1.

Es war spät am Abende, ja die Nacht brach schon herein, als ein kleiner polnischer Wagen vor einem Gehölz hielt. Die kleinen Pferde prusteten angegriffen, denn es war kein eigentlicher Weg, auf welchem sie dahergekommen waren, und der Boden war halb feucht und halb gefroren. Dazu herrschte eine undurchdringliche Finsternis, die Tiere schienen selbst voll Angst zu sein; wie denn bekanntlich das Pferd eines der sensibelsten Geschöpfe ist und fast überall nur Eindrücken der Furcht nachgibt. Dazu knallte bald hier, bald da noch Ein Schuß, plötzlich und unerwartet jagte ein Reiter oder ein Fuhrwerk vorüber – es war nicht zu verwundern, daß man dicht neben ihnen den warmen Dampf spürte, welchen sie ausströmten. – Aus dem kleinen Wagen kroch eine Figur und schritt in das Gehölz. Dort schlug sie Feuer, zündete in einer alten Laterne ein Lichtstümpchen an und schloß die kleine blecherne Tür sogleich wieder. Die Wände der Laterne waren trübes, schmutziges Horn, das Licht gab also nur einen sehr matten, unsicheren Schein, bei welchem kaum die äußeren Umrisse des Mannes zu erkennen waren.

Er trug einen langen Mantel, sein Gesicht war durch eine tiefe Mütze halb verhüllt – nur wie er mit der Laterne am Gesträuche herumsuchte, kam er einmal mit dem Lichte bis in die Nähe der Brust, und man sah einen dichten grauen Bart aus dem Mantel herausgucken.

Sein Bestreben ging dahin, einen Zugang ins Gehölz[5] zu finden, und bald fuhr er auch seinen Wagen mitten in eine kleine Birkenschonung hinein, deren junge Stämme und Zweige Pferden und Rädern nachgeben.

Darauf barg er die Laterne unter dem Mantel und schritt eiligen Fußes auf der entgegengesetzten Seite aus dem Hölzchen. Man kann eigentlich nicht sagen, er schritt, es war mehr ein geräuschloses Hinschlüpfen. Im Freien angekommen, kauerte er sich zusammen und horchte mit angehaltenem Atem. Aber der Wind fuhr eben rauh über die Fläche und warf harten, eisigen Regen durcheinander. Es war kalt und schauerlich. Als jedoch der heftige Windstoß vorüber war, drang es wirklich wie ein leises Geräusch von allen Seiten her, aber das Geräusch war wunderbar und ungewöhnlich, bald war es einem Wimmern, bald dem Hufschlag von Pferden, bald dem Gestöhn eines Tieres ähnlich – ein neuer Windstoß, und es war nichts zu vernehmen.

Der graubärtige Mann schien befriedigt und huschte weiter fort auf der nassen Erde, ohne die Laterne hervorzubringen. Plötzlich strauchelte er und fiel auf die Seite. Lautlos raffte er sich wieder zusammen, öffnete den Mantel ein wenig und suchte mit dem trüben Lichte seiner Hornleuchte, was im Wege liege.

Es war ein Mensch, der auf dem Angesichte lag. Ringsum floß eine schwarze Masse, in welcher die einzelnen fallenden Schneeflocken schmolzen, und die man selbst bei der düsteren Beleuchtung für Blut erkannte. Der Graubart rückte näher und beleuchtete den Körper von unten bis oben. Darauf schüttelte er den Kopf, setzte die Leuchte beiseit und versuchte es, den Menschen umzuwenden. Mit Mühe gelang es ihm; denn der Körper wog schwer, es war ein Leichnam. Der Alte nahm die Leuchte wieder zur Hand, das Gesicht war von Blut besudelt, aber des Alten Forschen ging auf einen Orden, den der Tote auf der Brust trug. Er untersuchte ihn beim Schein der Laterne. Davon abstehend hielt er eine[6] Weile inne und seufzte tief. Dann riß er des Toten Rock auf, leerte ihm die Taschen und schlüpfte weiter.

In einiger Entfernung gab's ein heftig Stöhnen – der Alte näherte sich vorsichtig, prallte aber wie von einem heftigen Stoße zurück, daß der Mantel aufschlug und die Leuchte schimmerte. Es war ein sterbendes Pferd, das mit dem Tode ringend die Vorderfüße in die Erde hieb und dann röchelnd zusammenbrach. Der Alte nahm ein Pistol aus dem Sattel, untersuchte vorsichtig, ob es geladen sei, und versuchte so dann, auch das andere hervorzuziehen; er war aber zu schwach, die daraufliegende Wucht des Tieres zu lösen.

Jetzt schlug er den Mantel zurück, erhob sich und ging offen mit seiner Leuchte weiter. Links und rechts fand er Leichname und Kadaver von Pferden. Er untersuchte überall, nahm, was er fand, schob's in die Taschen eines weiten schwarzen Gewandes, das er unter dem Mantel trug, und ging weiter.

