10.

[51] So gewaltig ist selbst bei stumpfen Barbaren die moralische Kraft eines Begriffes: vor diesem gefürchteten Namen schraken die Angreifer bis zur Untätigkeit zusammen. Cölestin war der erste, welcher ihn ausrief; das verhängnisvolle Pfeifen in ihrem Rücken, der Anblick jener Gestalt, die nur drohend eine lange Flinte in die Höhe hielt, preßte den Russen das gleiche Geschrei dieses Namens aus, und sie standen gelähmt wie die Wölfe, welche eine Feuerflamme vor sich aufschlagen sehen.[51]

Die Genossen des Schmiedes, welche von der Haustür herauf gedrungen waren und sich mit der Besatzung aus den Ställen verbunden hatten, überwältigten mit leichter Mühe den Rest des Streifkorps, der sich nur matt widersetzte. In diesem Augenblicke hörte man vor dem Schlosse die Fanfare einer Trompete. Cölestin hob wirklich mit frohlockender Miene sein Licht hinter dem Ofen hervor, der Schmied – denn dies war wirklich der so plötzlich erschienene Mann – sprang mit einem Satze zum Fenster. Valerius, im Anschauen desselben verloren, sah ihn das blitzende graue Auge wie einen Pfeil hinabschießen – »es wird Graf Stanislaus endlich sein!« schrie der Graf; ein flüchtiges Licht der Befriedigung flog über das Antlitz des Schmiedes und er nickte leicht mit dem Kopfe. Darauf ging er raschen Schrittes zum Stuhle der alten Gräfin, nahm seine dunkelrote Pelzmütze ab, bückte sich, tief und küßte den Saum ihres schwarzen Gewandes. Sein dichter Busch brauner Haare, hie und da schon mit grauen vermischt, fiel ihm dabei ins Gesicht, und er murmelte einige unverständliche Worte.

Der Graf rief indes nach Cölestin, er solle eine Flasche Champagner und einen der Gefangenen herbeibringen. Die Bedienten schleppten einen der Kürassiere in den Saal. Er fiel um Gnade flehend vor dem Grafen auf die Knie, und aus einem mit Haaren verwachsenen schwarzen Gesichte sahen seine trüben, ausdruckslosen Augen starr auf die Hand seines neuen Herrn. Cölestin schenkte den Wein ins große Bierglas, dessen sich der Graf zu bedienen pflegte; dieser aber spannte den Hahn eines Pistols und schoß die Ladung dem Gefangenen ins Gesicht. Das arme Schlachtopfer duckte in Todesangst den Kopf nieder, und die Kugel riß ihm das Hinterhaupt entzwei, daß das Hirn weit umherspritzte.

Schreiend stürzte Hedwig herbei, um dem Vater in den Arm zu fallen, es war aber zu spät. Der Graf stieß einen Fluch aus und wollte den Körper des Unglücklichen mit dem[52] Fuße fortstoßen, ein heftiger Schmerz erinnerte ihn aber an seine Krankheit; er griff zur Entschädigung nach dem vollen Glase und trank es in einem Zuge leer.

Als die Bedienten den Zerschossenen hinausschleiften, erschien Graf Stanislaus an der Tür. Kopfschüttelnd und mit trübem Ausdrucke im Gesicht übersah er noch schnell, was sich eben ereignet hatte. Lärmend hieß ihn der Graf willkommen, erzählte ihm, was vorgefallen, und mit den Worten: »Zu rechter Zeit kam der Schmied«, wollte er sich eben zu diesem herumwenden, als er erst bemerkte, daß dieser Mann schon verschwunden sei, ohne einen Dank abzuwarten.

Stanislaus, ein hoch gewachsener junger und blühender Mann, erklärte, die Abreise nach Warschau müßte sogleich vor sich gehen, die Streifkorps drängten immer häufiger hinüber, jede Stunde Aufschub sei Verlust, man würde ohnedies nur bei großem Glücke ungefährdet passieren können.

Cölestin brachte die Nachricht, der Schmied mit seinen Leuten sei aufgebrochen, um die Straße für die gnädige Frau Gräfin rein zu halten, die Reise müsse aber sogleich angetreten werden, Magyac kenne die Tour genau, welche zu nehmen sei, an ihn solle man sich halten. Der Graf runzelte die Stirn und gab Befehl aufzubrechen.

Binnen einer halben Stunde saß er im ersten Wagen, wohl verpackt und rings mit Waffen umgeben, im zweiten fuhren die Damen, Stanislaus ritt auf der einen Seite, Valerius und Joel trabten auf der andern, dieser mit dem traurigsten Gesichte von der Welt. Magyac eröffnete den Zug mit der Hälfte von den mit Stanislaus angekommenen Ulanen, die andere Hälfte mit den berittenen Bedienten des Grafen schloß ihn. Das wüste Herrnhaus mit den toten Russen blieb einsam zurück, die übrigen Gefangenen waren mit dem Schmiede und seinen Leuten verschwunden. Es ging im raschen Trabe durch den Wald hin, an keinem Wagen war ein Licht zu sehen, hie und da nur fielen glänzende[53] Mondesstrahlen auf den schwarzen Trupp, und von Zeit zu Zeit hörte man jenes Drosselpfeifen tief aus dem Walde, das Magyac an der Spitze des Zuges beantwortete.

