Einleitung des Verfassers

Endlich wurde es wieder dunkel; der Tag war wieder mit erdrückender Langsamkeit vorübergezogen, und mein Geist empfand wieder die Fähigkeit einiger Spannung.

Es wird den Glücklichen wunderlich klingen, welche damals ohne Sorge gelebt haben und von der Sonne Italiens entzückt worden sind. Ich spreche nämlich von dem Jahre des Heils aller Weinbauer und Weintrinker, von dem italienischen Sommer, der sich nach Deutschland verirrt harte, vom Sommer 1834. Es wird ihnen wunderlich klingen, daß jemand gerade von der Schönheit dieses Sommers gepeinigt worden sei. Und doch war dem so. Die politische Konsequenz fragt nicht nach der Billigkeit und nicht nach der Jahreszeit: die ganze Hausvogtei in Berlin war angefüllt mit jungen Männern aus allen Teilen des Vaterlandes. Oben vom Rhein und unten vom Kurischen Haff her, aus den Tälern des Riesengebirges und aus den Wäldern Westfalens waren sie hierher in die Mark gebracht worden, um Rechenschaft zu geben über längst vergessene Dinge. Diejenigen wenigstens, welche jetzt zu solchem Ende ihren Ämtern entrissen waren, die jungen Prediger, Lehrer, Rechtsgelehrten, sie konnten nur von längst altmodisch gewordenen Phantasien der Politik erzählen, und der Inquirent war viel besser unterrichtet über ihre Memoiren studentischer Ausgelassenheit als irgendeiner von ihnen, welche Geständnisse machen sollten, und dieser Geständnisse halber ins Gefängnis gesetzt wurden jahrelang. Diese Memoiren-Konsequenz ging aus von einem einzigen kleinen Manne, den dieser Gedanke später so verfolgt hat, daß er sich in ihm bis zum Wahnsinn steigerte. Als die vielen Zellen der Hausvogtei längst leer waren von den jungen Männern, deren einige hier vor Einsamkeit und Sorge den Wahnsinn umarmt hatten, da[9] versammelten sich die Gespenster dieses Gefängnisses in dem Hirne jenes kleinen Mannes, und kehrten die Schreckbilder, welche er heraufbeschworen, gegen ihn selbst; er hielt sich selbst für einen Demagogen und ward von diesem gespenstischen Gedanken in den Tod gejagt.

Im Sommer 1834 konnten dies nur die Poeten voraussagen; die außen sonnige, innen so traurige Wirklichkeit wußte nichts davon. Alle Zellen waren besetzt, auch die neu eingerichteten auf der Abendseite, wo ganz kürzlich die Räume eines Waschhauses in kleine Gemächer abgeteilt worden waren zur Aufnahme neuer Ankömmlinge. Denn alle die andern Flügel der inneren Höfe waren voll. Diese Abendseite des Waschhauses ward gerühmt wegen der Kühle in so heißem Sommer, und man versicherte mir, ich hätte es sehr gut getroffen, gerade hier mein Unterkommen gefunden zu haben.

Monatelang hatte ich schon nachdenken können über dieses Glück, denn der handbreite Streifen Himmel, welchen ich über der Blechblende meines hoch oben angebrachten Fensterchens entdecken konnte, war einen Tag wie den andern blau und klar, die eindringende Luft war immer warm, und der Schimmer steten Sonnenscheines kam auch zu mir herab, obwohl die Sonne selbst nicht zu mir konnte.

Schreckliche Einförmigkeit eines ungetrübten goldenen Wetters! Ich war darauf angewiesen, meine Gedanken zu nähren von den kleinen Abwechselungen, welche durch die wenigen Spalten von außen zu mir dringen konnten. Und vor der Tür klang der ewig gleichmäßige Fußtritt der Schildwacht, über dem Fenster schimmerte der ewig gleichmäßige Streifen Himmel. Wenn es doch ein einziges Mal regnen, wenn doch nur einmal ein Gewitter kommen wollte! Diese Gleichmäßigkeit verwischt alle Umrisse des Geistes und des Lebens; man unterscheidet nichts mehr, es ist kein Denken mehr möglich, man verfällt ins Brüten.

Ich hatte kein Buch, nicht ein einziges Buch. – Tisch, Schemel, Bett, blechernes Nachtgeschirr, blechernes Handbecken am Boden, daneben der tönerne Wasserkrug, dies waren meine Gerätschaften für Leib und Geist.

Ich war längst darüber einig, daß in den Mönchszellen von ähnlicher Art und in solcher Zelleneinsamkeit nichts Großes habe entstehen können. Abwechselnde Veranlassung, sei sie noch so gering, braucht der Geist, um zu schaffen, um nicht zu verdumpfen. Die[10] verdumpften Scharen der Mönche gaukelten vor mir umher wie eine Heuschreckenwolke. Man glaubt vielleicht, ich sei immer noch in besserer Lage gewesen als ein anderer, dessen Phantasie nicht so geübt worden. Der Schriftsteller könne deshalb leichter Gefangenschaft ertragen als zum Beispiel der Mathematiker. Ich glaube dies nicht. Die Tätigkeit der Phantasie braucht mehr als irgend eine andere ihre Ableitung und ihre Grenzen, wenn sie nicht in ihrem Extreme untergehen soll. Ohne Ableitung und Grenzen werden die Einzelheiten unverhältnismäßig aufgeblasen; sie überfüllen allen Raum des Gehirns und ersticken den Gedanken. Es entsteht Phantasterei, fixe Idee, Irrsinn. Jedermann kann auch ohne Gefängnis an sich erfahren, wie unerquicklich und peinlich es ihm werden kann, wenn ihm mitten in der Stimmung des Unbehagens ein Bild aufgeht, welches ihm nicht gefällt. Kann er seine Lage nicht verändern, kommt ihm von außen nichts zu Hilfe, so wird er das Bild nicht wieder los und es wächst fratzenhaft. Frömmelei und dergleichen Übertreibungen haben ja stets in solcher Überwucherung der bloß phantastischen Eigenschaften ihren Ursprung. Ich fand im Gegenteile den Mathematiker beneidenswert, und beklagte es, daß mein Gedächtnis nicht geübter sei in Festhaltung von Zahlen, denn solche trockene Aufgaben des Verstandes leisteten der Langeweile einen viel kräftigeren Widerstand. Bei ihnen sind die Gesetze immer nahe, und je mehr Grenzen man findet, desto leichter erhält man sich im Gleichgewicht. Langeweile und Verzweiflung sind ja aber besonders Mangel an Gleichgewicht.

Ich erinnere mich, daß mich ein pikantes Novellenthema eine Zeitlang beschäftigte. Es knüpfte sich an den ausschweifenden Borgia, welcher auf den päpstlichen Stuhl gehoben wurde. Auf seinen Streifereien findet er in der Einsamkeit der Campagna ein schönes Mädchen und gewinnt als verführerischer Mann die Liebe desselben. Das Mädchen kennt ihn natürlich nur unter falschem Namen. Sie ist orthodox in dem Glauben auferwachsen, daß der Papst hoch über allen menschlichen Bedingungen ein Stellvertreter Gottes, eine Gottheit in scheinbar menschlichem Leibe sei. Zu einem Kirchenfeste kommt sie nach Rom hinein und betet in St. Peter, den Himmel im Herzen in Gestalt ihres Geliebten. Da erscheint der Papst. Sie sieht mit halbgeöffnetem Auge zu ihm auf und senkt erschrocken das Auge wieder. Eine sündhafte Phantasie, meint sie, habe ihr Auge[11] geblendet und dem heiligen Vater den Kopf ihres Geliebten aufgesetzt. Aber die Stimme, welche jetzt den ambrosianischen Lobgesang anstimmt! Sie muß wieder hinblicken. Es ist keine Täuschung! Er ist's. Nun male man den Zustand dieses Mädchenherzens. Bald ist es heimlicher Jubel, genährt durch Legenden, in welchen heilige Personen das sterbliche Fleisch gewürdigt und geweiht haben, bald ist es Verzweiflung über das Schicksal eines furchtbaren Kirchenfrevels, und das Ende wird lieblicher Wahnsinn. Wie denn im Gefängnisse alles auf diese Grenzenlosigkeit hinausgeht und immer furchtbar schnell bei dieser Grenzenlosigkeit ankommt. Das ganze Thema wurde mir schnell zur Pein, weil ich keine Hilfsmittel hatte, es zu ordnen und in gewisser Ordnung festzuhalten. Das endlich wahnsinnige Mädchen knixte mir unter wahnsinnigen Gebärden auch in alle Szenen hinein, die der Entwickelung vorausgingen, wenn ich mir die Szenen ausbilden wollte. Ich ward wie besessen und hatte die größte Not, das Thema wieder loszuwerden.

Rankes Päpste waren eins der letzten Bücher gewesen, welches ich gehabt hatte in der anfänglichen, milderen Haft. Ach, wie unschätzbar erschienen mir damals Bücher, recht schwere Bücher voller Stoff, in denen jede Zeile zum Stillstand und zu genauer Umschau nötigte. Über ihnen, meinte ich, müsse der aufgelöste Geist wieder Halt gewinnen, Inhalt und Genesung.

Wo gibt's denn Halt? schrie ich auf, daß die Wache auf dem Korridor stehen blieb und zur Warnung für den Störenfried den Kolben auf das Pflaster stieß – wo gibt's denn Halt? Die größten Einrichtungen der menschlichen Geschichte, gewähren sie ihn denn? Gewährt ihn denn Kirche und Staat? Du hast ja Theologie studiert, du erinnerst dich ja der Kirchengeschichte! Welches Schwanken, welcher Kampf, welcher Wechsel! Heute verbrannt wegen einer kleinen Idee, welche im Augenblicke nicht beliebt ist, morgen im Triumph erhoben auf den Gipfel der Jahrhunderte um derselben Idee willen. Und wärest du gläubig, du verfielest harter Strafe, weil du obiges frevelhafte Novellenthema nur gedacht. Hast du es denn erdacht? Ist dir es nicht gekommen, wie das Schicksal kommt? Könntest du nicht um deswillen im Kerker liegen unten in der Engelsburg zu Rom, und wärest du darum schuldiger, als weil du über den Staat dich geäußert, wie das Schicksal dir den Gedankengang zugeführt? Der Staat wenigstens ist doch Ergebnis des Menschengeistes. Hier[12] scheint doch also dem denkenden Menschen die Bemerkung freizustehen. Ja, aber er muß sie büßen, wenn sie nicht in Macht kommt, wenn sie die eben herrschende Macht stört. Ich schmachte hier, und weiß doch, daß ich diesen Staat, in dessen Gefängnis ich liege, wenigstens nicht minder liebe und gewiß nicht minder gefördert sehn will als derjenige, welcher mich hierher geworfen. Ich habe nur andere Wege vor Augen als dieser. Was gibt denn also außen Halt und Stütze, wenn diese größten Einrichtungen dir unter den Füßen weichen können wie Sumpf und Flugsand? Du selbst mußt dir Halt und Stütze sein, in dir selbst muß eine geschlossene Welt leben, deine Persönlichkeit muß fest sein, dann wird alles Draußen gleichgültig. Eigner Charakter ist die Hauptsache in einer Welt ohne allgemein geglaubtes Dogma. Eigner Charakter? Worin ist er verschieden von grundsätzlichem Egoismus?

Innerhalb dieser Frage müßte sich der Held einer wirklich modernen Tragödie bewegen.

In diesem Tumulte erschien mir plötzlich Name und Gestalt Monaldeschis. Woher er kam? Ich weiß es nicht; ich erinnere mich nicht, irgendwo diesem bloß abenteuerlichen Menschen besondere Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Ich wußte nichts über ihn, als was die gewöhnliche historische Bildung mit sich bringt. Wie eine Geistererscheinung stand er plötzlich vor mir und wankte und wich nicht. Er trug schimmernde Kleidung in Rot und Silber, und diese Kleidung war zerrissen durch Degenstiche, aber ein Tropfen Bluts war nirgends zu sehen, und die Schönheit des männlichen Antlitzes war nicht entstellt durch ein ironisches Lächeln, welches darauf festgegraben schien.

Es kamen nun einige Tage, deren Last ich nicht merkte, weil ich hinreichend zu tun hatte, die Charakterzüge dieses Menschen in mir auszubilden, die Situationen zu suchen und zu ordnen. Aber nach diesen Tagen eilte ich in glücklicher Zerstreuung an meinen fichtenen Tisch, um die Skizze durch Aufzeichnung festzuhalten. Der Tisch war leer wie eine Tenne; ich besaß kein Schreibzeug. Hätte ich damals schon gewußt, daß ich sechs Monate lang, an die zweihundert Tage! dies Handwerkszeug entbehren sollte, ich wäre vielleicht von Sinnen gekommen.

Das geschah nicht. Ich verlebte einen Tag nach dem andern in dieser bleiernen Eintönigkeit, und das Erwachen früh brachte lange Zeit immer wieder den stechenden Schmerz, welcher den Körper[13] durchzuckt von oben bis unten. Schlaf und Traum befreien. Im Traum war ich niemals gefangen, und darum war das Erwachen stets so fürchterlich, so fürchterlich besonders wegen der gähnenden Untätigkeit, die vor mir lag. War ich angekleidet, so waren die Geschäfte des Tages beendet. Das Aufundniedermessen der sieben Schritte war alles, was mir bevorstand, und das Heer der Gedanken, welches nach einigen Stunden in wilder Unordnung war und mich auf den Schemel oder das Lager warf, es harrte meiner mit gezogenen Säbeln, gespannten Büchsen und dem ganzen Train verwilderter Phantasie.

Auch das ward anders, wenn auch spät. Von Zeit zu Zeit ward mir die traurige Litanei vorgesungen, ich habe gar keine Aussicht, jemals wieder frei zu werden, denn aus Schriften lasse sich ja alles beweisen. Die Litanei ward endlich eine schwermütige Überzeugung, die niemals ausgesprochen wurde, aber unter härenen Decken im verborgensten Winkel des Sinnes lag.

Unter diese Decken mußte auch Monaldeschi geraten sein. Er trat nicht wieder vor meinen Sinn und war vergessen, besonders als ich frei wurde und wenigstens der Gedanke ewiger Gefangenschaft weggeräumt war aus jenem Winkel. Damit mochte auch er weggeworfen worden sein.

Fünf Jahre lang schien es so. – Der Leser möge sich drein ergeben, daß ich ihm eine Entstehungs- und Lebensgeschichte aufnötige. So viel Wichtigkeit für sein Werk und für sich nimmt der Autor ja doch in Anspruch, wenn er einmal drucken oder aufführen läßt, und ein Akt des Anspruchs bleibt ja doch jede Veröffentlichung. Ich habe vielfältige Gründe, beim Druck meiner Stücke in die Entstehungs- und Lebensgeschichte derselben einzugehen, und um dieser Gründe willen, die hoffentlich einleuchten werden, möge man das anscheinend nur Persönliche in diesen Einleitungen günstig ansehen. Es ist sich keineswegs Selbstzweck; es soll nur Brücken bilden zu unserm Theater. Unser Theater ist der Zweck. Zur Beleuchtung desselben komme ich sicherlich auf diesen Wegen, vielleicht auch zu einiger Förderung desselben.

Ich wußte also nichts mehr von jenem Gefängnis-Monaldeschi, als ich zwei Jahre wieder in Freiheit verlebt und im Sommer 1837 meine Festungshaft angetreten hatte. Und doch schien mein Gedanke an dramatische Tätigkeit unzertrennlich zu sein von dem Gedanken[14] an Schloß und Riegel und Haft. Diesmal war sie milde, die Gefangenschaft: das Gerichtshaus lag an einem See mitten in einem schönen Parke, einem stattlichen Schlosse gegenüber. Meine Zelle war ein Saal geworden, statt des Fensterchens hatte ich acht Fenster, nach drei Himmelsgegenden gerichtet, und ich sah die Sonne über einem buschigen Hügel aufgehn, hinter einem grünen Wiesenhügel von englischer Schönheit untergehn. Statt der Schildwacht zogen Schwäne an meinen Fenstern vorüber, und ich konnte lesen und schreiben, soviel ich mochte. Auch hinabwandeln durfte ich in den Park bis an gewisse Grenzen, und nur wo Menschen öffentlich zu gegenseitiger Unterhaltung beisammen waren, da war ich durch meine Verpflichtung ausgeschlossen. Es gehört dergleichen zur deutschen Romantik: solange man bloß untersucht wird und vollkommen unschuldig sein kann, da wird man gepeinigt; sobald man verurteilt ist, hat die Strafidee ihr Genüge erhalten. Letzteres möcht' ich um des Himmels willen nicht angreifen, aber der Himmel möge es mich erleben lassen, daß die Idee der Untersuchung mildere Formen finde, daß der bloße Verdacht nicht mehr hinreiche, einen Menschen unglücklich zu machen. Die Gesellschaft muß sich sicherstellen, aber sie muß es auch dadurch, daß sie ihre einzelnen Mitglieder respektiert, und das einzelne bloß verdächtige Mitglied muß der Tat nach um Entschuldigung gebeten werden, daß man es seiner Freiheit beraube. Untersuchungshaft muß also nur darin Haft sein, daß der Verhaftete keine Mittel habe, die Wahrheit zu verhehlen oder zu verfälschen, übrigens aber muß sie, solange nicht irgend einer Tortur das Recht zur Untersuchungshilfe eingeräumt wird, die mildeste Haft sein, welche man ersinnen kann.

Trotz aller lieblichen Umgebung meiner neuen Haft, trotz des lebhaft erwachenden Gedankens ans Drama dachte ich mit keiner Silbe mehr an Monaldeschi, der doch hier sein Leben auf einem Lustschlosse der Königin Christine so täuschend hätte nachspielen können. Ich dachte, fern von allem bürgerlichen Leben, nur an das bürgerliche Drama. Im Schreiben einer Literaturgeschichte hatte ich mir klar gemacht, daß trotz Schiller und Goethe in Deutschland immer nur das bürgerliche Drama populär gewesen sei. Das Familienleben ist jahrhundertelang allein wahrhaft lebendig gewesen unter uns, und nur das wahrhaft Lebendige findet von der Bühne aus elektrische Wechselwirkung. Alles andre, sei es noch so[15] vortrefflich, muß sich mit dem »Erfolge der Achtung« begnügen. Vielleicht mag das anders unter uns gewesen sein in der alten Kaiserzeit, da jede Reichsstadt noch als politische Selbständigkeit ein unmittelbares Interesse hatte an Politik. Aber was hilft uns das? Das schwarz-rot-gold behangene Reichsroß ist schön und stattlich, aber es hat mit Rolands Rosse den einzigen Fehler gemein: es ist tot. Gewiß ferner ist es anders gewesen und ist es noch mit den religiösen Interessen. Was man auch sagen mag, sie sind der lebendige Punkt unsrer Politik, der lebendige Punkt unsrer Kunstformen. Sprecht von Liberalismus, von Konstitution, von Republik, ihr findet nur gebildete Zustimmung oder Ablehnung, ihr findet nur jenen matten Ton, welcher dem abstrahierten Interesse entspricht. Sprecht von Luther, vom Papste, vom Glaubensbekenntnisse, und die Äußerung leidenschaftlichen Anteils fliegt euch entgegen.

Ich weiß wohl, daß dies unsern Ohren nicht angenehm klingt. Die Sorge um das Ewige ist uns verleidet worden, der Streit um Symbole, deren wir uns nicht bedürftig fühlen, scheint uns störend, solange nicht die große Anzahl schwebender Fragen um irdische Formen erledigt ist. Aber ich frage nicht nach dem, was uns gefällt, sondern nach dem, was vorhanden. Außerdem glaube ich auch, daß eine Nation wie die unsrige gar wohl angetan ist, aus diesen Glaubensstreitigkeiten ein freies, tiefes Moment für ihre Lebensformen zu gewinnen, welches dem hierin oberflächlichen Franzosen und dem hierin äußerlich pedantischen Engländer fehlt, ein Moment neuer Poesie, nachdem die Fragen über Glaubensbekenntnisse abgeklärt sind zu klassischen Sätzen poetischer Anschauung. Leider sind unsre Glaubensstreitigkeiten nicht durchgefochten worden, und die Nation ist in einer Spaltung verblieben, welche jeglicher Kunst die Existenz unter uns erschwert. Denn die Kunst erhebt sich bei uns entweder ganz und gar über die geschichtliche Seele des Vaterlandes, und bleibt eben dadurch in einem gewissen abstrakten Verhältnisse zur Nation, wie wir dies bis zur Trostlosigkeit erlebt haben und erleben, oder sie schließt sich den Traditionen eines Glaubensbekenntnisses an, und verfällt dadurch der Parteiung. Diese Parteiung ist nichts so Geringes, als der katholisch oder protestantisch dichtende Künstler glauben mag. Jener fühlt sich stolz in der Anknüpfung an die große Reihe von Jahrhunderten, und meint, eben deshalb sei der göttlich historische Nimbus der seinige. Dieser empfindet sich[16] stolz im Gedanken des Sieges, welchen die prüfende Vernunfttätigkeit geltend gemacht, in der Losung »Vorwärts«, und er nennt den Nebel der Zukunft seinen poetischen Nebel. Aber beide leiden von der unausgefochtenen Geschichte. Sie finden Anhang, aber sie finden nicht die Nation. Und was eine ganze Nation vereinigt, das ist immerdar viel mehr, als was einen Anhang vereinigt. Je mehr Glieder verschiedener Art zu einem Bau vereinigt worden, desto fester und inniger geschlossen, desto reicher und mächtiger ist dieser Bau, desto größere Welt strahlt von ihm aus. Dies ist die großartige Bedeutung dessen, was Geschichte geworden für die Poesie. Die gefundene Idee, von welcher die Philosophen sprechen, ist für die Poesie von schwachem Werte. Was man in diesem Zusammenhange »Idee« nennt, das kann für die Poesie gar nicht gefunden werden. Es muß nicht bloß gedacht, es muß entstanden, es muß geworden sein. Die Poesie hat es nur auszusprechen, die Kunst hat es nur zu gestalten, es muß vorhanden sein, wenn auch nicht für den Alltagsblick; es muß Geschichte sein, oder wenigstens auf dem Punkte der Reife stehen, um durch die Tat des Künstlers als geschichtlich empfunden und anerkannt zu werden.

Weil dies nicht zugegeben wird, richtet die fordernde philosophische Kritik soviel Verwirrung an in unsrer Poesie, und weil dies nicht eingesehen wird, treffen die katholisch oder protestantisch schaffenden Künstler nur ein vergangenes oder nur ein einseitiges Leben. Ein katholischer Protestantismus, oder wenn man das lieber will, ein protestantischer Katholizismus allein ist bis jetzt immer nur die geschichtliche deutsche Seele gewesen für den organisch schaffenden Künstler.

Was wäre damit anzufangen gewesen für die Bühne? Unermeßlich viel. Die Bühne hätte in höherem Sinne das übernommen, was der tugendbeflissene Alltagsgeschmack von ihr zu fordern pflegt, und was er zur Entschuldigung des Gaukelspiels die »moralische Wirkung« nennt. Sie hätte dies geleistet, ohne auf den geringeren Standpunkt dieser Forderung hinabzusteigen. Sie hätte gelehrt, ohne zu dozieren; sie hätte gebildet, ohne zu lehren; sie hätte gestaltet, was vor zehn Jahren in unserm Vaterlande überall der Gestaltung harrte. Das katholische wie das protestantische Deutschland war vor zehn Jahren bereit, eine Einigung zu suchen, welche über den Glaubensformeln stände: die Poesie konnte einen besseren Frieden[17] zustande bringen als jenen westfälischen, welchen nur die Erschöpfung, nicht der friedliche Sinn geschlossen.

Warum ward diese Aufgabe verachtet? Verachtet ward sie nicht, wenn auch nichts zu ihrer Lösung geschah. Und es konnte nichts zu ihrer Lösung geschehen, und es kann nichts zur Lösung ähnlicher Aufgaben durch die Bühne in Deutschland geschehen, weil man der Bühne keine Unbefangenheit gestattet. Materiell unterstützt man die Kunst, aber die Seele der Kunst knechtet man, indem man von vornherein bestimmt, was sie zum Vorschein bringen dürfe. Dies Geschwätz auch unter sogenannten Konservativen über den Verfall dramatischer Kunst, dies Achselzucken darüber und Traurigsein! Als ob man sich beklagen könne über die Verkümmerung einer Pflanze, wenn man selbst ein enges Bretterhaus um die Pflanze gezimmert, welches die Höhe und die Breite der Pflanze vorausbestimmt! Ja, warum wächst denn die Pflanze nicht wenigstens so hoch und so breit, als ihr erlaubt ist! rufen sie wohl gar.

Die Entwickelung poetischer Lebensfragen ist auf der Bühne nicht möglich, solange die Bühnen in halb offizieller Weise den jedesmaligen Standpunkt der Regierung, ach und nicht bloß der Regierung, sogar der Höfe vertreten sollen. Die Regierung hat andere Aufgaben als die Kunst. Sie mag letztere bis auf einen gewissen Punkt überwachen. Dieser Punkt ist ohnedies der Grenzpunkt zwischen Kunst und Spektakel. Was jenseits des Spektakels liegt, muß unberührt von ihr bleiben, und kann es auch im Interesse einer guten Regierung. Denn jenseits dieses Punktes liegt nichts Störendes und Aufregendes mehr; was Kunst geworden ist, das hat keine rohen Elemente mehr. Das Anregende aber soll eine gute Regierung willkommen heißen, soll sie um die höchsten Preise fördern, es wird ihr selbst unerläßlicher Lebensatem, und was Kunstwerke anregen, das ist immer wohltätig, denn eben als Kunstwerke sind sie durch die ihnen einwohnenden Gesetze über alles Gemeine erhaben.

An diesem Hindernisse hatten wir noch nicht genug; denn wir haben nicht nur einen katholischen und einen protestantischen Staats- und Glaubensvertreter an den deutschen Hoftheatern. Wäre dies, so könnt' es immer noch einiges Gedeihen geben, da in der Tat die protestantische Seite den poetischen Gedanken einer Glaubensverschmelzung freisinnig gestalten läßt. Wir haben aber auf katholischer Seite dreifach verschiedene, auf protestantischer Seite sechsfach[18] verschiedene Staats- und Glaubensvertreter, und in der Zeit des Friedens befolgen die Protestantischen nicht nur untereinander, sondern auch gegen die Katholischen sogenannte »Konnivenz«, das heißt, sie weisen nicht nur ab, was zu Hause unbehaglich erscheinen möchte, sondern sie beseitigen auch gelinde, was außer dem Hause, was drüben im andern Staate Unbehagen erregen könnte, dadurch erregen könnte, daß es nur überhaupt irgendwo vorhanden. Kurz, man verhält sich solidarisch ablehnend gegen die dramatische Kunst.

Ist dies genug des Hindernisses? Nein; denn es betrifft nach dem Obengesagten nur die höchsten Interessen in Glaubens- und Staatsfragen. Die untergeordneten Fragen machen aber dieselben Ansprüche auf sogenannten Schutz, und da unter neun Hauptvertretern – der Kürze wegen übergehen wir dreißig – sich die Rücksichten schon so reichhaltig kreuzen können, um das dichteste Netz zu bilden, so mache man sich eine Vorstellung, welche mauerartige Verschränkung entsteht gegen jedes neue Stück von einiger Bedeutung.

Damit sind wir aber noch nicht am Ende, denn es handelt sich bei den Hindernissen nicht nur um Satz und Theorie, es handelt sich auch um Familien und Personen. Die unglückliche Idee, mit dem Begriffe Hoftheater auch Begriffe der Hofetikette zu verbinden, hat unabsehbare Folgen. Gäbe es nicht einzelne Fürsten, welche großen Sinnes diese zerstörenden Vorbedingungen überschreiten ließen, so wäre das deutsche Drama schon längst erstickt. Er fristet sich nur von Ausnahmen, welche jener große Sinn einzelner, welche augenblickliches Bedürfnis oder persönlicher Einfluß und Zufall zuwege bringen; grundsätzlich würde der konsequente Begriff des Hoftheaters, welcher über Leben und Tod des deutschen Dramas entscheidet, das deutsche Drama nur zum bedeutungslosen Spiele werden lassen.

Ja, endlich kommt zu all diesen Hindernissen auch noch der Schutz des Auslandes. Das heißt: wir schützen das Ausland gegen uns. Irgend eine historische Begebenheit, welche dem Gedächtnisse eines fremden Staates unbequem sein könnte, die wird von unserm Theater ferngehalten. Manche Gesandtschaften haben sogar in diesem Punkte mehr Aufmerksamkeit bei uns zu erwarten, als ihre Regierung im eignen Lande in Anspruch nimmt. Es gibt nichts Grelleres, als wenn man in diesem Punkte das Repertoire Frankreichs und Englands mit dem unsrigen vergleicht. Von Katastrophen[19] im Auslande gar nicht zu reden, denn ein Franzose und Engländer würde es ganz und gar unbegreiflich finden, die Darstellung derselben zu beeinträchtigen, solange die Darstellung in einem würdigen Stile sich bewegt; – ein Franzose und Engländer findet es ferner unzweifelhaft natürlich, daß sein Interesse als Autor und Publikum ganz und gar in erster Linie stehe und daß eine Frage der Höflichkeit gegen das Ausland eine untergeordnete sei. Er hat noch ganz andere Dinge voraus! Der Engländer hat einen Shakespeare aufzuweisen, welcher vor der Königin Elisabeth die englischen Königstragödien aufführen durfte, welcher selbst den Vater der zuschauenden Königin, Heinrich VIII., dramatisch vorstellen durfte! Der Franzose hatte selbst in der strengen klassischen Zeit seines Royalismus dem ästhetischen Gesetze nach vor Augen: daß eine Katastrophe nur dreißig Jahre verflossen sein müsse, um der dramatischen Weihe teilhaftig zu sein.

Und wir? Ich will dies Thema hier nicht erschöpfen, da ich bei Herausgabe meines Stückes »Struensee« imstande und genötigt sein werde, die erstaunlichsten Data anzugeben für die bei uns herrschenden Maßstäbe. Sind es Maßstäbe, sind es schwankende Bedenklichkeiten? Unsere dramatische Literatur leidet in dem einen wie in dem anderen Falle, und die Autoren, welche streng vaterländische Stoffe gefunden, sie haben eine solche Reihe Maßstäbe oder Bedenklichkeiten beizufügen, daß der gedankenloseste Kritiker in seiner literarisch scheltenden Frage: Warum haben wir kein historisches Drama? stocken muß.

So genau kannte ich nun freilich alle die Gräben, Hecken, Verhaue und Gitter nicht, welche unser höheres Drama bedrohen, als ich im Jahre 1837 die dramatische Schriftstellerei wieder aufnahm. Aber unbekannt war ich damit nicht, eben weil ich diese Gattung der Schriftstellerei wieder aufnahm, weil ich sie früher schon betrieben hatte. Das Theater nämlich hat mich zur Schriftstellerei geführt. Von früher Jugend auf habe ich für das Theater das lebhafteste literarische Interesse gehabt. Wenn ich mir's genau vergegenwärtige, so sehe ich, daß ich als lernbegieriger junger Mensch jahrelang die Literatur nur im Theater sah, daß ich mir einbildete, alle andre Schreiberei sei nur Vorbereitung dazu, um von der Bühne herab eine so lebendige Wirkung zu erreichen. Ich erstaune jetzt, wie ich als Knabe soviel habe in mich aufnehmen und wie ich bis zu einem gewissen Grade Stoffe habe verarbeiten können, die doch über meinem Kreise liegen[20] mußten. Wahrscheinlich hat wohl eben die dramatische Form in meiner Auffassungsfähigkeit ein entsprechendes Organ gefunden. Bücher aus damaliger Zeit habe ich vergessen, aber aus einer theatralischen Saison, die gewiß länger als ein Vierteljahr dauerte, und während welcher täglich gespielt wurde, erinnere ich mich noch jedes Stücks. Von Opern konnte in der kleinen Stadt und mit der reisenden Butenopschen Gesellschaft nicht sehr die Rede sein; ein paar Singspiele abgerechnet, hatte ich also gegen hundert Stücke, sicherlich das ganze damals gangbare deutsche Repertoire gesehen und behalten. Denn wir erschraken nicht etwa vor Stücken wie die »Braut von Messina«, wir gaben alles, und die Illusion eines Knaben wurde nicht leicht gestört. Im Gegenteile erhöhte ein wildes Gewitter, welches die alte Reitbahn während einer Vorstellung der »Kreuzfahrer« erschütterte, den Eindruck für mich. Weil das Dach der Reitbahn Löcher hatte, und es empfindlich einregnete, mußten die Zuschauer in Haufen zusammenrücken auf die trocknen Orte, und dieser Anblick der haufenweise zusammengepreßten Zuschauer schien mir wohl eine Folge der ängstlichen Spannung zu sein, welche das bedrohte Schicksal Balduins von Eichenhorst und Emmas von Falkenstein hervorgebracht. Auch das ängstliche Gewissen mochte meine Spannung erhöhen. Ich war ein armer Bub und hatte nicht im entferntesten die Mittel, täglich zwei Groschen für den letzten Platz zu erschwingen. Auch nicht einen Groschen, denn wir feilschten an der Kasse, und es gelang wohl manchmal, besonders wenn es nicht voll wurde, daß einer von uns für die Hälfte des Preises hinein durfte. Ich mußte andre Wege suchen, und ich fand sie, wenn auch unter Schwierigkeiten und Demütigungen. Was versucht und erträgt nicht die Passion, und Theater war meine Passion. Ich brachte allabendlich einem zweiten Liebhaber den kleinen Handspiegel, welchen ich für diesen Zweck meiner Mutter abgeschwatzt hatte. Er war nicht fehlerlos, dieser Spiegel; nicht unbedeutende Partien Quecksilber waren seinem Rücken untreu geworden, und diese Untreue machte im Laufe der Saison Fortschritte. Das bemerkte auch der zweite Liebhaber und schalt. Aber ich ließ mich dadurch nicht irre machen, und schlich allabendlich mit meinem Spiegel bewaffnet an der Kasse vorüber. Wurde ich angeschrien, so hielt ich mein Instrument wie ein blendendes Schild vor, und ohne mich auf Erörterungen einzulassen, schlüpfte ich hinauf hinter die[21] Kulissen. Dort stellte ich ihn an des zweiten Liebhabers Ankleideplatz in möglichst gutes Licht und verschwand durch ein heimliches Loch unter dem Podium, um in stiller Einsamkeit abzuwarten, bis der Stadtpfeifer mit der Musika einleiten würde. Gewöhnlich habe ich mir in jener Düsternis das letzte Stück vergegenwärtigt und dem neuen Zettel nach, welchen ich stets auswendig wußte, mich in Kombinationen eingelassen, was im heutigen Stücke vorgehn werde. Diese ersten Studien mögen wohl beigetragen haben, daß sich mir die Stücke so genau einprägten. – Begannen dann die ersten Äußerungen der verstimmten Geigen, dann schlüpfte ich durch eine halbgelöste Planke auf die Musikerbank hinaus, weil nun so viel Menschen zwischen mir und dem Aufseher waren, daß ich unbemerkt den ersten und zweiten Platz überwinden und zum letzten, mir höchstens geziemenden, hinaufdringen konnte. Dies Übersteigen lief mitunter mißlich ab, und wenn der letzte Platz sehr voll war, so mußte ich zuweilen auf der letzten Bank des zweiten bleiben, und dies beunruhigte mein Gewissen in hohem Grade, weil ich nicht dahin gehörte und jeden Augenblick ausgewiesen werden konnte. Diese Unruhe steigerte sich, als der zweite Liebhaber nicht mehr gefiel und dies nach Menschenart meinem unglücklichen Spiegel zuschrieb, die weitere Annahme desselben also entschieden verweigerte. Ich ließ mich nun freilich dadurch nicht abhalten, meinen Spiegel doch hineinzutragen, aber ich mußte ihn bei mir behalten, und das erschwerte mein Überklettern und meine Stellung überhaupt. Ihn wegzulegen wagte ich nicht aus Furcht vor gänzlichem Verlust. So beschleunigte ich die Katastrophe, denn der Aufseher hatte Augen wie ein Falke, und wußte sehr wohl, was es zu bedeuten habe, daß ich mein Entreebillett stets bei mir führte. Die Katastrophe kam, und mein Unglück schien mir grenzenlos. Darüber nachsinnend saß ich eines Sonntags vormittag vor der Reitbahn. Die Schauspieler kamen zur Probe, und der Mitdirektor, welcher den Regisseur machte, blieb in meiner Nähe stehen, auf den von fernher kommenden Zettelträger wartend. Letzterer, mit Namen Krebs, war Bedientendarsteller, Requisiteur, Inspizient und was weiß ich sonst noch in einer Person. Er war mir nicht abgeneigt, weil ich ihm oft mit praktischem Rat an die Hand gegangen war, wenn er nach seltnen Requisiten umhergeirrt und um die wahrscheinlichen Quellen verlegen gewesen war. Der Direktor-Regisseur verlangte jetzt eine der schwierigsten[22] Requisiten: nichts weniger als ein Pferd! Rochus Pumpernickel sollte gegeben werden, und auf dem Zettel sollte stehen: Rochus Pumpernickel erscheint zu Pferde. Krebs erschrak und senkte die Augen. Sie fielen auf mich, der ich auf niedrigem Steine saß, und der ich nun meinerseits durch Krebsens plötzliche Frage erschreckt wurde: »Junge, hat dein Vater nicht ein Pferd?« – »Ja, ein braunes mit einem Tigermaul!«

Die Couleur mochte verführerisch sein, kurz, ich mußte versprechen, das Pferd zu besorgen, und wenn ich dies Versprechen hielte, so dürfte ich von jetzt an jeden Abend frei ins Theater. – Welch ein Ereignis! – Die Schwierigkeiten waren ungeheuer. Das Pferd konnte Schaden leiden, denn es führte nur eine Hühnerstiege aufs Theater hinauf, und unser Tigermaul war auf gar nichts Ungewöhnliches eingerichtet. Alsdann erschien es auch der Familie bedenklich, das in der ganzen Stadt bekannte Haustier auf der Bühne figurieren zu lassen. Jedermann würde ja rufen: Das ist Laubes Pferd!

