Das Leichenbegängnis der Löwin

[147] Des Löwen Gattin schied ins Totenreich.

Ein jeder lief sogleich,

Dem Herrn Beileid zu sagen

In Trostesreden, die von Kümmernis getragen.

Kund und zu wissen tat der Löwe allen Tieren,

An welchem Tag und Ort

Bestattung sei; es würden die Beamten dort

Die Leute für den Leichenzug gruppieren.

Nun fragt euch selbst, ob nicht ein jeder kam.

Der Löwe überließ sich seinem Gram,

Daß seine Höhle davon widerhallte;

Denn keinen andern Tempel hat das Leugeschlecht.

Und seinem Beispiel folgend schallte

Das Wehgeschrei von Höfling und von Knecht

Am Hof, den ich für eine Stätte halte,

Wo man betrübt, vergnügt, entflammt, vergällt,

Kurz alles ist, was nur dem Herrn gefällt,

Zum mindsten aber solchen Schein erweckt,

So man's nicht sein kann in der Tat.

Chamäleons, Affen sind es, deren Tun bezweckt,

Sich anzupassen ihrem Potentat.

Man könnte sagen, daß ein Geist

Mit Leben tausend Körper speist:

So vielverzweigt auch der Verwaltungsapparat,

Kein Zweig hat einen eignen Geist.

Zurück zu der Geschichte nun.

Der Hirsch hat nicht geweint. Wie sollte er es tun?

Ihm schien der Löwin Tod gerechte Rache:

Sie war es, die ihm Weib und Sohn geraubt.[148]

Er weinte nicht. Ein Schmeichler hintertrug die Sache

Und schwor bei seinem Haupt,

Zu lachen habe dieser Hirsch gewagt.

Der Zorn des Königs, hat schon Salomo gesagt,

Ist schrecklich! (Doch kein Hirsch versteht zu lesen.)

Besonders schrecklich ist des Löwen Zorn gewesen.

Er rief: »Derweil ein jeder klagt,

Ist dir, du Wicht, zu lachen beigefallen?

Wir werden nicht die königlichen Krallen

An dir besudeln. Kommt, ihr Untertanen,

Ihr Wölfe, rächt die Königin

Und richtet diesen Frevler hin

Als Opfer für die heiligen Manen!«

»Herr,« sprach der Hirsch, »vorbei die Zeit zum Weinen!

Das Jammern will mir überflüssig scheinen.

O daß Ihr's doch gleich mir gesehen hättet!

Denkt, Euer wertes Weib ist mir erschienen,

In Blumen sanft gebettet,

Und ich erkannte sie sogleich.

Freund, sprach sie mit verklärten Mienen,

Ich schwebe in der Götter Reich.

Laß ab, mit Trauer mir zu dienen.

Mit jenen plaudernd, die in Seligkeit mir gleich,

Darf im Elysium tausend Wonnen ich genießen.

Doch mögen noch für einige Zeit

Des Königs Tränen um mich fließen,

Denn wohl tut mir sein edles Leid.«

Kaum daß man dies vernommen,

Da rief man: »Wunder! – Himmelsglück!«

Der Löwe zog sein Urteil schnell zurück,

Statt Strafe hat der Hirsch ein Dankgeschenk bekommen.[149]

Bringt Märchen euren Fürsten dar,

Mit Schmeichellügen müßt ihr sie bedienen!

Wie tief gekränkt ihr Herz auch war,

Sie beißen an, und Freunde seid ihr ihnen.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 147-150.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln, Sonderausgabe
Sämtliche Fabeln.
Hundert Fabeln

Buchempfehlung

Haller, Albrecht von

Versuch Schweizerischer Gedichte

Versuch Schweizerischer Gedichte

»Zwar der Weise wählt nicht sein Geschicke; Doch er wendet Elend selbst zum Glücke. Fällt der Himmel, er kann Weise decken, Aber nicht schrecken.« Aus »Die Tugend« von Albrecht von Haller

130 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon