[17] Die Finsternis zwischen den Bäumen war natürlich noch dichter und das Fahren sehr beschwerlich. Manasse zitterte und klapperte vor Frost in den nassen Kleidern, sprach aber kein Wort. Er mochte indes noch so oft absteigen, und rechts abführende Wege suchen, indem er mit den Händen herumtastete, immer hörte man von Zeit zu Zeit auf der linken Seite den verworrenen Lärm russischer Kriegsvölker. Nicht selten mußte er stillhalten, weil er bald eine marschierende, bald eine reitende Truppe vor sich hörte. Es blieb auch nicht aus, daß sich einzelne Nachzügler am Wege fanden, welche vor Wunden oder Erschöpfung nicht weiter konnten und den Wagen in Anspruch nahmen. Glücklicherweise war aber Manasse der russischen Sprache völlig mächtig, und er wies alle Zudringlichen mit dem barschen Bedeuten ab, er führe einen verwundeten russischen General.
Bei alle dem war die Lage äußerst gefährlich; wenn die Russen die polnischen Uniformen gut dem Wagen erkannten, so war das Äußerste zu befürchten. So nötig ihnen also auch das Tageslicht war zum Auffinden des Weges, so besorgt sahen sie doch das verdrießliche Grau des Morgens heraufdämmern.
Und das Unglück stand auch schon am Wege. Nicht weit von ihnen teilte sich die Straße; am Scheidepunkte hielt[17] ein russischer Offizier zu Pferde. Als er das Fuhrwerk erblickte, kam er ihm einige Schritte entgegen und forderte mit rauhen Worten die Abtretung des Wagens. Manasse brachte die gewöhnliche Entschuldigung vor. Der Offizier ließ sich aber nicht hindern, zog den Degen, gebot Halt und steckte den Kopf nach dem Wagen hinein. Glücklicherweise war jener Mantel, womit Joel auf dem Schlachtfelde seinen Nachbar zugedeckt hatte, von einem russischen Kürassier. Joel suchte deshalb in Eile sich selbst damit zu bedecken, und da er ebenfalls Russisch verstand, so rief der drohend, der Kamerad möge einen russischen General nicht aufhalten. Der Offizier an die unterwürfigste Subordination gegen Höhere gewöhnt, wollte sich eiligst zurückziehen, als Valerius – so hieß der Nachbar Joels – zum ersten Male die Besinnung wieder erhielt und sich ein wenig aufrichtete. Der plötzliche Stillstand des Wagens, das heftige Gespräch mochten dazu beigetragen haben. Durch diese Bewegung ward der Mantel zurückgeschlagen, und der Offizier sah noch mit dem letzten Blicke polnische Uniformen. Da erhob er ein lautes Fluchen, hieb mit dem Säbel nach Manasse und griff nach der Pistolenhalfter. Manasse war aber dem Hiebe glücklich ausgewichen, Joel schob sich, so schnell und so weit es seine Wunde gestattete, vorn nach der Öffnung des Wagens und drückte ein Pistol nach ihm ab. Der Schuß traf, der Reiter wankte, Manasse hieb in die Pferde, und der Wagen flog rechts in den Weg hinein.
Es war dasselbe Pistol, welches Manasse auf dem Schlachtfelde mitgenommen und unterwegs seinem Sohne gegeben hatte. Dies rettete sie für den Augenblick; der Schuß hatte aber ihre Lage doppelt bedenklich gemacht. Er mußte alles aufregen, was von Feinden in der Nähe war, und wirklich hörten die Flüchtigen bald mehrere Schüsse hinter sich fallen und Lärm von vielen Seiten. Manasse trieb die bereits erschöpften kleinen Pferde auf das äußerste an und[18] fuhr in jeden noch so schwach angedeuteten Weg hinein, welcher sich nach rechts hin öffnete.
Nach einer Viertelstunde hörte aller Weg auf, und sie waren mitten im unwirtlichen Forste. Die beschneiten Kiefern sahen sie trostlos an, der Schnee fiel dichter, sie waren ratlos. Manasse stieg wimmernd und betend ab, um einen Ausweg zu suchen. Valerius war unterdessen völlig zu sich gekommen, Joel sah jetzt hastig nach des Nachbars breiter Kopfwunde. Es war der tüchtige Hieb eines handfesten Kürassiers. So gut er konnte, verband er wenigstens die klaffende Stelle mit seinem Halstuche und setzte Valerius von dem in Kenntnis, was mit ihnen vorgegangen war.
»Und warum fahren wir zu den Feinden statt nach Warschau?« fragte dieser verwundert.
»Still, still!« erwiderte Joel, »wo ich Sie unterbringen werde, gibt's keine Feinde, es ist eine überaus patriotische Familie, Sie werden mit Bequemlichkeit geheilt, die alte Gräfin –«
Ein durchdringender Schrei Manasses unterbrach ihn. Sie fuhren hastig an die Öffnung des Wagens, Manasse kam an den Wagen gestürzt, die Pferde gerieten in Bewegung, ein Wolf sprang durch die Bäume, graurot, mager, den Kopf mit den tödlichen düsteren Augen nach dem Fuhrwerke gerichtet. Valerius und Joel schrien ebenfalls jach auf, die Pferde jagten mit dem Wagen in die Bäume hinein, die Achsen und Rippen des Fuhrwerks krachten, mit Mühe erhaschte Joel die Zügel und sprang, seine Wunde vergessend, aus dem Wagen. Ebenso tat Valerius, dessen Füße ihn nicht hinderten, rückwärts nach dem verlassenen Schauplatze zu laufen. Joel konnte nicht wieder von der Erde in die Höhe und schrie auf das kläglichste: »Manasse, Vater Manasse!«
Der Alte war bei dem plötzlichen Anrücken des Wagens auf die Seite geworfen worden und zurückgeblieben. Alles das lag im Zeitraume von wenig Augenblicken.[19]
Valerius fand noch vom Schlachtfelde den Säbel an seiner Seite, und obwohl ihm Schmerz und Betäubnis durch die Wunde bei der plötzlichen Bewegung alle Gegenstände in eine Art von Nebel hüllte, so tappte er doch mit gezogener Klinge vorwärts.
Manasse kauerte an einem Baume, zitterte und bebte, und wies mit den Händen nach der Seite: »Er ist vorüber, ist vorüber.«
Kaum vermochte es der schwache Valerius, den in diesem Augenblicke noch schwächeren Alten aufzurichten. Diesem hatte die Todesangst alle Sehnen zerschnitten. Straff und geschmeidig war er bis hierher durch soviel Gefahren gegangen, und vor dem wilden Tiere brach er zusammen. Er gestand es später, daß ihm ein ganzer Trupp Feinde nicht so fürchterlich seien als ein gefährliches Tier. »Es sind doch Menschen,« sagte er mit schwacher Stimme, als er bis zum Wagen gekommen war und sich ein wenig erholt hatte, »es sind Menschen, für tausend Dinge zugänglich, mit Organen wie ich, mit Schwächen wie ich. Sie können auf mich schießen, und meine Furcht ist nicht so groß, sie können vorbeischießen – aber die Bestie hat keine Schwäche mit mir gemein, ihre Zähne treffen immer – ach Joel!«
Trotz seiner Schwäche sah er, daß der Sohn hilflos an der Erde lag, und mit zitternden Händen griff er nach ihm. »Joel, warum tust du dir solchen Schaden! Das wilde Tier sprang vorbei, weil wir alle geschrien haben, wozu steigst du mit dem kranken Beine vom Wagen! – –«
Joel verbarg seinen Schmerz und ließ sich von Valerius und dem Alten wieder hinaufheben. Darauf untersuchte Manasse voll Angst und Sorge, ob und wie der Wagen zerbrochen wäre, sah sich indessen immer noch vorsichtig um, ob noch eine Bestie in der Nähe sei.
Der Wagen war zwar beschädigt, aber nicht so arg, daß die Weiterfahrt nicht hätte gewagt werden können. Er war[20] durch den plötzlichen Ruck der Pferde auf einen schmalen freien Platz gebracht worden, und es öffnete sich wieder ein enger Weg rechts in den Wald hinein. So fuhren sie denn in Gottes Namen weiter. Manasse war noch totenbleich, und die großen schwarzen Augen lagen erloschen tief in den Höhlen, die langen erstarrten Finger hielten unsicher die Lenkstricke der Pferde.
So ging's einige Stunden fort. Es zeigte sich kein Wechsel: immer dieselben unwirtlichen Kiefern, derselbe halb verschneite Weg. Valerius sagte, ob man nicht den Pferden etwas Heu vorlegen wolle. Manasse schüttelte schweigend den Kopf. Man könne indessen ein Feuer anmachen, um sich ein wenig zu wärmen. Manasse selbst vor Frost klappernd, schüttelte schweigend den Kopf. – Der Alte war zwar von Wilna bis Lemberg und von Brody bis Kalisch mit allen Wegen und Stegen des alten Königreichs bekannt, aber wer einmal auf Irrwege gerät in diesen polnischen Wäldern, namentlich wenn der Schnee die Gegenden alle gleich macht, der braucht auch bei genauer Kenntnis des Landes oft Tag und Nacht, eh' er sich wieder zurecht findet. Manasse sah immer aufmerksam vor sich hin und trieb die müden Pferde ununterbrochen an. Joel klagte über Hunger: der Alte zog ein Stück Brot aus der Tasche und reichte es seinem Sohne, ohne selbst einen Bissen zu begehren. Wohl aber wandte er sich verdrießlich um, als Joel einen Teil davon an seinen Nachbar gab.