Erschöpft setzte er sich endlich auf die Kruppe eines toten Pferdes, stellte die Leuchte an die Erde und seufzte tief und schwer. »Russen, Russen, nichts als Russen – o Joel!«

Bei diesen leise gemurmelten Worten stemmte er die Hände auf die Knie, der lange Oberkörper hob sich geisterartig aus dem Mantel, und bückte sich nach vorn. Das schmutzig-gelbe Licht der Laterne fiel zum ersten Male völlig auf ihn. Es war ein alter, von Haaren fast unkenntlicher Judenkopf. Der weißgraue Bart bedeckte die untere Hälfte des Gesichts und ging bis dicht an die Backenknochen. Auch von den Wangen selbst und von der scharfen großen Habichtsnase hingen einzelne lange Haare, und die Augenbrauen buschten sich mit ihrem noch dunkel gebliebenen Kolorit bis an die Augenlider. Die Figur war lang und schmal und gebückt, in einen anliegenden schwarzen Rock gehüllt, der bis auf die Füße reichte und von seidenem Stoff zu sein schien, wie ihn die polnischen Juden heute noch tragen. Seine[7] mageren langen Hände, mit schwarzen Haaren bedeckt, stachen grell von dem dunkeln Kaftan ab.

»O Joel, mein Joel!« stöhnte er aufs neue und erhob sich wieder und schritt weiter zwischen Leichen und Kadavern, die jetzt mitunter zu großen Haufen im Wege lagen. Es war kein Zweifel mehr, daß er auf einem Schlachtfelde wandelte. – Aus einem Haufen drang plötzlich das deutliche Wimmern eines Menschen. Der Alte steckte hastig seinen Kopf vorwärts und horchte, und als sich das Gestöhn wiederholte, schritt er schnell darauf zu. Es drang mitten aus einem Hügel von Leichen. Mit riesenmäßiger Anstrengung, die niemand dem alten Manne hätte zutrauen sollen, warf er die oben liegenden Körper auf die Seite und drang zu dem noch Lebenden. Er richtete ihn halb auf und griff in die Tasche, brachte eine Flasche hervor und gab ihm zu trinken. Dem Unglücklichen waren die Beine zerschossen. Der Alte streichelte ihm heftig das Gesicht und fragte mit fliegenden Worten, wo die Kickischen Ulanen zuletzt gefochten hätten. »Sage mir's, Freund, sage mir's gleich, ich komme wieder und nehme dich mit.«

Der Verwundete streckte den Arm aus und wies nach Westen. »Ist es weit?« Verneinend schüttelte jener den Kopf.

Da nahm der Alte heftig die Leuchte und wollte von dannen, aber der zerschossene Soldat griff krampfhaft in den langen Mantel, und sein Wimmern und seine Mienen beschworen den Juden, ihm zu helfen. Mit einem Ruck machte sich indessen dieser los, sprach: »Ich komme zurück!« und schritt hinein in die Finsternis.

Schneidend drang das Gestöhn des Verlassenen durch die Nacht.

Der alte Jude war nicht lange gegangen, da stolperte er über Kürasse und Helme. – »Gott meiner Väter, ich bin auf dem rechten, traurigen Wege,« murmelte er vor sich hin, »mit diesen eisernen Männern haben sie gefochten.« Und[8] überwältigt von Angst und Sorge brach er in lautes Wehklagen aus: »Joel, Joel, Sohn meiner Esther, wo bist du?!«

Hastig unter den Riesenleichnamen der Kürassiere herumsuchend, die auf und unter den ungeheuren Pferden lagen, wiederholte er diesen Schmerzensruf unaufhörlich.

Auf einmal vernahm er in einiger Entfernung eine Stimme, aber der Wind warf den rasselnden Eisregen dazwischen, er konnte nichts Deutliches vernehmen.

»Manasse, mein Vater!« klang es von neuem. »Joel, ich komme, Joel –«

Aber statt hinzueilen, duckte er sich zusammen zwischen die Füße eines toten Pferdes und regte sich nicht. Seine aufmerksamen Sinne hatten ihn auch nicht getäuscht, ein Trupp Soldaten kam über das Schlachtfeld dahergeritten gerade auf den Ort zu, wo Manasse lag, die Leuchte fest in den Mantel hüllend. Ob sie versprengt, ob Freund oder Feind waren, wer konnte es wissen.

Ein Mann mit einer hell brennenden Laterne schritt voraus, die Pferde gingen schlurfend und unruhig zwischen den Leichen, sie kamen dicht zu Manasse; kaum wagte er es, hinzusehen nach den in Mäntel gehüllten Reitern.

Dicht in seiner Nähe hielten sie, und einige stiegen von den Pferden. Manasse hörte ihre Sprache; es waren Russen. Zitternd vor Frost drückte er sich tiefer in die Weichen des toten Pferdes.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 5-9.
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