Gebet

[115] Deine Sonne, Herr des Himmels,

Schmilzt den Schnee von deinen Bergen,

Bricht mit rosiger Verklärung

Durch der Nebel düstern Schleier,

Trägt den milden Hauch des Tages

Siegend aus dem Kampf der Nacht.


Deine Sonne, güt'ger Vater,

Lockt die Knospe aus dem Kelche,

Taucht die jungfräulichen Blätter

In das zarte Rot der Sehnsucht,[115]

Küßt des Taues Thränenperle

Lächelnd aus dem Blütenkelch.


O, so führe deine Liebe

Aus der Nebel düst'rem Schatten

Mir herauf den goldnen Morgen,

Locke meines Herzens Keime,

Küsse mir vom matten Auge

Meiner Sehnsucht Thräne ab!


Oder pflanze mir die Rosen

Schattend über meinem Hügel,

Daß der Blütendorn der Liebe,

Der den Lebenden verwundet,

Fest verzweigt mit der Cypresse,

Doch den Toten kühlen muß!


Quelle:
Theodor Körner: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1893, S. 115-116.
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