Von den Reitern konnte niemand sprechen, weil sie mit größter Sorgfalt auf Weg und Pferde achten mußten, alle Minuten stolperte ein Tier über die Baumwurzeln. Nur Hedwig tat einige leichte Fragen an Stanislaus, und fragte Valerius und Joel, ob niemand verwundet worden sei. »Ich seh' ja durch den Mondschein, lieber Joel, daß Sie ein klägliches Gesicht machen? Pfui doch, solch ein rascher Schütze, solch ein frischer Reiter.«

Joel seufzte tief auf, und Valerius sah bei einem Blicke des Mondes ein schmerzliches Lächeln über sein Gesicht gleiten. Valerius selbst war aber zu voll von dem, was vorgefallen. Das Bild des Schmiedes von Wavre wich nicht von den Augen seines Gedächtnisses. Er erschien ihm wie die verkörperte schmiegsame Kraft dieser ganzen Nation. All jenes verschlossene, verschlagene Element dieses Volkes mit den blitzraschen Bewegungen, jene vornehme Armut, jener ganze Anstrich von heldenmütigen Brigants, den eine insurgierende Nation von dieser fliegenden Tapferkeit leicht erhält, all dies ursprüngliche Sarmatentum erblickte er in diesem Manne.

Wie er dastand – sprach die Erinnerung eifrig in ihm fort – als sein bloßer Anblick den Sieg entschieden hatte, in dem kurzen weißgrauen Kittel, den der breite Ledergurt straff zusammenzog! Die Muskeln seiner Hand spielten wie heiße Sonnenstrahlen an der Büchse – und unter dem Pulverdampfe von des Grafen Mordpistole verschwand er wie ein Geist, er war der Urgeist einer Nation.

Er ertappte sich lächelnd auf diesen Übertreibungen, konnte und wollte sich aber nicht davon losmachen. Das Leben wird erst unser, wenn es sich wieder erzeugt in unserm Innern, darum sind die Dichter die reichsten Menschen, darum sind sie kleine Götter, die alle Tage eine Welt schaffen und[54] sich mit dem Troste zu Bette legen: Siehe, es war alles sehr gut. Im Sturm der Dinge selbst sind wir die Beute der Dinge; ist es doch ein Hauptglück des gegenwärtigsten Reizes; der Liebe, sich ihrer zu erinnern. Ein jahrelang ersehnter Kuß, im Fluge geraubt und erwidert, macht ein ganzes darauffolgendes Leben voll Gewöhnlichkeit erträglich, während jener eigentliche Lebensaugenblick an sich kaum empfunden ward und nur durch die lange Erwartung vorher und die lange Erinnerung nachher ein beglückendes Ereignis wurde.

So liegt in uns von Hause aus jener viel gesuchte Sieg über das Äußere.

Aber auch diese nachschaffende Fähigkeit war getrübt in Valerius, er reizte sich mehr zum Genuß, als daß dieser Genuß ihn aufgesucht hätte. Der Mittelpunkt seines Lebens war verschoben, und alles übrige dadurch in Unordnung geraten. So machte er sich Vorwürfe über diese ärmliche Manier, wie er's nannte, nur das zu erkennen und zu ergreifen, was vorüber sei, nicht der gegenwärtige Anblick dieses spärlich erleuchteten nächtlichen Zuges wecke ein romantisches Gefühl in ihm, schalt er weiter, nein, es sei der Augenblick, als vor fünf Minuten die Mondesstrahlen glänzend durch die Baumgipfel gebrochen seien, jener Augenblick übe den Reiz auf sein Inneres, obwohl das Auge noch fortwährend dasselbe sehen könne, jener vergangene Augenblick liege bereits als geschichtliches Bild dieser Fahrt in seinem Gedächtnisse. – »Ich will keine Vergangenheit, ich will Gegenwart,« sprach er wie ein ungezogenes Kind vor sich hin – »ich will ein Mensch sein, nicht aber ein Künstler, den Träume beglücken.«

So wütet der Mensch gegen sein Fleisch, und der Starke schmäht seine doppelten Kräfte, weil er in den Stunden des Unmuts einen Schwachen lächeln sieht, und diesen um seine Schwäche beneiden zu müssen glaubt.

Aber wir mögen uns noch soviel Mühe geben, unserem Wesen ungetreu zu werden, unser eigentliches Wesen ist unsere[55] Gesundheit, und die Natur strebt immer von selbst wieder dahin zurück.

Ehe er sich seines Unmuts recht bewußt wurde, war Valerius mit den Gedanken in Deutschland, und ein Ort nach dem andern mußte sich ihm darstellen im Mondschein dieser Nacht. Das sind Bilder, die den Menschen am meisten befangen mit ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit. Eine Gruppe nach der andern breitet sich vor ihm aus, jede hat ihre tausend Beziehungen und Gewichte, die sich fortwährend im Gleise erhalten, jede führt zu einer neuen, und der Geist irrt von einem Lande zum andern, über den Ozean, wo jener Mondschein nicht zu sehen ist, und die Leute im Sonnenstrahl umherwandeln – »beim Schein des Mondes, beim Strahl der Sonne denken wohl manche von jenen Leuten an den Kampf in Polen, und so weckt und wirkt alles durcheinander in dieser Welt, und der Gedanke an den Allmächtigen füllt das Herz –

Camilla, Camilla, die Welt ist zu groß, das Interesse zu mannigfaltig, Gottes Gedanke zu tief, und ich will alles suchen – dein Auge kommt mir immer seltener, ich tauge nichts für die Liebe, ich bin krank an Überfluß, und arm an Liebe für das einzelne, vergib mir!« –

Da stolperte sein Pferd über eine Wurzel, sein Schenkel ward an einem Baime gequetscht, und so erinnerte ihn die Gegenwart nur zu deutlich, daß er wiederum außer ihr gewesen sei. Der Zug hielt still, und jetzt erst bemerkte Valerius, daß fernher aus dem Walde einzelne Feuer leuchteten. Er ritt vorsichtig bis an die Spitze des Zuges – Magyac sah unentschlossen nach der Seite in den dichten Wald, als solle ihm von dort her Rat und Hilfe werden. Ein Umweg durch den Wald war nicht möglich für die Wagen, die Bäume standen zu dicht.

Träumerisch sah Valerius nach den Feuern, er bemerkte es nicht, daß sein Pferd langsamen Schrittes ihnen sich[56] näherte; Magyac war zwischen die Bäume geritten, wahrscheinlich um zu rekognoszieren, und hatte keine Acht auf den melancholischen Deutschen; die vordersten Ulanen mochten glauben, er wolle ebenfalls die Ortsgelegenheit näher erkunden – kurz er kam ungehindert den Feuern immer näher, und ohne nachzudenken betrachtete er das neue Schauspiel. Etwa wie man ein Wouvermannsches Schlachtgemälde ansieht, ohne einen Augenblick daran zu denken, das ausgehobene Schwert des Mannes auf dem friesischen Schimmel könne uns treffen.

Auf einer Lichtung war ein Trupp Kosaken gelagert, Roß und Reiter ruhten an der Erde, gewärmt durch hohe Feuer. Die Lanzen steckten ihnen zur Seite im Boden, und der größte Teil dieser rastlosen Steppenbewohner schien zu schlafen; hie und da erhob sich einer mechanisch mit dem halben Körper und warf ein frisches Stück Holz in die Glut, dann sank er wieder in die vorige Stellung zurück, oder suchte sich ein bequemeres Kopfkissen auf dem Bauche seines Pferdes. Die bärtigen, augenlosen Gesichter, zur Hälfte gewöhnlich im Schatten, zur Hälfte vom Feuer beleuchtet, erhöhten durch ihre Regungslosigkeit die Täuschung, ein Gemälde zu sehen.

So kam der junge Träumer bis zu den letzten Bäumen, welche an seinem schmalen Wege die Lichtung begrenzten. Einige Schritte nur von ihm hielt der aufgestellte Wachtposten. Der Kosak war ebenfalls eingeschlafen und saß mit untergeschlagenen Armen wie eine Bildsäule da. Mit dem rechten Arme hatte er die Lanze eingeklemmt, die linke Hand hielt den Zügel. Ein langer schneeweißer Bart fiel auf die Brust herab, ein kleines schwarzes Kreuz drängte sich darunter hervor; wahrscheinlich hatte er noch kurz vorher seine Andacht verrichtet, nicht ahnend, wie not es ihm sein dürfte, um seinem Glauben nach glücklicher zu sterben. Der Schlaf hatte ihn übereilt und ihm nicht gestattet, das Kreuzchen wieder auf die behaarte Brust zurückzuschieben.[57]

Es war nur noch ein Schritt zwischen beiden Reitern, das Kosakenpferd zog langsam die trägen Augenlider in die Höhe und rückte den Kopf ein wenig aufwärts. Der Kosak, der die nachlassende Straffheit des Zügels empfinden, wohl auch das Nahen eines Gegenstandes bemerken mochte, machte eine Bewegung mit der Hand, öffnete die Augen, verstorbene, lebensmüde Augen, öffnete den Mund –

Da fühlte Valerius den Zügel seines Pferdes von einer raschen Hand gehalten, der Kosak verschwand plötzlich von seinem Gaule, es erschien ein anderer Reiter darauf, und ehe er sich ermuntern konnte, sah er sich auf dem Rückwege zu seinem Zuge. Der Schmied von Wavre ging neben ihm, ein junger polnischer Bauer ritt zu seiner andern Seite auf dem Kosakenpferde. Mit Grauen sah er bei den nachleuchtenden Feuern, wie der alte Kosak mit einer Schlinge um den Hals von dem Bauer nachgeschleift wurde. Das Pferd des plötzlich Erwürgten trug ebenso geduldig den neuen Reiter, der es so schnell von seinem vorigen befreit hatte. –

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 51-58.
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