Der Fuchs und der Wolf

[198] Wie kommt's, daß uns so oft Äsop

Gesungen hat des Fuchses Lob –

Sein Lob als allerschlauster Wicht?

Ich such den Grund und find ihn nicht.

Wenn ich den Wolf mit ihm vergleiche:

Hat der sich seiner Haut zu wehren,

Lockt den nach Beute sein Begehren,

So übt er wohl noch beßre Streiche.

Ich glaub's – und wäre ich nur dreister,

So widerspräche ich dem Meister

Und seiner anfechtbaren Lehre.

Doch hier ein Fall, wo alle Ehre

Tatsächlich dem gebührt, der Malepart bewohnt.


Im Brunnengrund sah eines Nachts der Fuchs den Mond –

Kreisrundes Bild, das ihm ein voller Käse schien.

Zwei Eimer dienten da, wechselnd das Naß zu ziehn,

War einer oben, hing der andre in der Tiefe.

Nun war dem Hungerherrn,

Als ob der Käse riefe,

Er möchte herzlich gern

Von ihm gefressen sein;

Und also stieg er in den obern Eimer ein

Und sauste nieder – um den Irrtum einzusehen.

O welche Not! Er sieht, es ist um ihn geschehen.

Wie könnt er je zurück, wenn nicht ein andrer käme

Und gleich wie er berückt den andern Eimer nähme,

Daß seiner wieder aufwärts stieg zum Brunnenrand?

Doch keiner kam – und schon der zweite Tag entschwand.[199]

Zwei Nächte hatten merklich jetzt, wie ihr begreift,

Das volle Rund des Monds am Rande ausgeschweift.

Verzweifelnd stöhnt der Fuchs – da kommt der Nimmersatt

Von Wolf vorbei. »Kamrad!« rief jener laut, »schau her,

Erblickst du meinen Fund? Ein Käse rund und schwer,

Den Faun, der Gott, aus Ios Milch geknetet hat!

Selbst Jupiter gewänne, wär er krank,

Durch ihn den Appetit zurück

Nach seinem edlen Nektartrank.

Ich aß vom Rande hier ein Stück,

Der Rest wird dir als Mahl genügen.

Ich gönnte keinem andern,« fuhr er fort zu lügen,

»Ein solch olympisch Schlemmerglück,

Nur dir, mein liebster Freund, allein.

Genieße dies mit vollen Zügen.

Steig in den Eimer oben ein,

Den ich für dich dort hingehängt,

Und fahr herab, um hier so recht vergnügt zu sein.«

Hübsch war die Rede ausgeschmückt.

Der Wolf ist Narr genug, daß er sich selber fängt.

Der Rote lacht, wie alles glückt.

Der Eimer sinkt, und sein Gewicht

Entführt den andern Teil:

Es steigt der Fuchs zum Sternenlicht,

Nicht zu des Wolfes Heil.


Doch spottet dieses Toren nicht!

Ihr selber laßt euch gern und oft

Verführen von so ungewissen Dingen.

Gar leicht ist's, euch in gleiche Not zu bringen,

Da jeder glaubt, was er erhofft.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 198-200.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln, Sonderausgabe
Sämtliche Fabeln.
Hundert Fabeln

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Condor / Das Haidedorf

Der Condor / Das Haidedorf

Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon