, nahm meinen Bleistift und schrieb auf meinem Knie, mit nassen, halb starren Fingern, einen Brief an den Herrn von Beyer, einen andern an den Baron Löwenstern, einen dritten an meine Frau und noch einige Zettel, deren Inhalt ich jetzt noch nicht erwähnen darf. In dieser Beschäftigung wurde ich durch ein heraufziehendes Gewitter unterbrochen, welches mit starken Schlägen immer näher kam und gerade über meinem Kopfe weg zu ziehen drohte. Ob ich nun gleich sehr wohl wußte, daß bei einem Gewitter der Aufenthalt unter hohen Bäumen gefährlich ist, so fiel es mir doch gar nicht ein, meinen Schlupfwinkel zu verlassen; ja, ich gestehe, daß ich einige Mal so gar recht herzlich wünschte, ein wohltätiger Blitzstrahl möchte meinen Leiden ein Ende machen. Ich hatte mir ohnehin diese Todesart immer als die wünschenswerteste vorgestellt, und in meiner jetzigen Lage mußte ein solcher Tod mir doppelt willkommen sein. Mein Verlangen blieb unerhört. Das Gewitter zog mit einem starken Hagelschauer vorüber, und dieser verwandelte sich nach und nach in einen derben Regen.

Bisher waren nur meine Beine bis über die Knie naß gewesen. Jetzt wurden auch die übrigen Teile meines Körpers bis auf die Haut durchnäßt und überdies der Boden so feucht, daß ich nicht länger darauf sitzen[70] konnte. Indessen gereichte mir dieser Regen doch zu einer großen Erquickung, da meine dürre Zunge an meinem Gaumen klebte. Ich hielt den Mund unter jede Tannennadel, an welcher ein Tropfen hing, und sog ihn gierig auf. Nie habe ich mehr gefühlt, wie stark gezeichnet das biblische Bild von dem reichen Manne in der Hölle ist, da er nur um einen Tropfen Wasser auf seine Zunge bittet. Als ich ringsumher die Tropfen eingesogen hatte, wagte ich mich mehrere Schritte in die Runde und leckte den Regen überall weg, wo meine Zunge ihn erreichen konnte. Aber auch das mußte mit vieler Vorsicht geschehen. Denn öfters, wenn mir von einem Zweige ein Tropfen winkte und ich mit Lüsternheit nur ein wenig unbehutsam mich näherte, fiel er herunter, ehe meine Lippen nahe genug waren, ihn aufzufangen. So verlor ich zuerst gar manchen schönen Tropfen. Ich bemerkte indessen bald, wie ich mich zu drehen und zu wenden hatte, um ein solches Unglück zu vermeiden, und es entgingen mir zuletzt nur wenige. Leider erhielt ich aber nur allzu bald an der Sonne einen ungebetenen Gast: sie trat hervor und nahm mir mein frugales Getränk. Schon gegen Mittag war kein Tropfen mehr zu sehen und jede Spur an den Zweigen vertrocknet.

Bis dahin hatte mein Ohr keine durch Menschen verursachte Bewegung gehört, ausgenommen mehrere Male ein rasches Fahren auf einer nicht weit entfernten Straße, die ich für die Landstraße hielt, so daß ich mir wohl einbildete, der Herr Hofrat fahre in meinem Wagen hin und her. Jetzt (es war etwa gegen Mittag) wurde ich plötzlich durch einen Schall erschreckt, welcher mir weit fürchterlicher war als der Donner; ich hörte nämlich Pferdegetrappel. Nun hielt ich den Atem an und lauschte.[71] Über die Wiese trabte die Kreuz und Quer ein Bauer, sah sich überall um, ritt auf den kahlen Hügel, kam wieder herunter und schielte nach jedem Busche. Endlich ritt er auch ganz dicht an meiner Freistatt vorüber. Aber die schützenden Zweige hatten einen undurchdringlichen Schirm vor mich gezogen: er wurde mich nicht gewahr und ritt weiter. Da, wie ich mich vorher überzeugt hatte, kein Weg durch diesen Heuschlag führte, so war dieser Bauer gewiß einer von denen, die man ausgeschickt hatte, mich zu verfolgen.

Etwa eine halbe Stunde nachher kam ein anderer Bauer auf einem kleinen einspännigen Wagen durch eben diesen Heuschlag, fuhr aber nur quer über denselben hin und sah sich auch nicht so viel um als der vorige. Ich warf mich jedes Mal platt auf die Erde und hielt nur den Kopf ein wenig in die Höhe, um zwischen den Baumstämmen jede Bewegung zu beobachten.

Nachmittags bemerkte ich, daß der Wald hinter mir sich nicht so weit erstreckte, als ich anfangs vermutet hatte. Ich hörte nämlich oft ziemlich nahe bei mir vorüberfahren und einmal auch die Stimme von drei oder vier schäkernden Bauernmädchen. Da diese schwerlich zu den Suchenden gehörten, so wurde ich nun überzeugt, daß wirklich in einer geringen Entfernung irgendein Weg durch das Holz führen müsse.