Es mochte gegen Mittag sein, als er still hielt und den Pferden etwas von dem Heu vorwarf, was auf dem Wagen lag. Er zupfte es von der Seite heraus, auf welcher Valerius saß, und beobachtete übrigens noch immer dasselbe Schweigen. Vorsichtig griff er nun an seines Sohnes Bein und sah fragend mit schmerzlichem Gesichte zu ihm in die Höhe. Auf Joels zufriedenes Kopfnicken ging er hinweg und stellte sich an die Seite des Wagens. Das Schneien hörte[21] auf, und es fuhr solch ein hellgrauer Dämmer über den Himmel, wie er in jenen Gegenden zuweilen daran erinnert, es sei noch eine Sonne hinter den Wolken. Alles rings war still.
»Ich höre Tritte – wahrhaftig, ich höre Tritte,« sagte Manasse murmelnd vor sich hin. Joel und Valerius indessen entdeckten nichts. Wirklich aber trat nach einer Weile ein Mann aus den Kiefern und kam in den Weg unserer Reisenden. Er nahm keine Notiz von ihnen und wäre wahrscheinlich ohne zu grüßen vorübergeschritten, wenn ihn nicht Manasse angeredet hätte. Der polnische Bauer, und einem solchen sah er gleich in dem kurzen Schafpelze, der die Knie kaum bedeckte, ist auf der Landstraße nickt gesellig, am wenigsten spricht er einen Juden an. Das unterläßt er nicht sowohl aus Haß oder Abneigung, sondern aus gewöhnlicher Gleichgültigkeit. Der Reisende hat kein Interesse für ihn, und die deutsche Redseligkeit, die sich freut, wenn sie nur Gelegenheit findet, etwas zu reden, die kennt er nicht. Er geht tagelang durch Wald und Feld, ohne ein Wort zu sprechen. Er unterscheidet sich von der höheren Klasse in sehr vielen Dingen, welche nicht bloß Reichtum und äußere Verhältnisse betreffen. Das Melancholische des slawischen Volkscharakters ist noch vielfach am Bauer zu erkennen. Mag er auch heftig, schnell, verschlagen erscheinen, der trübe Slawe ist doch der Grund seines Wesens, und Schweigsamkeit bringt er aus seiner Hütte mit. Das chevalereske lebendige Wesen der Polen, das uns als polnisches bekannt wird, ist, wie gesagt, mehr dem Vornehmen eigen, und widerspricht auch dem eben Gesagten nicht – der lebhafteste Pole ist nicht so geschwätzig wie der Franzose und Deutsche.
Manasse erkundigte sich in schneller Frage nach Weg und Richtung, und ob kein Dorf in der Nähe sei. Der Bauer antwortete »Ja!« und schritt weiter. Manasse zäumte die Pferde wieder und fuhr hinter ihm her. Bald hatte er ihn eingeholt und begann seine Fragen von neuem: ob Russen[22] in dieser Gegend seien? Der Bauer schüttelte den Kopf – ob da drüben, von wo er herkäme, schon welche wären?
»Ja.«
Nun peitschte der Alte die Pferde, und in kurzem sah er auch die Hütten eines Heidedörfchens vor sich. Gleich aus dem ersten Hause guckte ein alter Judenkopf nach den Ankömmlingen. Manasse hielt still, denn das war ihm ein Zeichen, daß er vor dem Wirtshause sei. Die meisten der polnischen Schenken sind im Besitz von Israeliten.
Die Verwundeten wurden ins Haus gebracht. Das Zimmer begann sogleich an der Haustür, der Fußboden war ohne Dielen, ein großer Ofen stand in einer Ecke des weiten Raumes, und Feuer und Rauch drangen aus seinen vielen Ritzen. Dort legte Manasse seinen Sohn nieder, versorgte die Pferde, verschaffte sich warmes Wasser, zog ein chirurgisches Besteck unter dem seidenen Rocke hervor und kniete nun hin vor seinen Sohn, um die Wunde zu untersuchen. Aus den festen und sicheren Handgriffen konnte man schnell ersehen, daß er in dieser Beschäftigung vollkommen erfahren war. Als er die Wunde abgewaschen hatte, stöhnte er vor Schmerz, als säße die Kugel, welche er entdeckte, in seinem Fleische.
Unterdes trat auch der Bauer ein, forderte ein Glas Schnaps und sah der Operation zu. Aufmerksam betrachtete er die Uniformen der Reisenden; sie waren das erste, was seinen Indifferentismus zu stören schien.
Zur Stärkung für die Verschmachtenden war nichts zu finden, als ein Glas Schnaps, ein Stück Brot und ein Töpfchen alter Kartoffeln, das Manasse ans Feuer setzte.
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