Ich überwand alles. Rochus Pumpernickel erschien auf unserm Pferde, und dies tat das Gebräuchliche. Ich spielte dabei in bloß praktischer Absicht den schweigsamen Stalljungen, das einzige Mal, daß ich auf dem Theater aufgetreten bin. Bei aller Passion hab' ich nie die geringste Neigung gehabt, selbst zu spielen. Mein Debüt lief auch übel genug ab. Das Pferd nämlich war um keinen Preis die Hühnerstiege wieder hinabzubringen; es stellte sich an, als müsse es Hals und Bein brechen, und der Stalljunge erlebte ein schreckliches Nachspiel von Vorwürfen über die Komödiantenneigung, welche diese mißliche Lage herbeigeführt. Als nun gar der Direktor-Regisseur den genialen Vorschlag machte, die ersten Bänke des er sten Ranges abzureißen, damit der Gaul von der Szene auf den Sand des Bodens hinabspringen könne, da riß meinem Papa die letzte schonende Rücksicht. So was einem friedlichen Tiere zuzumuten!

Die Folgen dieser Begebenheit, welche ohne Hals- oder Beinbruch des Pferdes gegen Mitternacht zu Ende ging, waren für meine dramaturgische Erziehung nicht unwichtig, obwohl ich sehr spät, vielleicht erst jetzt erfahren habe, daß sie nicht unwichtig gewesen. Herr Zimmermann nämlich, der Regisseur-Direktor, gestattete mir von diesem Abende an intimen Zutritt auf dem Theater, besonders auch in den Proben. Und zufälligerweise gab es gerade[23] damals einige Wochen Ferien. Meine gespannte Aufmerksamkeit und daß ich ihm dies und jenes augenblicklich zutragen konnte, – denn ich paßte auf wie ein Schießhund! – mochte ihn dazu veranlassen, und so erhielt ich ungewöhnlich früh eine genaue Detailkenntnis von der sogenannten Inszenesetzung eines Stückes.

Ich lese oft mit Erstaunen, daß man in Deutschland für den Dichter gern so großen Wert legt auf diese Theaterkenntnis. Man übertreibt darin gewiß, wenn ich auch nicht leugnen möchte, daß die Sicherheit hierin dem Autor manche Wendung erleichtern kann in der Schöpfung eines Stückes. Auf der anderen Seite aber ist es geradezu besser, wenn der Autor nicht so vertraut ist mit den herkömmlichen Hilfsmitteln: er mutet dann dem Regisseur Ungewöhnliches zu und setzt die leicht stockig werdende Maschine nach einer neuen Richtung in Gang.

Für das, was man Theaterkenntnis nennt, ist die Hauptsache: Viel zu sehen, das heißt viel Vorstellungen zu sehen, gute und schlechte. Dies ist ein außerordentlich lohnendes Studium. Wer nicht gedankenlos und ohne alles Talent ist, der erhält nach einiger Zeit nicht nur ein feines Vorgefühl für jede Anlage eines Motivs oder einer Situation und empfindet, ob eine edle oder alltägliche, eine starke oder schwache Wirkung sich bereite, sondern es ordnet sich ihm auch von selbst ein System der Motive, wenigstens eine Reihenfolge derselben. Ein also Eingeweihter kommt auch sehr bald über den in Deutschland gebräuchlichen Irrtum der Kritiker hinaus, als ob die erste und letzte Frage über ein Stück auf die Charaktere zu richten sei. Ohne interessante oder mächtige Charaktere wird kein Stück Nachdruck und Dauer gewinnen, aber es kann sie nicht bloß durch die Charaktere gewinnen. Ein geübter Zuschauer weiß bald, daß die Handlung im ganzen die Hauptsache ist. Sein Auge sucht zuerst nach Anlage und Umriß derselben, wie das Auge des Reisenden zuerst die großen Umrisse der Landschaft aufsucht und aufnimmt, und dann erst zu den einzelnen Szenen und Bildern übergeht. Letztere erhalten erst ihre Bedeutung und Wirkung durch das Ganze.

Doch erinnere ich mich deutlich, daß mir damals gerade durch die Theaterkenntnis innerhalb der Kulissen ein wichtiges Moment für den Theaterdichter auf immer eingeprägt worden ist, das Moment: den Schein konsequent aufrecht zu erhalten. Die Kunst überhaupt ist ja doch ein erhöhter Schein des Wahren, und je energischer die[24] Konsequenz aufrecht erhalten wird, desto mächtiger wird die Wirkung. Ein unscheinbarer, halb lächerlicher Vorfall war's, welcher mir Knaben damals die Veranlassung gab zu solchem natürlich späteren Gedankengange. Es ward an jenem Abende aufgeführt »Des Hasses und der Liebe Rache«, ein Schauspiel von Kotzebue, dessen sich das jetzige Theaterpublikum kaum noch erinnern wird, denn das Stück ist wohl seit 25 Jahren vom Repertoire verschwunden. Es spielt im französisch-spanischen Kriege, und am Schluß eines Aktes hat ein Offizier sein Pistol abzufeuern. Das Pistol versagte, während der Vorhang fiel. Das Publikum lachte, besonders da es hörte, daß hinter dem Vorhange noch einmal abgedrückt und wieder vergeblich abgedrückt wurde. Herr Butenop selbst spielte den Offizier, und ich wußte, daß er gegen dergleichen Mannhaftigkeiten unerbittlich streng war, und daß Freund Krebs eine schlimme Viertelstunde haben würde. Über Hals und Kopf eilte ich also hinauf hinter die Kulissen: dort trieb Herr Butenop den unglücklichen Krebs wie einen Verbrecher im Kreise umher. Krebs bohrte und bastelte am Pistol und Butenop schrie fortwährend: das Publikum muß den Schuß hören, es muß ihn durchaus hören, sonst können wir nicht weiter spielen!

Darüber nachdenkend ging ich wieder hinunter. Wozu denn? dachte ich; wir wissen ja, daß es eigentlich hätte losgehen sollen. Da knallte plötzlich, wenigstens fünf Minuten nach dem Versagen, der Schuß hinter dem Vorhange. Das schwatzende Publikum fing an zu lachen, aber es fing nur an – man unterbrach sich im Lachen. Die Mehrzahl hatte rasch eingesehen, daß dieser Knall doch nötig sei, um die Täuschung aufrecht zu erhalten. In einer großen Stadt würde man ausgelacht haben, in meiner kleinen Vaterstadt meinte man es ernstlich mit der Theaterillusion und billigte Butenops Konsequenz.

Ich kann nicht sagen, daß ich mehrere Jahre später als Gymnasiast die technische Aufmerksamkeit für das Theater erweitert hätte. Es war mir ein Genuß, in dem romantisch dunklen Glogauer Theatersaale hoch oben auf der Galerie zu sitzen, aber ein Genuß wie ein anderer. Meine Teilnahme war schon durch zu viel andere Gegenstände des Geistes in Anspruch genommen. Die Kunst verlangt gänzliche Hingebung, wenn sie ausschließlich fesseln, also etwas ganz Eigentümliches gewähren soll. Zweierlei nur ist mir im Gedächtnis[25] geblieben. Eines Sonntags empfahl uns ein gebildeter Mann, das heutige Schauspiel anzusehen, welches sehr schön und sehr lehrreich sei. Es war »Leichter Sinn« von Iffland. Ich empfand etwas davon, daß leichter Sinn noch etwas anderes wäre als Leichtsinn, und daß hierin wohl eine feine, gute Lehre liegen möchte. Aber ich empfand keinen so günstigen Eindruck von dem Stück, wie der gebildete Mann uns versprochen hatte. Später, bei reiferer Einsicht ist mir eingefallen, daß ich die Lehre wohl, aber nicht die Schönheit empfunden hatte, und daß das Drama nicht von der bloßen Lehre leben kann.

Die zweite Erfahrung betraf das Publikum. In einem Lustspiele zierte sich eine alte Dame in vornehme Redensarten hinein und erregte dadurch sehr lebhaftes Gelächter. Besonders entstand dies durch ihre eingemischten französischen Worte, und unter diesen Worten namentlich durch das Wort fils, an dessen Ende sie stets den Buchstaben s hören ließ. Das Publikum hielt dies der Rolle gemäß für falsch, und fand dies s äußerst lächerlich. Ich glaubte dem Publikum natürlich, so gewaltig ist eine überwiegende Majorität, und lachte tapfer mit. Späterhin lernte ich, daß fis die ganz richtige, also gar nicht lächerliche Aussprache, und daß das Publikum lächerlich gewesen sei.

Ich muß gestehen, daß mich diese Kleinigkeit nicht nur für lange Zeit mißtrauisch gemacht hat, sobald es sich um Äußerungen des Publikums über Einzelheiten handelte, sondern daß sie auch überhaupt meinen Zweifel weckte über die Zuverlässigkeit jedes Theatererfolges. Seit der Zeit habe ich immer nach den näheren Umständen gefragt, wenn vom Schicksale einer Aufführung die Rede war. Und noch heute glaube ich, daß ein ganz geübter Blick oder ein ganz feines Ohr dazu gehört, den Wert eines Theatererfolges richtig abzuschätzen.

Man sieht übrigens an diesen Bemerkungen, daß der Gymnasiast nicht im Wachstum des Theaterknaben blieb. Allerdings gehört der Beginn des ersten eigenen Stückes in diese Zeit; denn auch ich habe meinen Konradin in Jamben gepeinigt. Aber dieser Versuch ist mir vielmehr ein deutliches Zeichen, daß ich mich vom dramatischen Wesen entfernte, und wenn man der Sache auf den Grund geht, so wird man dies von der Mehrzahl deutscher Stücke sagen mögen, welche in gedruckten Versen die Buchhändlerlager füllen.[26] Lyrische Rede, höchstens Rede und Gegenrede ist ihnen die Seele; das Drama selbst liegt ihnen fern. Den Abschied Konradins von seiner Mutter zu deklamieren, überhaupt zu deklamieren, das war mein ein und alles, als ich, mit einem braven Schuster zusammenwohnend, dergleichen in Reime setzte. Des Gymnasiasten Sinn steht im wesentlichen wohl auf epische Form. Wer läse auch sonst den Bliomberis und jene Heldengedichte, in denen mit dem guten Schwerte und dem unwandelbaren Edelmute alles gleichmäßig ausgerichtet wird.

Der Student erst wird lyrisch. Die Liebe, die Kameradschaft, die Ideale erfüllen ihn. Es scheint mir unbegreiflich, daß mein Theaterinteresse in so völliges Vergessen habe sinken können in mir. Und doch wußte ich als junger Student kaum noch, daß eine Bühne existiere. Äußerliches Handeln, Liedersingen, Verbindungswesen, schimärische Politik, verschwimmendes Poetisieren, Reisen erfüllten meine damaligen Jahre. Reisen aber, das erfahre ich heute an mir, sind geradezu ein Todfeind aller dramatischen Anlage in uns. Sie verlangen Erweiterung der Aufnahmsfähigkeit, während das Drama Verengerung des Interesses erheischt. Sie sind das Lernen in der Zerstreuung, das Drama aber ist das Wirken in der Sammlung. In der Literatur entspricht dem Reisen die Journalistik.

Daß kein gutes Theater in der Universitätsstadt war, mochte wohl beitragen zu meiner Nichtachtung. Ich habe niemals, auch wenn ich voll Interesse für das Theater war, einer mittelmäßigen Darstellung den geringsten Geschmack abgewinnen können. Wie viele Leute wollen Theater um jeden Preis, wie vielen ist ein schlechtes Theater wenigstens die Quelle des Scherzes! Ich kann bei solcher Gelegenheit nicht lachen, sondern empfinde nur die Demütigung, daß ein Edles entwürdigt wird. Ist dies Pedanterie, oder ist es ein Zeichen, daß ich eigentlich stets den tiefsten Anteil an dramatischer Kunst genommen? Ich kann es nicht sagen. Jetzt freilich weiß ich, daß seit langer Zeit nicht das Theaterwesen, sondern das dramatische Wesen mich gefesselt, und daß ich ein sogenannter Theaternarr niemals gewesen, auch da nicht gewesen bin, als ich in der zweiten Universitätsstadt wiederum allabendlich ins Theater lief.