Es war schon fünf Uhr abends, als ich einen Schrecken hatte, der alle die vorigen bei weitem übertraf. Ich hörte nämlich, zuerst in der Ferne und dann immer näher und näher, Jagdhunde mit lautem Gebell jagen und dazwischen, wenn sie schwiegen, eine Stimme, welche sie zum Suchen ermunterte. Mir fiel Joseph Pignata ein, der auf seiner Flucht aus den Gefängnissen der Inquisition[72] auch mit Jagdhunden verfolgt wurde. Ich wußte zwar wohl, daß man in Livland keine Hunde auf Menschen abrichtet, und war auch sehr überzeugt, daß es nicht meine Spur sei, auf welche die Hunde anschlugen: aber der Hase oder der Fuchs, den sie verfolgten, konnte ja doch sehr leicht seinen Weg gerade durch das Gebüsch nehmen, in welchem ich lag. Einmal waren die Hunde wirklich kaum zweihundert Schritte von mir entfernt. Ich setzte mich auf den Boden, wickelte mich in meinen Mantel und ergab mich bereits in mein Schicksal. Aber glücklicherweise hatte das Wild einen andern Weg eingeschlagen. Der Laut entfernte sich wieder und kam mir nachher nicht mehr so nahe. Noch jetzt weiß ich nicht, ob diese Jagd auf mich gemünzt war, vermute aber nicht ohne Grund, daß sie, da man um diese Jahreszeit noch keine Hasen zu jagen, sondern im Gegenteil um der jungen Hasen willen die Hunde sorgfältig innezuhalten pflegt, wirklich meinetwegen angestellt wurde.

Außer den Schrecken der Wirklichkeit hatte ich auch noch manches Gespenst meiner Einbildungskraft zu bekämpfen. Einen schwarzen verbrannten Baumstrunk, etwa von Mannshöhe, der auf dem Heuschlag hervorragte und kaum ein paar hundert Schritte von mir entfernt war, habe ich wohl zwanzigmal für einen Kerl angesehen. Und als es anfing dämmerig zu werden, spielte mir die Phantasie einen noch weit ärgeren Streich. Ich glaubte nämlich in einer Weite von etwa achtzig Schritten durch das Gebüsch einen wohlbeleibten Mann in hellgrüner Kleidung, mit einem grünen Sommerhut auf dem Kopfe, zu erblicken, der eine Flinte auf mich angelegt hatte und nach mir zielte. Ich sah nicht allein die Gestalt, die Kleidung; ich unterschied auch die Gesichtszüge[73] sehr deutlich: es waren angenehme, freundliche Züge. Da ich einige Augenblicke lang dies Spiel meiner Einbildungskraft für wirklich ansah und meinte, der Mann halte mich für ein Stück Wild, so stand ich auf, warf meinen Mantel ab und bewegte mich hin und her, um ihn aus seinem Irrtum zu ziehen – bis ich selbst endlich von dem meinigen zurückkam.

Überhaupt glaube ich, daß, wenn ich noch länger im Walde zugebracht hätte, mich eine Art von Geistesverwirrung, um es nicht Wahnsinn zu nennen, befallen haben würde. Mein Kopf brannte, es sauste mir vor den Ohren, und Funken spielten vor meinen Augen; dabei waren meine Hände und Füße eiskalt, mein ganzer Körper durchnäßt und mein Puls sehr krampfhaft. Ich fühlte wohl, daß ich krank, sehr krank war. Soll ich sagen, was in allen diesen Leiden des Körpers und der Seele mich allein aufrecht erhielt? Der Gedanke an meine Frau, meine gute, geliebte Frau. So oft der letzte Funke meiner Kraft zu erlöschen drohte, so oft wurde er durch den Namen meiner Frau, den ich leise zwischen den Lippen stammelte, wieder angefacht. Zuweilen fügte ich auch noch den Namen meiner Emmy hinzu, und jedes Mal erhob sich der sinkende Mut. Doch waren freilich diese teuren Namen nur ein Talisman für die Seele; der erschöpfte Körper forderte mit Ungestüm Nahrung.

Es war jetzt Sonnabend Abend. Am Mittwochnachmittag, auf der letzten Station vor Mitau, hatte ich zum letzten Male bei einer Tasse Kaffee ein Butterbrot und am folgenden Morgen in Mitau einen Zwieback gegessen. Den ganzen Donnerstag und Freitag hatte ich bis auf zwei Löffel von des Kuriers fader Hühnersuppe auch nicht das mindeste genossen, und heute war ich, die wenigen[74] Regentropfen ausgenommen, noch völlig nüchtern. Ich fühlte, daß ich durchaus bald einige Nahrung zu mir nehmen mußte, wenn ich nicht hier oder auf der Landstraße liegen bleiben wollte. Was ist es doch für ein elendes Ding um das Geld! Ich hatte fast siebenhundert Rubel bei mir und konnte mir keinen Bissen Brot damit erkaufen. Man rechne nun noch hinzu, daß seit dem Mittwoch kein Schlaf in meine Augen gekommen war; denn der kurze, unruhige Schlummer im Wagen hatte mich nicht erquickt.