Diese Neigung erwachte übrigens nicht, weil in dieser neuen Stadt ein gutes Theater war. Das Theater in Breslau war ziemlich gut, aber ich war doch über ein Jahr an dem Orte, ohne ein[27] einziges Mal hinzukommen. Der Zufall führte mich hin, das Amt des Bruders Studio, welcher die Unschuld, wie er glaubte, zu schützen hatte. Ein Schauspieler war unter uns erschienen und hatte uns aufgefordert, einer Dame beizustehn, welche von der Direktion verfolgt werde. Diese wolle ihr den Kontrakt nicht halten, und habe, damit es einen Vorwand gebe, Mißfallsbezeigungen angestiftet gegen die Dame, welche anderen Tages auftrat. Als hitzige Ritter waren wir gleich bereit, für die Dame zu wirken, und besetzten anderen Tages das Parterre. Wer Miene machte, Mißfallen zu äußern, wurde von uns beleidigt bis zur notwendigen Forderung, und dies teilte die Aufmerksamkeit dergestalt, daß unser Haufe freie Hand behielt zum Applaus. »Wenn sie nur wenigstens hübsch wäre,« murmelte wohl einer und der andere, aber er klatschte doch. Wunderlich genug hieß derjenige, mit welchem ich es persönlich zu tun bekam, Tschech. Es war ein alter Student von einer uns feindlichen Landsmannschaft, ein tapfrer Bursch, aber nicht gerade so hartnäckig, daß ich deshalb glauben dürfte, es sei derselbe gewesen, welcher neuerdings das Attentat begangen. Wenigstens hatte er nach dem Theater in der Weinstube die Unbefangenheit, über unsern Kriegsplan, welchen er dort erst erfuhr, herzlich zu lachen und gegen die bloße Rücknahme meiner Beleidigung nichts einzuwenden.

Das endlich wieder gesehene Theater hatte dabei gar keine Reizung für mich gehabt, und es bedurfte eines neuen Zufalls, mich ihm wieder zuzuführen. Dieser war wohl nicht außer Zusammenhang mit dem romantischen Stile der Studentenschaft. Ich sah nämlich an der Straßenecke die Aufführung des »Käthchens von Heilbronn« angekündigt. Der deutsche Kaiser, welcher uns in den Köpfen spukte, Reichsstadtleben, Fliederbaum, Kleist, mir literarisch schon von Wert, alles das trieb mich zu dem gewissermaßen offiziellen Schlusse, abzuzählen, ob acht Groschen in meiner Tasche aufzutreiben wären.

Diese Vorstellung brachte mich zur Literatur und in die unmittelbare Theaternähe. Das Verhältnis zwischen Wetter vom Strahl und Kätzchen traf mich wie ein zündender Strahl. Ich sage absichtlich: das Verhältnis. Es war nur ein einzelner Teil des Dramas, es war viel mehr literarisches Wesen, welches mich berührte. Aber die nächste Wirkung war Anschluß an literarisch gesinnte Studiosen, welche einen Dichterverein gründeten, und erwachte Teilnahme für[28] einzelne Vorstellungen im Theater. Solchergestalt begann mein literarisches Streben überhaupt, und auf diesem Wege kam ich auch zum Dramenschreiben.

Es ist hier nicht der Ort, dies Thema auszuführen. Ich will es nur streifen, um den Zusammenhang nachzuweisen für meine dramatische Schriftstellerei.

In unserm Vereine herrschte blitzblaue Romantik. Ich machte alles mit und interessierte mich für alles, weil mir in solcher unmittelbar auf Literatur gerichteten Zusammenstellung alles neu war. Denn bis daher hatte ich planlos und absichtslos gelesen, und Shakespeare, Schlegel, Tieck, Solger wurden mir nun erst ergiebige Bücher. Äußerst überraschend war es mir, mich von den viel weiter vorgerückten Genossen bald immer als Kritiker beachtet zu sehen. Ich war mir doch so ehrlich bewußt, nichts zu wissen und nichts zu können. Es mochte wohl daher rühren, daß ich ohne Vorurteil, ohne irgend einen Schulstil aus der blanken unliterarischen Welt unter Leute trat, welche schon länger gewohnt waren, mit Brillen zu sehen, und welche jung genug waren, die unbefangene Meinung eines Naturalisten anzuhören.

Ich verstand von Goethe erst Lieder und Faust, übrigens war er mir ein verschlossenes Buch; von Schiller aber strömte ich über, und zum Erstaunen meiner Bundesgenossen perorierte ich über die Braut von Messina und Torquato Tasso, die damals kurz hintereinander gegeben worden, wie heute zu meinem Ärger mancher literarische Springinsfeld peroriert. Dies geschah in einem öffentlichen Kaffeegarten, und ein blasser Mann mit einer Brille, der am nächsten Tisch gesessen, trat bald darauf zu mir und forderte mich auf, ihm diese Rede niederzuschreiben für sein Blatt, genannt die »Freikugeln«. Denn es beginne jetzt in der Schallschen Zeitung wiederum die verwerfliche Goethesche Richtung in den Aufsätzen eines aus Berlin verschriebenen Kritikers.

Diese Aufforderung überraschte mich höchlich, denn ich hatte nie ans Druckenlassen gedacht, und wußte gar nicht, ob ich für den Druck schreiben könne. Leichtsinnig ermaß ich indessen die Größe des Beginnens so gut wie gar nicht und schrieb. Es wird auch danach gewesen sein. Aber es verwickelte mich sogleich in Kampf und Krieg mit jenem Berliner, welcher niemand anders war als Wilhelm Wackernagel, und Kampf und Krieg üben rasch alle Kräfte.[29] Ich mußte mich unterrichten, und das Gelernte stets auf der Stelle schmieden. Jetzt weiß ich, daß Wackernagel vollkommen recht hatte, meine göttliche Beatrice geringer zu finden als seine Leonore, aber damals lernte ich es nicht. Ich lernte nur Rezensionen schreiben, welche ein von uns gegründetes Blatt füllten neben weicher, ach, jämmerlich weicher Lyrik, und welche mich nach einem halben Jahre als wohlbestallten Rezensenten an Schalls eigne, von mir so hitzig bekämpfte Breslauer Zeitung führten.

Meine Aufgabe war keine geringere, als das Breslauer Theater zu rezensieren. Und zwar war ich allein, und diese damals verbreitetste Zeitung der Provinz brachte allein Theaterrezensionen. Ein junger unreifer Mensch also hatte den Ton anzugeben über Kunstangelegenheiten, welche er nicht verstand und nicht verstehen konnte. Ich würde heute sagen: es war unverzeihlich von Schall, wenn ich nicht hinzusetzen müßte, daß es eine nationale Gewohnheit unter uns ist, die Theaterkritik jungen Leuten zu überlassen. Die meisten unserer Literaten verdienen sich die Sporen mit Theaterkritik, und dies ist einer der chronisch gewordenen Schäden des deutschen Theaters. Gibt es eine Kritik, welche reichere Erfahrung voraussetzt, als diese? Das Drama selbst ist die schwierigste Kunstform; in ihr werden die verschiedenartigsten Lebensformen dargestellt, und der Schauspieler hat vom Könige bis zum Bettler Formen, Verhältnisse, Gewohnheiten wiederzugeben, welche dem jungen Menschen teils nicht geläufig, teils ganz unbekannt sind. Und über alles das richtet der junge Mensch. Was für Folgen kann dies Mißverhältnis haben?

Ich habe mich im Auslande erkundigt, und habe gefunden, daß uns dieses Mißverhältnis eigentümlich ist. Es wird nicht nur nirgends so viel kritisiert als bei uns, es ist auch nirgends so die verkehrte Welt zu Hause, daß vorzugsweise die Jugend ein Amt verwaltet, welches vor allen Dingen Reife und Erfahrung voraussetzt.

Wir strotzten übrigens von dramaturgischen Gemeinplätzen, die wir uns aus den vorhandenen Hilfsmitteln unserer Literatur zusammengelesen hatten, und strotzten von sicheren Rezepten für jede Gattung von Stücken, wie dies der Fall zu sein pflegt bei Ärzten, welche nicht mit eigenen Augen sehen und unterscheiden können.

Unter solchen Umständen geriet ich in eine Periode von wenigstens[30] zwei Jahren, während welcher ich jeden Abend, aber jeden Abend im Theater war. Routine in Theatersachen mußte ich natürlich erlangen, und dies zeigte sich wohl auch in den praktischen Anforderungen, welche während der Zeit an mich gemacht wurden. Aber wenn ich gründlich prüfe, was ich denn dabei gedacht, erfahren und gewonnen, so muß ich eingestehn, daß aller Kern, alle selbständige Folgerung fehlte, ja mir scheint es, als sei ich in der Knabenzeit tiefer innen gewesen in der dramatischen Anschauung. Dem Knaben waren die Persönlichkeiten der Schauspieler verschwunden vor der sich kreuzenden und treibenden Handlung, der Kritiker in Breslau aber war ganz und gar angesteckt von der eingerissenen Unart, sich vorzugsweise nur um einige Hauptschauspieler zu kümmern.

Dieser Sinn für darstellende Matadore hat den dramatischen Sinn in Deutschland tief beeinträchtigt; der Geschmack an Virtuositäten hat den Geschmack am kunstreichen Ganzen verkümmert. Und doch ist die Einheit in der Mannigfaltigkeit, die harmonische Bewegung des Vielartigen, das Ineinanderdrängen der Gegensätze bis zum Resultate in ausgleichendem Schlusse, doch ist gerade dies alles Seele des Dramas, und gerade die einzelne Virtuosität, der Lyrik vielleicht genehm, dem Epos vielleicht unerläßlich, kann im Drama nur auf Kosten des Dramas herrschende Stätte finden.

Die Virtuosität nahm mich denn auch mannigfach in Anspruch. Ich schrieb die offiziellen Prologe und machte Szenen und kleine Akte daraus, und bald geriet ich in die herausfordernde Praxis selbst. Es war die Zeit Paganinis, und eines Morgens trat ein Schauspieler atemlos in mein Zimmer. »Ich bin fertig!« keuchte er, »ich bin fertig! Nun helfen Sie mir!«

Wozu soll ich helfen, wenn Sie fertig sind?

Er war fertig mit seiner Rolle, und ich sollte ihm das Stück zu dieser Rolle schreiben. Er hatte nämlich sich und seine Geige so lange gequält, bis er die hauptsächlichsten grellen Kunststückchen Paganinis nachahmen konnte. Nun wollte er in der Maske des berühmten Geigers auftreten, womöglich in einem eigens dafür geschriebenen Stücke. Ich hatte doch so viel Geschmack, um es unpassend und abgeschmackt zu finden, wenn der merkwürdige Virtuos mit Komödienphrasen auf der Bühne erschiene, aber ich hatte doch nicht Geschmack genug, um das ganze Ansinnen von mir zu weisen.[31] Ich stellte also nur die Bedingung, Paganini dürfe kein Wort reden, sondern dürfe nur geigen und sich verbeugen.

Das war dem Schauspieler, Just war sein Name, einerlei, und wirklich skizzierte ich mit jener beneidenswerten schöpferischen Frechheit der Jugend noch im Laufe des Vormittags das ganze Singspiel. Ein ebenso behender Komponist, Holland, jetzt in Petersburg, war zur Hand und machte binnen zwei Tagen aus lauter Paganinischen Motiven die Musik dazu, und nach acht Tagen, ich glaube, Paganini war kaum fort von Breslau, ward aufgeführt: »Nicolo Zaganini, der große Virtuos«. Eine fabelhafte Prinzessin schwärmt darin für Kunstleistungen, und verspricht auf liebevolles Drängen ihrer Untertanen, sich demjenigen zu vermählen, welcher ihr Herz durch irgend eine Kunstleistung zu Seufzern und Tränen rühren würde. Das Turnier wird denn alsbald ausgeschrieben, und man kann sich denken, wie Tenoristen und Solotänzer um solchen Preis arbeiten. Es ist umsonst, die Prinzessin seufzt nicht und weint nicht, das Volk bricht in Wehklagen aus. Da erscheint endlich mitten unter dem sehr chinesischen Kostüm Paganini in seinem reizlosen schwarzen Frack und fängt an zu geigen. Schon nach dem ersten Stücke seufzt die Prinzessin hörbar. Er geigt wieder, nachdem er sich verbeugt, die Prinzessin bricht in Tränen aus, stürzt ihm in die Arme, und er benimmt sich kurios genug mit Geige und Fiedelbogen und mit der ihm eigentümlichen hölzernen Grazie; allgemeiner Jubel und Tanz, und Publikus fand die Kuriosität ebenfalls vergnüglich. Herr Just reiste mit der Farce jahrelang im Vaterlande umher, und lebte von der Spielerei.

Mich brachte natürlich solch dummes Zeug nicht eben weiter in meiner Bildung. Der Erfolg verleitete mich, die dreiaktige Tragödie »Zwei Edelleute, oder die Freunde«, welche ich sorgfältig geschrieben, beiseite zu legen und possenhaftem Krame nachzulaufen. Diebitsch war damals über den Balkan gegangen, und es schien mir sehr nahe zu liegen, daß ein Enthusiast seine Tochter nur demjenigen Bewerber geben wolle, welcher einen Sack voll Türkenohren aufzuweisen habe. Dies war eben in zwei Akten überzeugend, wahrscheinlich nur für mich, beendigt worden, da nahm eine wirklich fortreißende Erscheinung all meine Teilnahme in Anspruch. Ein berühmter Schauspieler war angekommen mitten im härtesten Winter und, wie es hieß, auf einem Rosse des Herzogs von Braunschweig,[32] welches ihm dieser geschenkt. Wahrscheinlich hatte er es nicht zu dem Zwecke geschenkt, daß der Künstler auf gefrornen Wegen in einem Striche von Braunschweig nach Breslau reite. Aber was kümmerte uns das, die Romantik war leibhaftig da, und man erzählte Wunder von der heldenmäßigen Stattlichkeit des Ankömmlings. Heute abend sollte er auftreten als Karl Moor. – Das Parterre war eine so kompakte Masse von Jugend, daß sie in den Schultern einem festen Boden glich, aus welchem ein Wald von unerhörten Bäumen wachsen könne. Und ein solcher Wald erwuchs wohl auch an jenem Abende. Ich steckte mitten in der Masse, und ich erlebte einen Eindruck überspannten Heldentums, den ich nie vorher erlebt hatte und nie nachher erlebt habe. Wilhelm Kunst hieß dieser Karl Moor, welcher im prallsten Anzuge, der vollendetsten Statue eines kräftigen jungen Mannes gleichend, hereinstürzte vor unsere Blicke und seine Szenen des ersten Aktes dergestalt spielte, daß wir wörtlich vom Fußboden aufgehoben wurden. Solch ein Applaus war nie erhört worden, und solche Unmittelbarkeit, solch ein Austausch zwischen Karl Moor und einigen hundert Studenten muß von wildester Äußerung sein. Kunst war damals in der schönsten Blüte seiner prächtigen Kräfte, ich glaube, wir haben geschrien, als er sich auf den Boden warf, als er mit den Fäusten die Steine zu erweichen vermeinte und mit furchtbarer Kraft stöhnte: Tränen, Tränen und kein Erbarmen!

Es ist allgemein bekannt, von welcher Art dieser Heldenspieler war. Nach alledem, was ich indessen über ihn gelesen in Schriften, die nicht bloß Zeitungen sind, achtet man den Zauber zu gering, welchen er eine Zeitlang ausübte. Er ist erst besprochen worden in der Literatur, als er schon seinen Frühling hinter sich hatte. Dieser Frühling war gar sehr verführerisch für den dramatischen Autor. Kunst trug wie der heilige Christophorus ein Schauspiel durch dick und dünn.

Diese theatralische Sicherheit und eine Frage des Theaterdirektors, ob ich denn nicht ein Stück für Herrn Kunst schreiben könne, stachelten mich zu einer lebhaften Anstrengung. Die dramaturgischen Phrasen, welche uns so geläufig, und ein gewisser Instinkt lehrten mich, daß nicht ein blanker Held wie der Torringer oder der Wittelsbacher zu erwählen sei, und in wenig Tagen hatte ich denn auch meinen anderen Helden und schleppte ein Häuflein Bücher zum[33] Studium der Daten auf meine Zelle. Verwegener Unternehmungsgeist, der niemals blöde war, strotzende Sammlung des Interesses, welche keinen Augenblick ermattete, bis fünf große Akte vollendet waren, unerschöpflich scheinender Strom der Worte, der niemals stockte und über das Schwierigste hinwegfloß, bedenkliche und doch so beglückende Gaben der Jugend, ich sehe jetzt schon mit Erstaunen auf euch zurück! Binnen zehn Tagen waren die Vorstudien gemacht, war das Stück entworfen, war das Stück geschrieben, in Versen, großenteils in Reimen geschrieben und abgeschrieben! Der Rollenabschreiber blieb fast hinter mir zurück.

Gustav Adolf hieß es. Ich besaß offenbar nicht die schöpferische Kraft für etwas wirklich Originales, und das Schwankhafte einer unreifen Ästhetik hatte mir doch auch nicht ein vollständiges Muster gewährt. Was war denn also zum Vorschein gekommen? Ich habe das von Dachboden zu Dachboden mitwandernde Paket von Manuskripten seit wenigstens zwölf Jahren nicht mehr geöffnet, aber ich glaube mir doch deutlich zu vergegenwärtigen, was auf dem Grunde meines Sinns über alle die angelernten Phrasen geherrscht. Meine Genossen glaubten weit über Schiller hinaus zu sein, das Schillersche Wesen eines Schauspiels war aber doch das Bestimmende in mir. Das hatte innen und außen die Form veranlaßt wenigstens bis zum vierten Akte. Der Anlauf war nur eben zu kurz und zu äußerlich gewesen; gegen den Schluß hin waren die angelegten Hilfsmittel erschöpft, und die angelernten Hilfsmittel wurden in Bewegung gesetzt. Für den vierten Akt galt das für uns unumstößliche Axiom: hier tritt der Held in die Krisis seiner selbst, er sündigt gegen sein eigenes Wesen, die ihm inwohnende tragische Schuld wird geboren, die innere Notwendigkeit seines Todes. Damit hatte es denn bei Gustav Adolf wenig Schwierigkeit: das Verlangen nach Deutschlands Krone, welches ihn harmlos bis dahin begleitet, entwickelte sich plötzlich in aller Bedenklichkeit und trat in Kampf mit der Uneigennützigkeit des Glaubenshelden. Innerer Friede war nicht mehr möglich, und der äußere Feind war im Herzoge von Lauenburg vorbereitet. Dieser nahm den Patriotismus zum Vorwande seines Hasses, eines Hasses, der aus Eifersucht stammte. Er liebte des Nürnberger Bürgermeisters Tochter, und diese liebte nicht ihn, sondern den König, und folgte als Page dem Heere. Ich besaß wohl den Takt, den König selbst nicht in ein Liebesverhältnis[34] zu bringen, und ihn nichts wissen zu lassen von der Anwesenheit des Mädchens; diese Anwesenheit mag aber wohl etwas verwegen motiviert gewesen sein.

Der letzte Akt nun hielt sich an das folgende Axiom unsrer Dramaturgie, daß der geknickte Held, den Tod im Herzen, sich noch einmal hoch aufrichtet, mutig entsagend seine Bestimmung erfüllt und den versühnenden, erhebenden Tod findet. Er hielt sich ferner, da mich der sorgfältige Organismus Schillers, den ich nur äußerlich ergriffen, natürlich im Stich ließ, an die banalen Empfehlungen Shakespeares. Welch ein Leichenfeld von Stücken haben diese Empfehlungen zuwege gebracht! Unsre schöpferischen Dramatiker Schiller und Goethe haben niemals gesagt, daß die weite, schlotternde Form des großen Briten maßgebend sein solle. Die großen Intentionen, die Unerschöpflichkeit der Charaktere, der Reichtum und die Weisheit der Gedanken hat sie zur Hochachtung und Verehrung gezwungen, wie er uns dazu zwingt. Nur denen, welche nie ein Drama zustande gebracht, Dichtern wie Tieck war es vorbehalten, alles an Shakespeare nachahmungswert zu finden, und dieser maßlose Preis hat geradezu auflösend gewirkt auf die Gestaltung unseres Dramas. Ich war denn auch angesteckt von dieser bequemen Theorie, die Form als Nebensache zu behandeln, ich hatte sie auch behalten die klingende Phrase: »hier sprengt die Größe der Idee die Enge der Form!« Was hinderte mich also, die ganze Schlacht bei Lützen als letzten Akt zu geben? Ich kannte ja Richard den Dritten! Da stehen ja die Zelte der feindlichen Führer, Richards und Richmonds, vertraulich nebeneinander, da wird Ferne und Nähe der Schlacht, platte materielle Begriffe! auf einen Punkt zusammengezogen. Abstrahiert, Zuschauer! Wieviel muß nicht ohnedies eurer Abstraktion überlassen werden in aller sonstigen Übereinkunft für dramatische Form! Warum nicht noch mehr? Ihr wißt ja doch, daß die Gewehre blind geladen, daß die Waffen stumpf, daß Felsen und Wasser von Leinwand sind! Entäußert euch der groben Ansprüche auf wirkliche Täuschung. Die dritte Kulisse gehört ein für allemal den Schweden, die vierte den Kaiserlichen. Merkt euch das, und glaubt daran, daß sie sich nicht wirklich begegnen können.

Es war ein Mordspektakel in diesem letzten Akte, denn an der Kanonade durfte es natürlich auch nicht fehlen, und ich hatte nur Angst, daß Gustav Adolf oder Wallenstein einmal die ihnen zukommende[35] Kulisse verfehlen und einander umrennen würden. Jedenfalls wären sie nach einem höflichen »Bitte um Vergebung« sogleich wieder an ihre Bestimmung nach verschiedenen Seiten gerannt und hätten weiter kommandiert gegeneinander. Publikum, zum dritten Teile aus meinen wohlwollenden Pappenheimern, den Herren Studenten bestehend, fand alles schön, und auch die zahlreichen Offiziere der Garnison fanden es ganz schmackhaft, am Schluß eine ganze Schlacht mit durchzumachen: alles, alles wurde am Schluß gerufen – immer wiederkehrender blinder Lärm bei hohlen Stücken deutscher Anfänger – und Kunst dankte gravitätisch im Namen des jungen Dichters, welcher zum Erschrecken gleichgültig geblieben und in all dem Tumult zu der Einsicht gekommen war, er sei kein Dichter. Es war mir freilich auch greulich gewesen, daß meine schönsten Verse und Reime oft bis zur Unkenntlichkeit hervorgekommen waren, und daß der Schwedenkönig im letzten Akte sein Schlachtgebet ganz und gar aus dem Souffleurkasten holen mußte, ja zwischen die salbungsvollen Worte »Herr der Heerscharen« und »ewiges Vaterauge« immer einschaltete »Gotts Schwerenot, so sprechen Sie doch deutlicher!« Aber diese Empfindlichkeit konnte mich doch nicht täuschen über mich selbst, über meine unzureichende Fähigkeit, und als bei der dritten Vorstellung das Publikum sich spärlich eingefunden, da wußte ich auch, daß Publikum sich nicht täuschte, und daß die ergreifende Seele meinem Stück fehlte.

Neuerdings habe ich bei einem schwedischen Geschichtschreiber eine Schilderung der Lützener Schlacht gefunden, welche unserer damaligen romantischen Faselei ein unschätzbarer Beweis gewesen wäre, daß wir doch die richtige Sehergabe besessen. Wunderlich genug ist nämlich wirklich ein Nürnberger Page in der Nähe des Schwedenkönigs gewesen und von kaiserlichen Reitern erstochen worden, wie meine Bürgermeisterstochter erstochen wird. Letzteres geschieht allerdings beiläufig von Pappenheim selbst, aber was tut das? Poesie muß ja das Gemeine erheben zum Vornehmen.

Der virtuose Heldenspieler konnte also unsern dramatischen Dilettantismus nicht beleben bis zu einer wirklichen Schöpfung. Er war zu abgesondert, zu äußerlich. Er brachte dem Stück nicht irgend eine geistige Atmosphäre. Den Odem des Faustrechtritters brachte er wohl; aber was konnte der Faustrechtritter sein für ein modernes Drama![36]

Kunst hatte auch schöne Gaben für eine kräftige, gemütliche Bürgerlichkeit. Aber sie blieben brach liegen; wir waren nicht die Leute, sie zu wecken, denn der romantische Dunst schied uns ganz und gar von allem Werte der Bürgerlichkeit. Dieser Hochmut, welcher sich Ironie nannte, war ein Hauptsymptom unproduktiver Romantik. – Außerdem hatte Kunst etwas Unstetes, welches eine organische Verbindung mit seinem Talente unmöglich machte. Die Erfahrung mit »Gustav Adolf« mußte mich also ganz und gar zurückschrecken vom Drama, oder ich mußte es wieder mit einem Helden versuchen. Eigentlich war ich wohl zurückgeschreckt, aber ich hing bereits in so viel äußeren Fäden mit Theater und schreibender Literatur zusammen, daß es eines energischen Entschlusses, einer völligen Trennung von Breslau bedurft hätte, wenn ich auf andre Wege gebracht werden sollte. Gewohnheit und Liebhaberei streicheln ja gern die ungenügende Fähigkeit so lange, bis sie glaubt, täglich zu wachsen und genügend groß zu werden. Du bist ein zu rationalistischer Protestant, um den einfach gläubigen Gustav Adolf wirksam machen zu können! flüsterte die Liebhaberei in mir, und du bist zu schnell und zu hastig verfahren! setzte sie hinzu.

Ich suchte mir also mit Bedacht einen anderen Helden, einen weniger gläubigen, einen interessanteren, das heißt mir näheren. Er ward auch gefunden und mit großer Sorgfalt behandelt. Es war Moritz von Sachsen. Als ich mit der Tragödie fertig war, legte ich sie still beiseite, um erst nach einiger Zeit einen von mir selbst unbefangenen Blick darauf werfen und ein Urteil darüber gewinnen zu können.

Ich war offenbar auf dem Wege der Besserung, denn das Urteil, welches sich mir aufdrängte, war meinem Stücke ungünstig. Ich konnte also noch nichts hervorbringen, was meinem Urteile genügte, aber ich gewann doch ein Urteil, in welchem die Ahnung lebte: das gute Theaterstück muß Lebenselemente enthalten, welche dir noch unerreichbar, ja unbekannt sind, und zu welchen dir der Kram von Theorien nimmer verhilft. Meine Freunde schalten über das wegwerfende Wort »Kram von Theorien«, aber ihr Gewissen war wie das meinige schwer beunruhigt worden durch die Erscheinung und Wirkung eines neuen Schauspielers. Dieser Schauspieler war damals, es mag im Jahre 1829 gewesen sein, in Norddeutschland neu, und sein Lächeln über unsre theoretischen Unfehlbarkeiten[37] versetzte uns in Bestürzung. Denn wir waren nicht so verblendet, daß uns die schwertscharfe, wirklich moderne Macht dieses Schauspielers entgangen wäre. Im Gegenteil, wir waren ins Herz getroffen durch das einfache, klare, überzeugende Spiel dieses Mannes, durch die Macht seines Wortes. Seines Wortes! dies war es, dies Wort war das Schwert, ein protestantisches Schwert gegen unsre in Nebeln sich ballende Romantik.

Seydelmann war es. Wenn ich jetzt zurückblicke, so erkenne ich deutlich, daß die Erscheinung dieses Mannes von größtem Einflusse auf mich gewesen ist. Mochte ich auch nicht auseinandersetzen können, was alles von moderner Macht wirksam sei in dem treffenden Worte dieses Künstlers, ich empfand doch bis zum Schmerze, daß mir bis daher das wirklich lebendige Moment des Dramas verschlossen gewesen sei, ich bezweifelte doch positiv, daß ohne schöpferische Fortbildung poetischer Gesetze treffende Wirkung möglich sei. Es war ein Hegelianer unter uns, er war als stolzer Schüler des großen Gamaliel von Berlin gekommen, und er verhöhnte auf andere Weise unsre Theorien. Die Wahrheit, sagte er, ist nur im Denkprozesse zu finden, die Künste haben allerdings durch sinnliche Mittel zu verherrlichen, aber sie sind nur im Dienste unsrer gedachten Idee, und insofern sind sie nicht originell, nicht eigen schöpferisch!

Dies fehlte nur noch zur Verwirrung. Ich mochte es nicht glauben und konnte es nicht genügend widerlegen. Ich fühlte, man könne eigen schöpferisch sein durch einen Akt der Kunst, ohne daß man einer Schulphilosophie mächtig zu sein brauche; aber die großen anregenden Faktoren, die staatliche Bewegung, die Nationalitäten, die großmächtigen Persönlichkeiten schliefen damals, wenigstens für mich. Ich hatte nichts, wovon mein Drang leben konnte, und ich ward nur immer mehr überzeugt, daß im Bereiche der Ästhetik keine Zukunft für mich blühe. Lenke ab von dieser Laufbahn, oder es wird gar nichts aus dir! flüsterte ein starke Stimme in meinem Innern.

Sie ward sehr unterstützt durch die Stimme der Gläubiger, denn in dieser beiläufigen Eigenschaft des Künstlertums: nichts zu erwerben und doch sorglos auszugeben, war ich der Lösung des künstlerischen Problems sehr nahe gekommen. Ich wendete mich also endlich mit der längst nötigen Energie hinweg von diesem Wirrwarr, und richtete mich wieder zu meiner Brotwissenschaft.[38] Fort aus Breslau, welches die Verwirrung selbst für mich geworden war, aufs Land, in die Einfachheit und Einsamkeit.

Mit diesem Entschluß traf die Nachricht von der Julirevolution zusammen. Da ward die Politik, um welche wir uns nicht im mindesten gekümmert, auf einmal ein lebendiges Interesse, und kopfüber untertauchend in dies Interesse, vergaß ich jahrelang jeglicher Kunstbestrebung, nur geschichtlichen und politischen Studien nachgehend. Ich vergaß! ist wohl nicht das richtige Wort, denn ich habe doch gerade damals unweit der polnischen Grenzwälder in reizloser Landschaft die ersten Fetzen der französischen Romantiker gelesen, die ersten Antithesen Viktor Hugos, welche die Jugend so blenden können, weil sie so geistestrunken erscheinen. Die Trunkenheit verstand ich, den Geist verstand ich nicht. Ich mißtraute ihm, und es fehlte mir wirklich an der ästhetischen Sammlung, denn da drüben hinter den Grenzwäldern wurde der poetische Krieg geschlagen, welcher mehr als irgend ein anderes politisches Ereignis das Herz beteiligen und eine moderne Iliade werden mußte. Warschau fiel wie Troja; es kamen die Flüchtigen, es folgten die Reaktionen, die Feder ward Waffe. Kämpfend geriet ich auf diese Weise zum zweiten Male ohne unmittelbar literarische Absicht in das Treiben der Literatur. Ohne literarische Absicht; denn die literarischen Formen schienen mir der vollständigsten Umwandlung gewärtig zu sein. Natürlich! Brachten sich doch in der rue Taitbout zu Paris mit dem Simonismus die interessantesten, von unserem bisherigen Lebensinhalte ganz abweichenden Gedanken in Form. Wen hätte diese eigentümlichste Erscheinung neuerer Zeit nicht in Spannung versetzt!

Deshalb war ich ganz erstaunt, als Gutzkow schon 1833 zu mir sagte: Wir sollten uns dem Theater zuwenden! Dies schien mir unmöglich, weil mir die Interessen der Gesellschaft dergestalt in Gärung schienen, daß Halt und Wirkung im Drama zunächst unmöglich sei. Vom Theater wirkt man ja doch nicht mit Spekulationen, sondern nur mit Berührung längst fester Interessen. Mir aber schien es einesteils, als sei kaum irgend etwas noch wirklich fest, anderenteils, als hege man auch nur Aufmerksamkeit für das, was eben in der Umsetzung begriffen.

Gutzkow wartete denn auch selbst noch sechs Jahre mit Abfassung eines wirklichen Theaterstücks.

All unsere Spekulationen wurden von außen verfolgt und[39] niedergedrückt. Dieser Erfahrung gemäß erstand mir im Gefängnisse der tragische Charakter Monaldeschis. Er war getränkt mit dem heißesten Blute moderner Absichten. Daß er damals nicht geschrieben werden konnte, war entscheidend für ihn: ein Bühnenstück wäre er damals schwerlich geworden, und im Jahre 1837, wo ich dem Theater wieder nachtrachtete, blieb er wohl deshalb im Hintergrunde, weil ich als fortdauernd Gefangener nur die Hindernisse, nicht die Möglichkeiten für Theaterstoffe im Auge hatte. Für den Begriff eines historischen Dramas hatte ich nur ein schmerzliches Lächeln. Was war natürlicher, als daß ich mich gewaltsam an die Erfindung eines leichten Spieles machte, welches eine leise, ganz leise satirische Färbung haben sollte. Ein Lustspiel! Ich war wieder Anfänger, und ein Anfänger soll sich hüten vor einem Lustspiele. Er wird zu fein oder zu grob, und die praktischen Wendungen, die bewegende Kraft im Lustspiele, fehlen ihm. Das bloß Modische und das wirklich Moderne sollte in den Hauptpersonen handeln; das wurde zu fein für fünf Akte, und Fräulein Charlotte von Hagn, welche das Stück auf die Berliner Bühne bringen sollte, mochte dem Stücke wohl die Schwäche, das heißt die theoretische Absichtlichkeit abmerken, und deshalb nicht eben große Unkosten dafür machen. Ich erhielt es denn gegen Ende meiner Gefangenschaft zurück mit artigstem Lobe des Dialogs und mit der Aufforderung, kleinere Stücke fürs Palais anzufertigen. Denn man habe mit Vergnügen ersehen, daß ich dafür ein seltnes Talent besitze.

So weit war ich also erzogen. Ich durfte lächeln und das Manuskript in den Winkel werfen. Aber es schien mir nun doch nötiger als je, die endlich wiedergewonnene Freiheit zur Erfrischung des Sinnes, zur Erfrischung der ziemlich gelähmten Unbefangenheit zu benutzen. Daß die hundertfache Zensur unsers Vaterlandes verbietet, das ist nicht der größte Übelstand: die größere wirkliche Gefahr besteht darin, daß sie die Entstehung in den Gedankengängen verkümmert oder verhindert. Unter dem Verkümmern begreife ich auch die Übertreibung. Ich wußte, daß Börne schon ähnliches gesagt, und doch konnte ich mir nicht leugnen, daß es sich auch an mir, dem Gewarnten, bestätigte. Ein Jahr jenseits des Rheines wird dich wohl wiederherstellen, dachte ich, und noch bei Schnee und Eis machte ich mich auf den Weg.

Ich ging über Holland nach Frankreich, und werde nie vergessen,[40] wie mich das holländische Theater in Amsterdam überraschte. Mit welchem Feuer, ja mit welchem Ungestüm wurde von diesen phlegmatischen Holländern eine Tragödie aufgeführt und aufgenommen! Ist denn auf dem letzten Grunde des Blutes ein heißeres Atom bei all den Völkerschaften, die uns umgeben, als bei uns? Seit jener Zeit hab' ich ziemlich alle unsre Nachbarn kennen gelernt und auf der Bühne gesehen, und alle, alle spielen lebhafter Komödie als wir. Nicht nur der Pole, der Ungar, der Italiener, der Franzose, der Belgier, der Holländer, auch der Engländer, auch der Däne, auch der Schwede. Wir in der Mitte sind die Langsamsten und Trägsten auf der Bühne.

Und doch war es auch in Paris nicht gerade das Theater, welches ich mit besonderer Absicht betrachtet hätte. Ich besuchte alle Theater und sah alle wichtigen Stücke und Schauspieler, aber ich tat es nur beiläufig. Das wurde mir deutlich, als ich eines Abends im Renaissance-Theater unsern ausgezeichneten Emil Devrient fand und von ihm erfuhr, wie ausgedehnt und gewissenhaft man das Theaterstudium in Paris treiben könne. Er wies mir nach, daß ich noch manches unbeachtet gelassen und nachzuholen habe.

Ich hatte noch Zeit genug dafür übrig, da ich zunächst zwar ins Land hinein, zum Spätherbst aber aus dem Süden wieder nach Paris zurückkehren sollte. Draußen im Lande kam ich eines Morgens nach Fontainebleau. Ein deutscher Landsmann war bei mir, derselbe, welcher als »Privatmann« in den »Drei Königsstädten« fünf Jahre später Skandinavien heiter mit uns durchflog. Ich hatte keine Ahnung, als wir Arm in Arm ins Schloß hinüberwandelten, daß mir die Empfängnis dreier ganz verschiedener Bücher in diesem gehäuften Schlosse bevorstehen sollte, der Französischen Lustschlösser, der Gräfin Chateaubriant und eines Dramas. Die Lustschlösser stiegen hier ganz und gar vor mir auf, die Gräfin Chateaubriant brauchte nur noch Schloß Chambord, welches ich einen Monat später sah, und für das Drama erhielt ich wenigstens einen unvergeßlichen Eindruck. Wir waren nämlich stundenlang durch Flügel und Höfe und Jahrhunderte und Stile herumgewandert und endlich wie der auf ebener Erde, als der Führer auf einen im Umbau begriffenen Teil des Erdgeschosses zeigte mit den Worten: Die ist die Hirschgalerie, welche lange Zeit halb verschüttet gewesen und[41] jetzt in mühsamer Wiederherstellung begriffen ist. Hier wurde Monaldeschi ermordet.

Monaldeschi? – Sollte man's glauben, daß der Name durchaus nicht eine Ideenanknüpfung an meinen Helden des Gefängnisses in mir weckte? Durchaus nicht. Wenigstens keine, deren ich mir bewußt worden wäre. Eine Operation ist in mir vorgegangen, aber ich habe erst viel später Kenntnis davon erhalten. Des Menschen innerster Sinn strotzt ja von den eigentümlichsten Geheimnissen, und deshalb ist die Dichtung unerschöpflich. Dort im Garten von Fontainebleau erschien mir Monaldeschi nur im Zusammenhange mit der glänzenden, von Intrigen, Abenteuern und mächtigen Zügen angefüllten Königsgeschichte Frankreichs. Ein einzelner, abenteuerlicher Mensch mitten unter den erblichen Herrschern, und durch sein eigenes blutiges Schicksal mit diesen Herrschern von Jahrhundert zu Jahrhundert fortlebend. Er hat sich eingedrängt durch bloße Persönlichkeit unter die Potentaten, und hat mit ihnen gespielt. Man hat ihn ermordet. Nun, er hätte doch sterben müssen. Man hat ihm die Krankheit erspart und ihm ein geschichtliches Andenken gesichert. Eine Broschüre wurde uns an Ort und Stelle verkauft. Sie enthielt unter anderem auch den Bericht des Prior Le Bel, welcher Monaldeschis Beichte hat hören sollen und die Ermordung beschrieben hat.

Am Biskayischen Golf, in einem baskischen Seebade, dem schönsten, welches ich je gesehn, kopierte ich einige Monate später Le Bels schreckliche Beschreibung ins Deutsche. Ich saß auf einem Balkon und hatte die entzückendste Aussicht der Welt vor mir: die Mündung des Adour, den Ozean, die unabsehbare Nordküste Spaniens. Und wenn ich aufstand hinter mir die steile Wand der Pyrenäen. Über all das ausgebreitet der herrlichste Sonnenschein, unter mir das Spiel fröhlicher Basken. Welch ein Gegensatz zu dem schrecklichen Ende Monaldeschis. Dieser Gegensatz prägte sich gewiß in meine Seele und ist wohl später in die Situationen des Stückes gedrungen, aber an ein Stück Monaldeschi dachte ich nicht mit einer Silbe.

Den folgenden Winter sah ich in Paris wieder fast jeden Abend Theatervorstellungen, ohne daß eine Ader meiner Knabenpassion davon erregt worden wäre. Nicht Genuß, nicht eigentliches Studium war dabei im Vordergrunde. Das Vaudeville und das Lustspiel[42] gefielen mir bei weitem am besten, und besonders die eigentliche Technik, neben der unsrigen überlegen ausgebildet, beschäftigte mich. Ich muß einräumen, daß unsre Sprache nicht geeignet ist, so schnell gesprochen zu werden wie die französische, aber selbst mit dieser Einräumung verlange ich von unsern Schauspielern ein rascheres Tempo besonders für die Nebensachen. Weil die Franzosen dies haben, können sie in Anhäufung der Motive viel ausführlicher sein, ohne langweilig zu erscheinen, und weil wir es nicht haben, erscheinen wir langweilig oder gewaltsam. Eine Probe dafür ist, daß wir in Scribes besten Stücken streichen müssen, weil unsre Darsteller das Detail nicht bewältigen können. Freilich sind die französischen Schauspieler dadurch ungemein unterstützt, daß sie ein Stuck so außerordentlich oft wiederholen, und zur Einstudierung des neuen hinreichende Muße haben können.

Gegen die klassische Tragödie der Franzosen war ich eingenommen wie jeder Deutsche. Das Schlegelsche Urteil ist uns ins Blut übergegangen. Selbst die Rachel bekehrte mich nicht. Aber je länger ich in Frankreich war, desto deutlicher wurde es mir, daß Schlegel die französische Seele der Tragödie nicht erkannt hat. Sie ist im Verhältnis zu heute allerdings ein wenig erstarrt in der Tragödie des Théatre français, aber sie hängt noch heute innig zusammen mit den besten Eigenschaften der Nation. Sie ist dürr und mager im Vergleich zu dem dramatischen Musterbilde, welches wir aus den Alten, aus Shakespeare und aus unsern Klassikern gestalten können; aber sie hat mehr richtige Grundsätze und mehr Reiz, als Schlegel an ihr entdeckt hat. Ich wurde zum Teil dadurch aufmerksam, daß Heine einmal mit Entzücken von dem süßen Reize Racines sprach, Heine, der sich gewiß auf poetischen Zauber versteht und außerhalb aller gedankenlosen Phrasen denkt und spricht.

Das romantische Schauspiel der neueren Franzosen hätte mir doch unsern Kritikern nach viel näher liegen sollen. Es mißfiel mir fast durchweg auf dem Theater. Ich fand, daß diese Stücke voller Spitzen und Überraschungen in der Lektüre noch viel besser anmuteten als auf der Bühne, und daß der Mangel an Fluß und natürlicher Folge von den Brettern her noch viel unangenehmer wirke. So hatte mich Marion de Lorme von Hugo wohl interessiert. Jetzt sah ich es auf dem Théatre français vor einem ziemlich leeren[43] Saale, und fand, daß die Wirkungen alle zu kurz, fast immer nur witzig, dramatisch aber ohne Bedeutung seien.

Sie haben nur den Anstoß zu geben, Bewegung zu erregen gehabt, diese Romantiker. Das Drama selbst mit echten Gesetzen der Tragödie zu verbinden ist ihnen schwerlich vorbehalten, dazu fehlt ihnen die Ruhe der Leidenschaft und in den Anführern das spezifische Talent. Hugo ist ein Schilderer, Dumas ein Erzähler; jener nicht ohne Ziererei, dieser zu leichtsinnig.

Gedanken und Anregungen brachte ich also wohl mit nach der Heimat, als ich 1840 zurückkehrte, aber kein Bild, noch weniger ein Ideal. Da drüben jenseits des Rheins haben sie unverkennbar mehr Talente als wir, aber die Genialität ist doch wohl eher noch bei uns oder in England zu suchen! So dachte ich, als ich auf dem einsamen Waldschlosse bei Muskau die Französischen Lustschlösser schrieb, glücklich, wieder daheim zu sein im Vaterlande, und erstaunt allabendlich, wenn ich vom Pirschgange aus dem Waldesdickicht heimkehrte und das verödete Waldschlößchen betrachtete. Erstaunt, denn es gemahnte mich im Anblicke dieses verödeten Lusthauses der Jägerei eine dämmernde Erinnerung. Nicht eine Erinnerung an etwas Einzelnes, an die Hirschgalerie in Fontainebleau, an das äußerliche Schicksal dessen, der dort zu Tode gebracht worden war. Nein, alle die Epochen, welche ich vorstehend aufgezählt, drängten sich mit ihren Endpunkten in meinem Sinne zusammen. Sie wollten ihren Teil geben zu einer Gestaltung: es erschien das Gefängnis in der Hausvogtei, und der freie oder freche Charakter eines Menschen, der nicht bloß dulden, harren, beten will auf der haltlos schwankenden Woge des Lebens, sondern der mit dreister Persönlichkeit um jeden Preis erobern und herrschen, mächtig sein oder zertrümmert sein will. Was wird aus solch einem Menschen in der idyllischen Einsamkeit eines Parkes, wo er halbe Freiheit und keinen Besitz hat? Unruhe entsteht ihm, Raffinement. Die Lücken herrschender Mächte sucht er auf mit gierigem Blicke, und mit beiden Armen drängt er sich dahinein, seine Streiche vorbereitend für den Fall der Gelegenheit. In den Freuden und Reizen seiner Jugend wühlt er umher und kommt zu dem Resultate: nur Illusionen beglücken, nur Verwegenheit trägt Reize, nur der zu Stahl gehämmerte Gedanke um Macht, um Macht lohnt die ermüdende Arbeit der eintönigen Tage. Er fährt hinaus in die Welt, schlürft wie etwas Beiläufiges die[44] Reize der Natur, welche ihm nichts sind als Staffage, da er die Gottheit wohl darin erkennt, aber als unnahbar erkennt. Er will aber der Gottheit teilhaftig werden, und das kann nur geschehen, ruft er aus, in der Tat. Handle! Für die Welt? Für die Idee? Was ist die jetzige Welt seit Jahrhunderten? Weiß sie, was sie will? Sie tastet. Ich sei die Welt. Was ich Gewaltiges an mir vollende, wird ihr einen Stempel aufdrücken. Sie bedarf eigentümlicher Stempel, und sie wird sie danken. Was danken! Sei eine Tüchtigkeit; Dank liegt draußen außer dem Geiste. Was ist die Idee? Allgemein geglaubter Staat, geglaubte Kirche mag stolz sein auf die Idee, welche den Mittelpunkt bildet. Wo ist dieser Mittelpunkt? Mein Zweck, so groß als möglich, sei meine Idee. Macht sei mein Zweck. Mein Herz ist karg, mein Sinn ausgreifend, mein Geist unerschöpflich, ergreife die Zugel, mein Geist, führe mich wohin du magst, bis der unermüdliche Tod früh oder spät sein schreckliches Halt! ruft.

Dergleichen häufte sich um ein nebelhaftes Menschenbild, welches zu so verschiedenen Zeiten vor meine Seele getreten war und nun fester und fester den Namen Monaldeschi annahm.

So entstanden Monologe und Äußerungen Monaldeschis, und der Charakter gestaltete sich. Um ihn her tanzte, ein fast erschreckender Gegensatz, die Theaterjugend in der Reitbahn, das Bild meiner Romantik, in roten und goldnen Gewändern, in erstaunlichen Bewegungen schimmernd. Dahinein ward der Abenteurer gehüllt, und als ich den folgenden Sommer mich in Leipzig eingerichtet und mich des geschichtlichen Materials für die ebenfalls abenteuerliche Christine bemächtigt hatte, wurden die Monologe und Gewänder ausgebreitet, und es wurde nun in einem Zuge das Stück geschrieben.

Als es fertig war, sah ich wohl, daß nur ein Stück meines Stückes entstanden war, und auch die grellen Fehler des Stückes traten mir wie klaffende Lücken entgegen. Immerhin! dachte ich, es muß angefangen sein. Die ganze Theaterillusion der Jugend war über mich gekommen, diese Welt des bunten Scheines lockte mich unwiderstehlich, ich ließ drucken und versandte an dreißig Bühnen.

O, wie verhöhnten sie die unternehmende Stimmung! Das Stück war ohne Autornamen zu ihnen gekommen; es kam von 29 Bühnen als unbrauchbar zu mir zurück.[45]

Vielleicht ist dies ein Trost für junge dramatische Talente, welche sonst entrüstet und abgeschreckt werden durch Urteilslosigkeit oder Rücksichtslosigkeit der Theaterdirektionen. Ich habe zu lange bei der einleitenden Bildung für mein erstes Stück verweilt, um hier noch, wie es meine Absicht war, die Grundsätze und Manieren der einzelnen Direktionen zu schildern und an diesen Grundsätzen und Manieren dies steuerlos treibende Schiff, genannt deutsches Theater, zu konterfeien. Ich behalte mir dies vor für die Einleitung zu meinem zweiten Stücke; denn es ist an der Zeit, all diese willkürlichen Liebhabereien, diese schreiende Unkenntnis, diesen lieblichen und erschrecklichen Zufall, welcher über die wichtigste Kunst in unserm Vaterlande regiert, mit vollen Farben an die Wand zu malen. Vielleicht wird doch durch Aufdeckung der Unfähigkeit und des Wirrwars ein Institut veranlaßt, daß es prinzipienmäßig, ohne Rücksicht auf augenblicklichen Gewinn und unter Aufsicht literarischer Kritik, der dramatischen Schöpfung bewußten und konsequenten Vorschub leiste.

Ebenso behalte ich mir vor, die Frage über innere Form der Stücke in Rede zu ziehen. Vorstehende Einleitung ist zum Teil darum so ausführlich geworden, damit alles äußere, die Form bedingende Material den Lesern vor Augen komme. Vom Jahre 1815 bis in die vierziger Jahre, ein starkes Vierteljahrhundert, sind in obigem herrschende Situationen, politische Eingriffe, literarische Richtungen, gebotene und verschlossene Möglichkeiten aufgezählt worden – der Leser wird dadurch meines Erachtens in den Stand gesetzt, selbst ein Urteil zu fällen über erschwerten Weg dramatischer Absicht, und ob wegen oder trotz der erschwerten Bahn Größeres habe geleistet werden können. Da sich nun offenbar von den vierziger Jahren an ein eignes deutsches Repertoire gestaltet, so ist es jetzt an der Zeit, alles beim wirklichen Namen zu nennen und die Aufmerksamkeit der Nation auf all die verdeckten Quellen und Abgründe zu lenken.

Die einzige Direktion, welche damals dem folgenden Stücke Monaldeschi Teilnahme schenkte, war die Direktion des Hoftheaters in Stuttgart, repräsentiert durch den dortigen Oberregisseur Herrn Moritz, und unterstützt in frei prüfendem Walten durch den Intendanten Freiherrn von Taubenheim.

August Lewald hatte die Güte gehabt, nach wohlwollender Bevorwortung[46] das Stück in Stuttgart vorzulesen, und Moritz hatte sogleich erklärt: Dies wird aufgeführt!

Ein Mann unter so vielen Direktoren brach hiermit dergestalt die Bahn, daß das Stück jetzt auf allen Haupttheatern gegeben und auf einigen dauerndes Repertoirestück geworden ist. Wem sonst als diesem Manne hätte ich die Widmung Monaldeschis anbieten mögen? Und nicht ich allein, fast jeder von uns jungen Dramatikern ist dieser schöpferischen Regisseurtätigkeit des Künstlers Moritz zu Dank verpflichtet. Wenn aus unsern Versuchen etwas Dauerndes und Heilsames entsteht fürs deutsche Theater, so möge man auch in der Folge des Namens Moritz dankbar eingedenk bleiben. Es hat sich unter so viel vornehmen Leitern nirgends die Prätension erhoben, diesem Regisseur den Rang eines wirklichen Gönners streitig zu machen.[47]


Quelle:
Heinrich Laube: Gesammelte Werke in fünfzig Bänden. Band 23, Leipzig 1908–09, S. 9-49.
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