Als es dunkler wurde, zog eine Waldschnepfe über mich hin. Ihr knurrender und zischender Ton weckte in mir eine höchst wehmütige Empfindung. Die Jagd der Waldschnepfen im Frühjahr ist nämlich immer eine meiner Lieblings-Jagden gewesen. Sie pflegt in Deutschland nicht sehr ergiebig zu sein, und ich hatte mich daher schon lange darauf gefreut, bei meiner Ankunft in Livland in Gesellschaft einiger Freunde die heitern Frühlingsabende auf dem Anstand zuzubringen. An diese Erinnerung einer so grausam getäuschten Hoffnung knüpften sich mit Blitzesschnelle noch so manche andere, und ich sah der Waldschnepfe mit einem Seufzer nach. Übrigens erinnerte sie mich aber auch, da sie nie eher als nach Sonnenuntergang zu ziehen pflegt, daß es nunmehr Zeit sei, meinen Schlupfwinkel zu verlassen.

Ich wählte die Richtung, welche ich für die geradeste hielt, um auf die Landstraße zu gelangen. Sie führte mich quer über einen Holzweg, den ich kaum berührte, als plötzlich eine lange Reihe von leeren Bauernwagen in schnellem Trott dahergefahren kam. Ich hatte nur eben noch Zeit genug, mich in einem dünnen Gebüsche, kaum zehn Schritte vom Wege, platt auf den Bauch zu[75] werfen und es so dem Schicksal zu überlassen, ob die Bauern mich bemerken würden. Sie fuhren vorüber, und ich setzte meinen Weg in der gewählten Richtung fort, merkte aber bald, nicht allein daß ich immer tiefer in den Wald geriet, sondern auch, daß das Geräusch, welches ich bisher für das Rauschen der Düna gehalten hatte, nichts mehr und nichts weniger war als das Rauschen der Baumwipfel, welches ich jetzt so ziemlich auf allen Seiten hörte. Was sollte ich tun, meinen morastigen, ungebahnten Pfad in der Dunkelheit verfolgen? Es war gewiß, daß, wenn ich noch einmal in Schlamm versank wie diesen Morgen, ich nicht mehr Kraft genug haben würde, mich wieder heraus zu arbeiten. Hunger, Kälte und Ermattung mußten mich töten und mein Leichnam ein Raub der Wölfe werden. Ich suchte also zurück wieder auf den Holzweg zu kommen, von welchem mich zuletzt die Bauernwagen verscheucht hatten. Aber auch das war jetzt sehr schwer, da die Dunkelheit sehr zugenommen hatte; und erst nach einer guten halben Stunde des ängstlichsten Suchens gelang es mir.

Ich ging rasch auf dem Wege fort. Es kam mir vor, als ob er mich viel zu weit seitwärts führte. Ich hatte Recht. Als ich endlich nach mancher Krümmung die Landstraße erreichte und beim ersten Werstpfahl die Nummer im Dunkeln entzifferte, fand ich, daß ich kaum drei Werste von dem Kruge entfernt war, in welchem ich meine Begleiter zurückgelassen hatte. Ich hatte also noch fünftehalb gute Stunden zu gehen, um nach Kokenhusen zu gelangen. Ohne irgendeine Erquickung war das unmöglich. Der Dünastrom, der jetzt wirklich unter meinen Füßen rauschte, lud mich ein. Ich sprang hinab, schöpfte mit meinem Hute und löschte den brennenden[76] Durst mit einiger Unbehutsamkeit. Ich empfand bald ein entsetzliches Leibschneiden, und mein Hals war so rauh und verschwollen, daß ich kaum schlucken konnte. Durch die Bewegung des Gehens hoffte ich jedoch, alle diese Übel zu überwinden. Ich ging; noch war aber die Landstraße viel zu lebendig, als daß ich meinen Weg immer ungehindert hätte fortsetzen können. Bald mußte ich schnell das nächste Gebüsch suchen, um die mir Begegnenden zu vermeiden, bald mußte ich einen weiten Umweg nehmen, um einem Kruge nicht zu nahe zu kommen, in welchem ich die Bauern lärmen hörte. Oft war es auch nur ein wachsamer Hund, der meine Schritte hörte, mich schon von fern anbellte und mich dadurch nötigte, einen weiten Nebenweg zu suchen. Denn das Gebell konnte mich nicht allein verraten, sondern ich hatte auch, um mich gegen einen rüstigen Bauernhund zu verteidigen, nichts als eine kleine Schere, die ich zufällig in meiner Tasche fand. Freilich war ich schon im Walde auf den Gedanken ge kommen, mir einen tüchtigen Knüttel abzubrechen; es fehlte mir aber an Kraft dazu. Ich hatte darauf gerechnet, allenfalls längs dem Ufer der Düna hingehn zu können. Allein das ganze Ufer war mit großen Holzflößen besetzt, auf welchen Feuer brannten und Menschen hin und her wandelten. Bei diesen Umständen mußte ich bald auf der Landstraße schleichen, bald durch den Busch kriechen, bald am Ufer herumklettern. Und so erreichte ich endlich gegen elf Uhr mühsam das Gut Stockmannshof.

Es liegt auf einem Hügel, von dem sich ein Garten mit Terrassen bis an die Landstraße hinabzieht, an welche das vergitterte Gartentor stößt. In dem Hause auf dem Hügel sah ich noch Lichter sich hin und her bewegen;[77] doch in der obern Etage erloschen sie bald gänzlich und in der untern blieben nur linker Hand einige Fenster hell. Ich versuchte an der Gartentür zu klinken; sie war offen. Jetzt stand ich unentschlossen da. Ich fühlte, daß ich Kokenhusen schwerlich erreichen würde: denn ich ging nicht mehr, ich wankte nur noch wie ein Trunkener; auch hatten meine Leibschmerzen nicht nachgelassen, und mein verschwollener Hals drohte mich zu ersticken. Endlich trat ich in den Garten, wo ein Gang zwischen hohen Hecken gerade auf das Haus zuführte. Ich erblickte in der Ferne eine weiße Gestalt. Vielleicht, dachte ich, ist es ein spazierengehendes Frauenzimmer. Dem zu begegnen, wäre mir jetzt am willkommensten gewesen; denn die Frauenzimmer haben gewöhnlich ein weit regeres Mitleidsgefühl und helfen rasch, ohne erst jedes Aber kaltherzig abzuwägen. Ich ging auf die Gestalt zu; doch – es war ein steinerner Neptun in einem Bassin.

Jetzt stand ich wieder und überlegte. Alle Gründe, die ich mir diesen Morgen gegen die Zuflucht in diesem Hause vorgesagt hatte, erwachten aufs neue. Ich ermannte mich noch einmal, verließ schleunig den Garten und setzte meinen Weg fort. Noch eine halbe Werst lang trotzte meine Seele dem Körper; jetzt aber gewann sein schreiendes Bedürfnis die Oberhand, und ich konnte nicht weiter. Von Hunger, Erschöpfung und Schmerz überwältigt, warf ich mich in den Sand und war der Verzweiflung nahe. Ich gestehe, daß jetzt zum ersten Male der Gedanke an Selbstmord vor meine Seele trat; und hätte ich anstatt der kleinen Schere den Dolch bei mir gehabt, den ich sonst gewöhnlich auf der Reise in der Tasche zu führen pflegte: ich würde vielleicht meinem[78] Leiden eigenmächtig ein Ziel gesetzt haben. Doch diesen Dolch hatte ich in der Abschiedsstunde meiner Frau gegeben, weil ich meinte, es sei doch möglich, daß man ihn in Petersburg bei mir gewahr werden und – Gott weiß was dabei denken könne. Daß er mir bloß zur Schutzwehr diente, da ich sehr oft meilenweit meinem Wagen voraus zu Fuße ging und von manchem bösen Hunde an gefallen werden konnte: das würde man mir vielleicht nicht geglaubt haben. Es war also bloß eine weit aussehende Vorsicht, die mich bewog, den Dolch meiner Frau anzuvertrauen. Und noch jetzt segne ich diese Vorsicht: »denn der Weise,« sagt Seneca, »soll nicht hastig aus der Welt gehen, wenngleich die Vernunft ihm zu sterben gebietet; er nimmt nicht die Flucht, sondern zieht sich zurück«.

Aber – o Gott – an welche unbedeutend scheinende Kleinigkeiten sind unsere Schicksale geknüpft! Hätte ich am Morgen, in dem Augenblicke, da ich aus dem Fenster stieg, nur meine Hand ausgestreckt, um das Brot zu ergreifen, welches noch auf dem Tische lag, so würde mir das vermutlich Kraft genug gegeben haben, meinem ersten Plane treu zu bleiben. Jetzt hatte ich nur zwei Wege: entweder mich auf jede Gefahr nach Stockmannshof zu flüchten oder bis zum folgenden Abend meine Freistatt abermals im Walde zu suchen. Das letztere war untunlich. Woher würde ich am folgenden Abend, ohne alle Erquickung, mehr Kräfte genommen haben als jetzt? Es blieb mir also nur das erstere verzweifelte Hülfsmittel übrig, und nachdem ich eine Zeitlang geruht hatte, schleppte ich mich mühsam bis zum Gartentore zurück.

Das Licht in dem untern Stockwerke des Hauses linker Hand schimmerte noch. Ich ging durch den Garten, erstieg[79] zwei Terrassen und gelangte an ein zweites Tor, welches auf eine Straße zwischen Haus und Garten führte und gleichfalls nur leicht, durch eine Krampe mit einem vorgesteckten Stück Holz, verwahrt war. Als ich es leise geöffnet hatte, befand ich mich drei Schritt von der Treppe und der Haustür. Ich ging die Treppe hinauf, bog mich von da nach dem Fenster linker Hand und sah in das Zimmer, aus welchem das Licht schien. Ich erblickte drei junge Mädchen, wahrscheinlich Kammerjungfern, die beschäftigt waren, ihre Betten zu bereiten. Wohl zehnmal krümmte ich meinen Finger, um an das Fenster zu klopfen, und wohl zehnmal zog ich ihn wieder zurück. Doch endlich siegte das Gefühl meiner gänzlichen Hülflosigkeit: ich klopfte; es war geschehen.

Eins der Mädchen kam mit dem Lichte heraus, öffnete die Haustür und fragte, was ich wollte. Ich bat sie mit heiserer Stimme um ein Stück Brot. Sie sah mich sehr befremdet an. Es war ein hübsches Mädchen, mit einem sehr wohlwollenden Gesicht. Aber meine ganze Gestalt und mein scheues Wesen flößten ihr natürlicherweise Mißtrauen ein. Sie sagte, es sei schon zu spät, die Herrschaft schlafe, auch sei keiner von den männlichen Bedienten mehr wach und sie könne mir jetzt kein Brot mehr verschaffen. »Erbarme dich, mein Kind!« antwortete ich ihr. »Ich bin den ganzen Tag im Walde gewesen, habe nichts gegessen und getrunken und kann unmöglich weiter.«

»Mein Gott! Im Walde? Bei diesem Wetter? Warum denn?« Sie betrachtete mich bei diesen Worten genau vom Kopf bis zu den Füßen und zog sich dann etwas scheu zurück.

Ich erriet ihre Gedanken. »Fürchte nichts,« sagte ich, »ich[80] bin kein Räuber, kein Bettler. Sieh, ich habe Geld genug« – ich zog meine Börse aus der Tasche und zeigte auf meine goldene Uhrkette – »aber ich habe ein trauriges Schicksal; ich muß mit deinem Herrn sprechen.«

»Er schläft.«

»Ist der Baron Löwenstern im Hause?«

»Nein, er ist auf Kokenhusen und kommt erst morgen zurück.«

»Aber seine Familie?«

»Die schläft oben.«

»Ist Fräulein Plater mit hier?« (Dieses Fräulein Plater ist ein liebenswürdiges junges Frauenzimmer, welches sich bei der Familie Löwenstern aufhält und auch mit ihr in Leipzig war.)

»Ja.«

»Könnte man die nicht wecken?«

»Das darf ich nicht.«

Als ich sie flehentlich bat, riet sie mir, einstweilen zu dem Schreiber zu gehen und da bis zum folgenden Morgen zu warten. Aber während dieses Gespräches war ich nach und nach bis in das Zimmer gedrungen. Die höchste Not machte mich unverschämt und ich erklärte: ich würde nicht von der Stelle weichen, sondern die Nacht auf dem da stehenden Sofa zubringen. Die drei Mädchen befanden sich in großer Verlegenheit; auch die andern beiden waren nämlich unterdessen herbeigekommen und begafften mich neugierig.

Der Himmel weiß, wie diese Szene noch geendigt haben würde, wenn nicht durch das dadurch verursachte Geräusch der Kammerherr und seine Gemahlin, welche im Nebenzimmer rechter Hand schliefen, erwacht wären. Frau von Beyer rief das Mädchen. Ich griff schnell in die[81] Tasche, gab ihr den im Walde geschriebenen Brief und bat sie, ihn ihrem Herrn zu überliefern. Sie ging, und ich warf mich in banger Erwartung auf das Sofa.

Nach einiger Zeit kam das Mädchen zurück und sagte, ich möchte nur noch ein wenig verziehen; sie wolle mir bald zu essen schaffen und ihr Herr werde auch sogleich selbst da sein. Sie ging, und ich blieb abermals einige Minuten allein: Minuten, die man sich nach keinem gewöhnlichen Zeitmaße denken muß.

Endlich erschien der Kammerherr, ein ältlicher, menschenfreundlicher Mann, dem aber die höchste Verlegenheit auf dem Gesichte geschrieben stand. Was ich ihm sagte, weiß ich nicht mehr: es waren abgebrochene Worte; mein Brief hatte ihn ja bereits von allem unterrichtet. Er bat mich, ruhig zu sein und nur fürs erste Speise und Trank zu mir zu nehmen; nachher wollten wir, sagte er, überlegen, was sich tun lasse. Nicht lange, so kam auch seine Gemahlin. In ihrem Gesicht erkannte ich auf den ersten Blick die Züge ihrer guten Tochter, und das gab mir neuen Mut. Ich erzählte mein unbegreifliches Schicksal mit wenigen Worten und fand die wärmste Teilnahme, doch nicht ohne Anstrich von Verwunderung, vielleicht auch von Argwohn, daß ich doch wohl nicht so ganz unschuldig sein möchte. Denn freilich, wie können gute, an gesetzliche Ordnung gewöhnte Menschen einen solchen Gang der Gerechtigkeit für möglich halten, ohne daß wichtige Gründe dazu vorhanden sind!

Indes hatte man mir allerlei kalte Speisen vorgesetzt, und ich verschlang mit Heißhunger einige Bissen. Sobald aber nur das erste, dringendste Bedürfnis gestillt war, wiederholte ich meine Bitte um Hülfe und Rettung, die[82] ich, wenn mich der Kammerherr auf eins seiner entfernten Güter schickte, dort zu finden hoffte, wenigstens so lange, bis andre Maßregeln genommen werden könnten. Ich bemerkte deutlich, daß Herr von Beyer mit sich selbst kämpfte und daß das Züngelchen in der Waage sich zu meinem Vorteil neigte. Auch auf dem Gesichte seiner Gattin schimmerte Hoffnung für mich, als auf einmal ein Mann hereintrat, an den ich noch jetzt nicht ohne den größten Widerwillen denken kann. Man stellte mir Herrn Prostenius – so ungefähr hieß er – aus Riga als einen Freund des Hauses vor. Er selbst behauptete, mich vormals gekannt zu haben; ich erinnerte mich seiner nicht. Der Leser denke sich in ihm einen wohlgebildeten Mann, mit der freundlichsten Glätte und höflichsten Kälte im Gesichte, der die unangenehmsten Dinge, die dem andern das Herz zerreißen mußten, mit einer so lächelnden Unbefangenheit heraussagen konnte, als ob er die fröhlichsten Neuigkeiten zu verkündigen hätte.

Ich erfuhr jetzt, daß der Hofrat allerdings schon in großer Angst hier gewesen wäre; daß er die ganze Gegend aufgeboten, mich wieder zu erhaschen; daß er noch an demselben Mittage auf dem Gute gegessen habe und dann sogleich nach Riga gefahren sei, wo er sich vermutlich jetzt schon befinde. Meinen Rettungsplan erklärte Herr Prostenius, ohne ihn noch ganz zu wissen, geradezu für unausführbar. Er behauptete, der Kammerherr würde sich kompromittieren und könne mir auf diese Art durchaus nicht helfen. »Aber,« meinte er, »Zeit würde ich dennoch durch meine Flucht gewonnen haben, da man mich jetzt unter sicherer Bedeckung nach Riga senden müsse. Der dortige Gouverneur sei von[83] nichts unterrichtet; er müsse also notwendig meinetwegen nach Petersburg rapportieren, und da könne sich noch manches ändern.« Vergebens stellte ich vor, daß bei der unerhörten Art, wie man mit mir verfahren, das wohl schwerlich der Weg sei, etwas zu ändern. Der Kammerherr, den Herr Prostenius bis jetzt gar nicht zu Worte kommen lassen, sondern dem er alles, was er tun oder nicht tun solle, gleichsam vorgeschrieben hatte, fiel jetzt tröstend ein: »Sie können ja von hier aus an den Kaiser schreiben.«

»Darf ich das?« versetzte ich schnell.

»Allerdings,« sagte Herr von Beyer, »und ich mache mich sogar anheischig, den Brief durch meinen Vetter, den General Rehbinder, jetzigen Kommandanten von Petersburg, sicher übergeben zu lassen.«

Ich dankte ihm herzlich für seinen guten Willen. Der liebenswürdige Herr Prostenius wollte zwar auch hiergegen Einwendungen machen; doch es blieb dabei.

»Aber,« fragte das freundliche Männchen, »warum fürchten Sie sich denn überhaupt so sehr vor einer Reise nach Tobolsk?«

Ich sah ihn an und lächelte bitter.

»Ich spreche in Ernst,« fuhr er fort; »es werden viele sehr brave Leute dahin geschickt, und man versichert, daß jetzt sehr gute Gesellschaft dort anzutreffen sein soll.« – »Ich verlange keine andere Gesellschaft,« sagte ich, »als meine Frau und meine Kinder.« – »Auf welche Art hat man Sie denn weggebracht?« fragte er weiter. Ich antwortete ihm, daß ein Hofrat aus Petersburg und ein Senatskurier mich begleiteten.

»Sonst keine Wache, keine Soldaten?«

»Nein.«[84]

»Nun, sehen Sie, das ist ja ehrenvoll! Was verlangen Sie denn mehr? ... Sie müssen sich darein ergeben,« fuhr er fort, als er sah, daß die Vorstellung von dieser Ehre keinen Eindruck auf mich machte: »Sie sind ja ein Philosoph!«

»Ich bin Gatte und Vater!« gab ich zur Antwort.

Herr Prostenius lächelte. Der Frau von Beyer traten die Tränen in die Augen. Der Kammerherr erinnerte, daß es schon spät sei und daß ich wohl daran tun würde, mich durch Schlaf zu erquicken, um morgen gestärkt meine Rückreise nach Riga antreten zu können. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich keinen Widerwillen gegen den Gedanken empfand, nach Riga umzukehren; wenigstens wußte ich es damals nicht. Nachher hab ich wohl gefühlt, daß es eigentlich bloß eine Täuschung meines Herzens war, welches sich in der Nähe von Frau und Kindern glücklicher und sicherer träumte. Im Grunde galt es freilich wohl gleichviel, ob ich dem Hofrat auf der Stelle ausgeliefert oder erst einmal zur Schau nach Riga gesandt wurde.

»In der Herberge,« sagte der Kammerherr, »steht ein fertiges Bett; ich bitte Sie, sich dessen zu bedienen.« Eine solche, in Liv- und Estland sehr gewöhnliche, sogenannte Herberge ist ein dem Hauptgebäude nahe liegendes Nebenhaus, wo der Hofmeister, der Sekretär oder andre dergleichen Offizianten zu wohnen pflegen und wo man für einen Notfall auch noch einige Gastbetten in Bereitschaft hält. Ich ging. Als ich vor die Haustür trat, bemerkte ich, daß mich wohl ein halbes Dutzend Bauern die wenigen Schritte bis zur Herberge begleiteten. Ich glaubte, es wäre Neugier, und meinte nicht, daß der Einfluß des Herrn Prostenius einen edlen Mann[85] verleitet haben könne, aus seinem Gastzimmer ein Gefängnis zu machen.

In der Schlafstube fand ich mehrere Betten, die schon besetzt waren und deren Inhaber zum Teil fest schliefen. Ohne mich weiter um sie zu bekümmern, nahm ich sogleich Besitz von dem mir angewiesenen. Während des Auskleidens wurde ich gewahr, daß man die Fensterläden von außen verschloß. Da ich es nie habe leiden mögen, so, gleichsam in einem Sacke, zu schlafen, verbat ich mir diese Höflichkeit; denn dafür hielt ich es. Der Bediente verließ aber das Zimmer, ohne mir zu antworten, und draußen fuhr man fort, alles wohl zu verwahren, damit ich dem Käfig nicht zum zweiten Mal entschlüpfen möchte.

Soll ich meines Herzens Meinung sagen?

Ich versichere auf meine Ehre, daß mir kein Gedanke an abermalige Flucht in den Sinn gekommen war; ich versichere auch auf meine Ehre, daß ich an der Stelle des Herrn von Beyer, selbst mit den zartesten Begriffen von Untertanspflicht, die Vorsicht nicht so weit getrieben haben würde. Gesetzt sogar, der Hofrat hätte höhere Befehle vorgezeigt, welche ihn berechtigten, mich so unerhörter Weise fortzuschleppen, so wäre es doch wahrlich schon hinlänglich gewesen, mir eine Wache vor Tür und Fenster zu stellen. Hatte ich List oder Glück genug, diese Wache zu hintergehen, so wäre der Herr von Beyer außer aller Verantwortung. Denn wer konnte von ihm fordern, daß er in seinem Hause ein Magazin von Riegeln und Ketten für Staatsgefangene in Bereitschaft halten sollte?

Ach Prostenius! Prostenius! Auch das war gewiß dein Werk! Du wolltest, daß es in meinem Schlafzimmer[86] ebenso finster aussehen sollte als in deinem mitleidlosen Herzen.

Die gänzliche Erschöpfung versenkte mich bald in einen zwar unruhigen, aber doch bis fünf Uhr morgens anhaltenden Schlaf. Als ich erwachte, war der Brief an den Kaiser mein erster Gedanke. Ich stand auf, kleidete mich an, setzte mich an den Tisch, an dem ich Schreibmaterialien vor mir fand, und schrieb, was mein Herz, meine Unschuld, mein empörtes Gefühl mir eingaben. Während des Schreibens brachte mir ein Bedienter das Frühstück, und die übrigen Mitbewohner des Zimmers verließen ihre Betten. Ich kehrte mich an nichts. Als ich den Brief an den Kaiser vollendet hatte, schrieb ich noch einen zweiten an den Grafen Pahlen, den Liebling des Monarchen, einen dritten an den Grafen Cobenzl, östreichischen Ambassadeur in Petersburg, und endlich einen vierten an meine geliebte Frau. Schon hatte ich auch einen fünften an den Generalprokureur angefangen, als der freundliche Herr Prostenius mit dem glatten Gesichte hereintrat und mir lächelnd ankündigte: unser Plan von gestern Abend, mich nach Riga zu senden, sei zerstört worden, da der Hofrat sich soeben eingefunden habe, mich zu reklamieren.

»Man wird mich also ausliefern?«

Er zuckte die Achseln. »Was soll man tun? ... Sogar den Brief an den Kaiser kann der Kammerherr, nach reiferer Überlegung, unmöglich durch seinen Vetter, den General Rehbinder, übergeben lassen.«

»Aber er hat es mir zu wiederholten Malen, aus eigener Bewegung, versprochen!«

»Er darf nicht, da er sich selbst kompromittieren würde; er muß den Brief an den Gouverneur von Riga schicken,[87] der ihn wahrscheinlich an die Behörde befördern wird.«

»Und die übrigen Briefe?«

»Der an Ihre Frau Gemahlin wird gleichfalls durch die Hände des Gouverneurs gehen; die übrigen aber rate ich Ihnen, vorderhand ganz zu unterdrücken.«

Mit diesen Worten steckte er die beiden Briefe an den Kaiser und an meine Frau zu sich und verschwand. Was aus ihnen geworden ist, weiß ich noch bis diese Stunde nicht. Vermutlich hat man sie wirklich dem Gouverneur von Riga zugeschickt. Doch bei der bangen Furcht, die jetzt in der Brust eines jeden russischen Staatsdieners herrscht, hat dieser es wohl nicht gewagt, sich damit zu befassen, sondern es für sichrer gehalten, sie zu verbrennen. Vielleicht ist das ein Glück für mich; vielleicht hat Herr Prostenius mir durch seine Hartherzigkeit einen großen Dienst erwiesen. Der Brief an den Kaiser war nicht ganz so, wie er an diesen Monarchen sein sollte. Ich pochte darin zu viel auf Recht und Unschuld und auf sein eigenes kaiserliches Geleite. Er konnte beim Lesen desselben unmöglich mit sich selbst zufrieden sein, und das konnte nur mir schaden. Auch erfuhr er ja dadurch meine Flucht, und es war leicht möglich, daß er diese als eine strafbare Widersetzlichkeit aufnahm. Zwar hatte ich ausdrücklich in dem Briefe angeführt: »der Gouverneur von Kurland, den ich kenne und der Ewr. Majestät Statthalter ist, hat mir in Ihrem Namen versichert, ich würde nach Petersburg reisen; und ein mir völlig fremder Mensch, den ich nicht kenne und der mir keinen Befehl von Ewr. Majestät vorzeigen kann, will mich nach Sibirien schleppen. Wem soll ich glauben: dem Gouverneur oder dem Hofrat?« Aber,[88] wie gesagt, die ganze Sache war zu verworren und zu unrein, als daß ich Wirkung von allzu klaren, allzu bündigen Vorstellungen hoffen durfte. Sie konnten vielmehr nur erbittern, und ich habe daher nachmals oft gewünscht, den Brief lieber nicht geschrieben zu haben. Eben das war der Fall auch mit den wenigen Zeilen an meine Frau. Ich hatte darin meiner jammervollen Lage im Walde erwähnt und von ewiger Trennung gesprochen; meine gute Frau konnte den Tod davon haben, wenn sie den Brief unvorbereitet erhielt. Noch einmal: ich danke dem Manne mit dem glatten Gesichte. Er hat mir vielleicht, ohne es zu wollen, das erhalten, was mir das Teuerste auf der Welt ist.

Zwei Briefe, an die Grafen Pahlen und Cobenzl, waren in meiner Hand geblieben. Ich befand mich gerade allein mit einem jungen Manne, der die Nacht mit in diesem Zimmer geschlafen hatte und in dessen Zügen ich Wohlwollen und Mitleid las. An ihn wandte ich mich eilig. »Wenn Sie ein menschliches Herz haben,« sagte ich, »so geben Sie diese Briefe auf die Post.«

Er war betreten und schien Gefahr zu besorgen. »Die Briefe sind unversiegelt,« fuhr ich fort: »lesen Sie selbst den unschuldigen Inhalt, versiegeln Sie selbst mit irgendeinem unbedeutenden Petschaft.« Er versprach mir, wenn es auch nicht sogleich geschehen könne, doch, sobald der erste Lärm vorüber sei, zu tun, was in seinen Kräften stehe. Hat er Wort gehalten? Ich weiß es nicht. Haben die Briefe einige Wirkung hervorgebracht? Ich weiß es nicht; und eben weil ich es nicht weiß, zweifle ich daran.

Ein Jüngling von achtzehn bis zwanzig Jahren, den ich nach seinen Gesichtszügen für einen Sohn des Baron[89] Löwenstern hielt, trat nun herein und räumte schnell alle Schreibmaterialien vom Tische, »weil,« sagte er, »der Hofrat, den man bis jetzt aufgehalten habe, sogleich hier sein werde.« Er fragte mich, was ich etwa zur Reise bedürfe; ich bat um etwas Cremor tartari. Er ging.

Gleich nachher trat der Herr Hofrat mit dem Kurier in die Stube. Er machte mir, mit hinaufgezogenen Nasenfalten, eine freundliche Verbeugung und gar keinen Vorwurf. Ich sagte ihm, so gut ich konnte: daß er mir mein Mißtrauen verzeihen müsse, da es natürlich sei, daß ich dem Gouverneur von Kurland mehr glaube als ihm, einem mir völlig fremden Manne. Er schien meine Entschuldigung gelten zu lassen und schob alle Schuld auf eine übel verstandene, unzeitige Menschlichkeit des Gouverneurs. Ich sah, daß er sein Taschenbuch herauszog und den Bauern, die mich bewacht hatten, hundert Rubel gab. »Wenn Sie,« sagte ich, »etwa glauben, daß diese Bauern mich ergriffen haben, so irren Sie; ich bin freiwillig gekommen.« Er würdigte mich keiner Antwort, sondern gab die hundert Rubel mit einem tiefen Seufzer.

Als er darauf hinausgegangen war, um unsere schnelle Abreise zu befördern, trat das gute Mädchen, das ich am vorigen Abend zuerst gesprochen hatte, mit unruhigen Blicken in das Zimmer und flisterte einigen Herren, die sich noch darin befanden, etwas zu. Als diese sich augenblicklich entfernten, überreichte sie mir eilig im Namen ihrer Gebieterin – diese, glaubte ich damals, sei die Frau von Beyer – eine Art von leinewandnem Säckchen mit zwei langen Bändern und bat, daß ich es sogleich um den bloßen Leib binden möchte. »Es sind[90] hundert Rubel darin,« sagte sie, »wohl eingenäht. Man wird Sie visitieren und Ihnen alles Geld wegnehmen.« Mit diesen Worten schlüpfte sie aus der Tür.

Ich begriff nur halb, was sie wollte. Indessen tat ich maschinenmäßig, was sie mir gesagt hatte; und kaum war ich damit fertig, als der Hofrat wieder hereintrat.

Gute, edle weibliche Seele, die sich meiner Not so herzlich annahm! Noch heute verwahre ich dieses Säckchen unberührt, als ein Denkmal deiner Menschenliebe! So oft ich es betrachte, steigen mir die Tränen in die Augen, und ich erinnere mich mit sanfter Wehmut, daß in dem fürchterlichsten Zeitpunkte meines Lebens eine edle Seele Erbarmen für mich fühlte.

Quelle:
Kotzebue, August: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. München 1965, S. 49-91.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das merkwürdigste Jahr meines Lebens
Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. Als Verbannter in Sibirien

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon