27.

[196] Die Hauptarmee war in schnellen Märschen vor Ostrolenka angekommen, hatte dort die Narew überschritten, war auf der großen Straße, die nach Litauen und Petersburg führt, gegen Lomza vorgedrungen und stieß hier auf die Garden. Sie verließen Hals über Kopf ihr Lager, und die Polen nahmen es in Beschlag. Der Augenblick war da, diese Elite des russischen Heeres zu vernichten. Aus einem Bauernhause sah man einen hohen polnischen Offizier stürzen, er trug den Hut in der Hand, das aufgeregte Gesicht glänzte vor Freude, und er rief hastig nach einem Ulanen, der zu Pferde in der Nähe hielt und ein schönes englisches Roß am Zügel hatte, das dem Offizier anzugehören schien. Dieser setzte schon den Fuß in den Bügel, als das kleine Fenster des Hauses schnell aufgerissen wurde, und ein blasses, von der Sonne leicht gebräuntes Antlitz zum Vorschein kam.

»Prondzinski, Prondzinski!« rief der herausblickende Mann, ein schwarzer Schatten von Besorgnis legte sich auf das Gesicht des reisefertigen Offiziers, zögernd gab er dem Ulanen den Zügel wieder und ging unsicher nach dem Bauernhause.

Skrzynecki – dies war der Herausblickende – schlug das Fenster zu, und als sein Generalquartiermeister eintrat, fand er ihn heftig im Zimmer auf und ab gehend.

»Es ist ein unnützes Blutvergießen, Prondzinski, der Angriff auf die Garden; wir müssen erst Nachrichten über die russische Hauptarmee haben, warten Sie noch mit den Befehlen« –

»Um Gottes willen, General, solch eine günstige Stunde kommt nicht wieder, die Garden sind verloren, wenn wir sie[196] angreifen; sie sind gerettet, sobald wir ihnen Zeit lassen, die Brücken und Dämme bei Tycoczin zu passieren, sie vereinigen sich dann gefahrlos mit Diebitsch, sobald dieser über den Bug geht, ich beschwöre Sie, General, lassen Sie uns angreifen.«

Skrzynecki, stand vor einem großen, plumpen Tische aus Fichtenholz; Karten, Pläne, Journale waren darauf ausgebreitet, und er sah scheinbar nachdenkend, oder wie man am Ende bei solchen Augenblicken gewöhnlich ist, gedankenlos auf die Papiere.

Er hatte die Arme übereinandergeschlagen, und als Prondzinski immer heftiger drängte, machte er eine leichte, abwehrende Bewegung mit der Hand und schritt im Zimmer auf und ab. Seine breitschulterige und doch schlanke, hohe Gestalt schien kaum Platz zu finden in der niedrigen Stube, sein Gang hatte jenes Wiegende, das nachdenklichen Menschen oft eigen zu sein pflegt; die Schwere des Körpers senkte sich bei den langen Schritten sichtbar von einer Hüfte auf die andere, und doch war eine gewisse vornehme Leichtigkeit, ein imponierendes Etwas nicht zu verkennen, der Oberkörper nahm wenig oder gar keinen Anteil an der Bewegung. – Prondzinski schien einen Augenblick selbst von der geheimnisvollen Würde dieser Erscheinung betroffen zu sein, und den eigenen klaren Ansichten vom Verhältnis der Dinge zu mißtrauen. Wenigstens schwieg er.

Der Erfolg hat gelehrt, daß in jener Bauernstube wirklich alles auf dem Spiele stand. Man hat Prondzinski oft den Vorwurf gemacht, daß er bei seinem erstaunlichen Reichtume an Kriegsplänen arm gewesen sei an dem Mute einer konsequenten, rücksichtslosen Ausführung. Der Vorwurf ist wahrscheinlich nicht ungerecht, wenigstens darf man auf sein Betragen in der Schlacht bei Iganie, welches allerdings dieser Ansicht widerspricht, kein zu großes Gewicht legen. Es ist wahr, daß er selbst die Soldaten in diese überaus künstlich angelegte Schlacht hineinführte, obwohl nicht alle[197] berechneten Hilfsmittel zur bestimmten Stunde eintrafen, es ist wahr, daß er die größte Kaltblütigkeit mitten in dem mörderischen Kampfe behielt und seinen Leuten während des Sturmschrittes unter dem feindlichen Kugelregen die Vorteile des Bajonettkampfes auseinandersetzte. Aber es ist nicht der persönliche Mut, der ihm mit jenem Tadel abgesprochen werden soll, es ist der moralische Mut eines kräftigen Befehlshabers, welcher große, gewagte Unternehmungen auf seine Schultern nimmt, durch den Gedanken an die Verantwortlichkeit nicht erschreckt wird, und nicht rück-, nicht seitwärts sehend, seinem einmal nach bester Überzeugung gefaßten Entschlusse schnurstracks folgt. Nicht die Geschicklichkeit, sondern die Kraft des Heerführers darf man ihm absprechen. Aus dieser Eigentümlichkeit erklärt sich auch sein späteres Betragen, als das Unglück seiner Nation die Höhe der Krisis erreicht hatte und vielleicht niemand die strategische Fähigkeit in dem Maße besaß wie er – da hatte er nicht die moralische Kraft, das Oberkommando zu übernehmen. Er besaß die größten Kriegskenntnisse, aber sie besaßen ihn nicht, das heißt: sie vermochten es nicht über ihn, ein zweifelloses Vertrauen gegen sie zu hegen, sie konnten ihm nicht die Kraft geben, welche seinem Temperamente abging. Prondzinski ist ein deutliches Beispiel, wieviel mehr ein beschränkter Kopf vermag, der sein geringes Wissen fest zusammengedrückt in der kräftigen Hand hält, als ein reiches Talent ohne energischen Charakter. Eine gewisse Einseitigkeit ist zu den größten Handlungen nötig; es gibt nichts in der Welt, was nicht in mancher Rücksicht bedenklich erschiene, und wer alle Rücksichten bedenken will, wird nie ein Schöpfer.

In dieser Situation war aber Prondzinski außer allem Zweifel. Seine Stellung überhob ihn der Verantwortlichkeit im großen, seine Einsicht lehrte ihn das Notwendige des unverzüglichen, kräftigen Angriffs und verhieß ihm die[198] glänzendsten Früchte, stellte ihm aufs deutlichste die schlimmen Folgen der Unterlassung dar. Es war also nicht zu verwundern, daß er mit solchem Eifer in den Oberfeldherrn drang, ja, daß er diesen bald bis zur Leidenschaftlichkeit steigerte. Ebenso lag es aber auch in seinem oft zweifelnden und mitten im Laufe still haltenden Wesen, daß ihn die imponierende Verweigerung des Angriffs von seiten Skrzyneckis eine Weile befangen machen konnte. Was der Oberfeldherr einmal unternommen hatte, das war stark und tüchtig von ihm durchgeführt worden – gerade was uns fehlt, macht den gebietendsten Eindruck auf uns, sobald wir es anderen entdecken: diese stille nachhaltige Kraft wirkte einschüchternd auf Prondzinski.

So kam's, daß er den Begegnungen des Generalissimus lange schweigend zusah und zu erwarten schien, es werde bald ein einziges Wort von dessen Lippen kommen, das alle seine Gründe mit einem Male niederschlagen könne. Leute von Prondzinskis Beschaffenheit, die leicht und gewandt produzieren und wenig Kraft besitzen, sind am ersten der Meinung, daß andere mit langsamen Geistesoperationen Gedanken zum Vorschein bringen, welche reifer und vollkommener sind als die Kinder ihrer eigenen schnellen Geistesbewegungen.

Skrzynecki schwieg aber noch immer und ging im Gemache auf und ab. Endlich blieb er am Tische stehen und neigte sich über die Karten hin. Es war aber nicht schwer zu erkennen, daß sein Auge nichts von dem sah, worauf es gerichtet war. Seine Hand, die besser von den Sympathien ihres Herrn unterrichtet sein mußte, griff nach einem französischen Journale, indem sie ein polnisches heftig beiseite stieß. –

»Es ist ein frevelhaftes Geschwätz, das diese Warschauer Journalisten sich erlauben, nichts ist ihnen heilig.«

Diese Worte sprach er mit halber Stimme, und sie schienen ihm so zu entgleiten, daß er selbst kaum etwas[199] davon wissen mochte, denn er vertiefte sich gleich darauf in das französische Journal, und sein Gesicht heiterte sich merklich auf bei der Lektüre. Es war der Avenir von Lamennais, welcher damals mit vieler Salbung von dem religiösen Element des polnischen Oberfeldherrn zu sprechen pflegte, viele Nutzanwendungen daraus auf die nächste Gestaltung Polens, auf Sinn und Geist der Armee und auf die Kriegsführung überhaupt herleitete, und Skrzynecki selbst immer auf eine äußerst schmeichelhafte Weise mit Lobeserhebungen bedachte.

Als Prondzinski diese Wendung der Dinge inne wurde, da verschwand ihm natürlich die Hoffnung auf ein alles erschöpfendes weises Wort Skrzyneckis, das er bisher erwartet hatte, und er begann mit verdoppelter Lebhaftigkeit sein Drängen. Skrzynecki, der nun einmal fest ins Verweigern hineingeraten war, wies ihn ab; jener aber, überwältigt von dem Gedanken eines leichten, überaus erfolgreichen Sieges, von der Vorstellung gequält, daß die entkommenden Garden dem ganzen Feldzuge von außerordentlichem Nachteile werden könnten, warf sich ihm endlich zu Füßen.

»Lassen Sie uns keine Komödie spielen,« rief Skrzynecki entrüstet, »die Verantwortung ist mein, ich werd's vertreten; Sie haben nichts zu tun, General, als meinen Befehlen zu gehorchen.«

Erzürnt sprang dieser auf und sprach heftig: »Nun wohl denn! Vernichten Sie durch dieses unzeitige Zögern die ganze Expedition, setzen Sie unsere Armee aufs Spiel, wenn Diebitsch mit den Garden sich vereint und uns den Rückzug über die Narew vertritt, aber ich will nichts zu schaffen haben mit dieser Art des Krieges, ich verlange meinen Abschied –«

»Den haben Sie – Adieu!«

Prondzinski stürzte hinaus, warf sich aufs Pferd und jagte davon. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht.[200]

Während dieser Zeit hatten die Truppen marschfertig gestanden und den Befehl zum Angriff erwartet; ein Trupp Offiziere hielt zu Pferde auf einer kleinen Anhöhe und hatte das Bauernhaus im Auge, wo der Feldherr wohnte. Sie sahen Prondzinski in voller Karriere sich nähern, hielten dies für ein Zeichen, daß der Angriff schleunigst bewerkstelligt werden sollte, und wollten sich eilig auf ihre Posten begeben. Er machte aber im Vorbeifliegen eine verneinende Bewegung mit der Hand, hielt plötzlich sein Pferd an und blickte mit dem schmerzlichsten Ausdrucke nach der Gegend hin, in welcher die Garden ihre Flucht bewerkstelligten, die ihnen nur durch einzelne polnische Truppenabteilungen schwierig gemacht wurde. Sein sonst blühendes Antlitz war verstört, sein Auge starr, die Gesichtsmuskeln zuckten zuweilen wie vom Krampf ergriffen.

Stanislaus und Valerius befanden sich in der Offiziergruppe, und jener wendete sich fragend an Prondzinski.

»Ich habe keine offizielle Antwort mehr für Sie, ich bin verabschiedet,« sprach er mit metalloser Stimme, »der Generalissimus greift die Garden nicht an.«

Darauf ritt er langsam nach dem polnischen Lager. – Nur ein junger heftiger Oberst stieß einen lauten Fluch aus, die übrigen Offiziere sahen sich erstaunt an, schwiegen aber. Das Vertrauen auf Skrzynecki war damals noch so groß, daß niemand an der Weisheit seiner Maßregeln zu zweifeln wagte.

Es war ein schimmernder Maimorgen, die strahlende Sonne spiegelte sich in den Wellen des Flusses, der Tau blitzte auf der weiten Fläche bis auf die Waldspitzen, die hier und da ins Land hereinliefen, die Vögel sangen, nur aus der Ferne hörte man Schüsse, und Valerius vergaß des Kriegs und seiner Sorgen. Er hatte sich bereits an das wechselnde, gedankenlose Leben gewöhnt, ließ die alten Fragen seines Geistes und Herzens nicht mehr aufkommen,[201] da er weniger als je eine Lösung der Lebensrätsel in Bereitschaft hatte, und sah mit offenem Blicke in die frische Natur hinein.

Da kam eine glänzende Equipage von der Richtung hergefahren, in welcher die Garden entflohen. Man hatte eine so große Menge Luxusartikel in ihrem Lager vorgefunden, daß man auch jenen schimmernden Wagen für eine Beute der nachsetzenden Reiter ansah und sich nicht eben über seine Erscheinung verwunderte. Als er indessen näher kam, fiel es doch auf, daß eine Dame darin saß; in ihrem Begleiter erkannten Valerius und Stanislaus den Wolhynier Kasimir, und wie aus einem Munde riefen sie: »Ludmilla?« Der Wagen hielt einen Augenblick und Kasimir erzählte den beiden teilnehmenden Bekannten, wie er zu diesem Funde gekommen sei. Die eilige Flucht der Garden hatte die Straße verstopft, so den Wagen aufgehalten und ihn den nachsetzenden Polen in die Hände geliefert. Kasimir war dazugekommen. – »Und der Russe?« unterbrach ihn Stanislaus. – »Die Canaille hat seine Beute im Stich gelassen und war schon aus dem Bereich meiner Kugel. Er ist übrigens nicht der eigentliche Räuber gewesen, jene Steuerbestie hat Ludmillen nicht mal für sich gestohlen, sondern für den Anführer eines russischen Korps, das damals aus dem Süden heraufzog, um sich mit den Garden zu vereinigen, so ist das Mädchen hierher gebracht worden.«

Valerius hörte wenig von diesen Worten, er konnte seine Augen nicht abwenden von dem Gesicht Ludmillens. Es entging ihm nicht, daß die Schönheit und das Glück dieses Antlitzes zerbrochen sei, das große Auge, voll von schwerer Leidensgeschichte, wagte es nur selten, schüchtern aufzublicken, die langen Wimpern deckten es schirmend zu, und wenn sie sich hoben, da stieg eine brennende Röte in das bleiche, schöne Gesicht; Zorn und Scham, Stolz und Haß schienen ihm in dieser schnell erscheinenden, schnell verschwindenden[202] Röte aufzuflackern. Das Mädchen war noch zur Hälfte in ihrer früheren ländlichen Tracht, zur Hälfte mit modischen Kleidungsstücken behängt; der Wagen flog davon, und es blieb ein wunderlicher Eindruck dieses Bildes in Valerius zurück. Wie quälen wir uns, dachte er, im engen, kleinen bürgerlichen Leben um die unscheinbarsten Konvenienzen, machen Glück und Unglück davon abhängig und gebärden uns entsetzlich, wenn ein Mädchen allein spazieren geht. Und ein Windstoß der Geschichte wirft alle die kleinen Dinge kopfüber durcheinander, und man hat keine Zeit, danach zu fragen – du armes, blasses Mädchen!

Nachdenklich ritt er zu seinem Biwak zurück, Magyac brachte ihm einen Brief entgegen, der von Warschau angekommen war. Konstantie schrieb:

»Komm, Geliebter; sobald Du diese Zeilen siehst, komm zu mir. Ich vergehe. William kommt täglich ins Haus, wird täglich lästiger. Ein hiesiger Vornehmer verfolgt mich mit Liebesanträgen, und mein Onkel, der alte Kuppler, begünstigt ihn und seine Anträge; ich bin von Ennui umgeben und schmachte nach Dir. Laß mich nicht länger harren. Du mußt mein Wesen soweit kennen, daß die Leidenschaften in mir stets auf Tod und Leben fechten, vernachlässigst Du meine Liebe, so kann sie plötzlich über Nacht ermordet sein. Mein Herz erträgt diesen halben, schmachtenden, unbefriedigten Zustand nicht. Komm sogleich, wenn Du mich noch küssen willst. Was kümmert Dich der Krieg dieses Volkes? Für Deine Wünsche fechten die Leute nicht; wenn sie den russischen Herrn gestürzt haben, dann kommen die polnischen Herren dran; was interessiert Dich das? Du weißt am besten, wie kurz die Jugend, die Kraft zu genießen dauert, warum willst Du sie unnötig selbst noch abkürzen? Es soll mir das einzige, untrügliche Zeichen Deiner Liebe sein, wenn Du kommst. Folgst Du meinem Rufe nicht, so haben wir uns ineinander geirrt.«[203]

Kaum hatte er diese Zeilen zu Ende gelesen, so schmetterte die Trompete, sein Regiment sollte aufsitzen und den Feind verfolgen. Was war zu tun? Der General Kicki – er war im Laufe des Krieges avanciert worden – sprengte eben vorüber und rief mit freundlicher Stimme: »Zu Pferd, zu Pferd, Sie deutscher Freiheitsheld!« Die Trompeten schmetterten aufs neue. Es dünkte ihm unmöglich, es dünkte ihm ehrlos, jetzt das Heer zu verlassen, obwohl er den Ernst von Konstantiens Leidenschaftlichkeit tief erkannte, obwohl er dem natürlichen, richtigen Gefühl zu folgen glaubte, wenn er nach Warschau ritte. Aber die künstlichen Gesellschaftsbegriffe waren zu tief in ihn hineingewachsen; während er sich schalt, daß er die Konvenienz höher achte als das ursprüngliche Gefühl, eilte er zu seinem Regimente und instinktartig mit diesem über die Fläche fort nach Litauen hin. Das Herz blutete in seiner Brust, aber er war dennoch ruhig und ergeben, als müßte es so sein.

Die gesellige Bildung ist selbst in skeptischen Gemütern bereits mächtiger geworden als die natürliche Regung. Der Gedanke, daß der einzelne seine gerechtesten Wünsche der allgemeinen Form unterordnen müsse, damit die Allgemeinheit ungestört fortbestehe, dieser Gedanke wird ihnen nicht gerade in dieser Gestalt klar und anschaulich, aber er ist ihnen so tief eingebildet, daß er sie unumschränkt beherrscht.

Der günstige Moment, die Garden zu vernichten, war vorüber. Die einzelnen Angriffe fügten ihnen zwar vielfachen Schaden zu, hinderten sie aber nicht, den Übergang über den Bug zu gewinnen, und als nun Skrzynecki am folgenden Tage bei den Brücken und Dämmen vor Tycoczin ankam, waren sie bereits bei den andern Ufern in Sicherheit, und er mußte nun seine eigene Passage erzwingen.

Hier betrat die Armee zum ersten Male litauischen Boden, und diese Idee weckte einen großen Jubel im Heere. Es war dies der Höhepunkt der Polnischen Waffen, das angegriffene[204] Volk war in ein angreifendes verwandelt, die Straße nach Petersburg lag offen vor ihm. Es war ein warmer Morgen, als das Heer eine weite Heidefläche vor sich sah, aus welcher eine hohe Säule wie eine Pyramide in der ägyptischen Wüste ragte. Sie führt den Namen Czarneckisäule, weil sie diesem alten Helden zu Ehren auf der Grenze von Litauen und Polen errichtet worden ist. Als der Generalstab bei ihr angekommen war, fesselte ein vielfaches Halt die ganze Armee. Skrzynecki stieg vom Pferde, und alle Reiter folgten seinem Beispiele. Er ließ sich auf die Knie nieder, und alle die wilden Truppen, die man noch kurz vorher nur im blutigen Hasse einherschreitend gesehen hatte, beugten sich betend zur Erde. Es war ein erschütternder Anblick.

Valerius, dem das Gebet nur immer als Wirkung auf den Betenden selbst wichtig erschienen war, sah mit einem andächtigen Erbeben, wie es durch die Gegenseitigkeit, durch den plötzlich laut werdenden allgemeinen Gedanken erschütternd wirkte auf ein zahlreiches, aus sovielen rohen Elementen bestehendes Heer. Er sah auf den harten, sonnenbraunen, zum Teil zerfetzten Gesichtern, über welche jetzt hie und da eine stille, einsame Träne rollte, er sah auf diesen starren bärtigen Gesichtern überall den Ausdruck: »Gott da droben über dem blauen Himmel, du weißt alles, was wir gelitten haben, hilf uns, hilf uns!« Er fühlte in der eigenen Brust ein heißes Gebet aufsteigen: »Du großer und guter Gott, hilf ihnen, hilf allen Menschen, wie toll und töricht wir uns auch mitunter gebärden.«

Die weite Fläche, mit einer unabsehbaren Kriegermasse bedeckt, war still wie ein nur leise murmelndes Meer, die warme Sommersonne zersprengte die leichte Wolkenschicht, welche sich zwischen ihr und der Erde gelagert hatte, der Waffenglanz blitzte in tausend Funken auf. Valerius ward an die sonnigen Feiertagsmorgen seiner Jugend erinnert, wo[205] er im Pfarrhause seines Vaters am Fenster stand und die geputzten Bauersleute in die Kirche wandeln sah. Er hatte immer geglaubt, zum Sonntage und zum Gottesdienste müsse auch die Sonne scheinen; ihr lichter Strahl war ihm Bedürfnis gewesen zur klaren Sabbatstille, die er in seinem Heimatdörfchen immer so erquicklich genossen hatte. Die jetzt durchbrechende Sonne hob seine Andacht zur Begeisterung, er glaubte ein unmittelbares Zeichen des erhörten Gebetes darin zu erblicken. Und nun brauste plötzlich wie das Getümmel einer neuen Weltschöpfung ein altpolnischer andächtiger Gesang aus soviel tausend Männerkehlen über die stille Heide. Was gleicht dem gewaltigen Eindrucke eines tausendstimmigen Männerchors! Das verstockteste Herz wird erschüttert, das mutloseste gehoben. In der menschlichen Stimme liegt vielleicht das meiste von der göttlichen Unmittelbarkeit, ihr tausendfacher Ausdruck erzeugt darum die wunderbarste Wirkung. Das polnische Heer hätte in diesem Augenblicke eine Welt in Waffen angegriffen mit dem zweifellosen Glauben an unendlichen Sieg.

Die feierliche Handlung war beendigt; noch wogte die erhabene Stimmung durch das schweigende Heer, da flogen dicht hintereinander zwei Kuriere im vollen Rosseslaufe durch die offenen Gassen der Truppen nach der Czarneckisäule hin. Sie brachten die Nachricht, daß Diebitsch, seinen Irrtum einsehend, mit seiner Armee schleunigst aufgebrochen und in ungeheuren Märschen über Granna und den Bug gezogen sei. In dem Augenblicke, wo das Heer gebetet hatte, war also seine Hoffnung schon vernichtet gewesen. Das Kriegsgeräusch verbreitete sich bald wieder stürmisch durch die Massen, der Rückzug nach Lomza und Ostrolenka hin mußte schleunigst angetreten werden, wenn sich der Feind nicht zwischen das polnische Heer und Warschau schieben sollte. Unter Gielgud und Chlapowski wurde ein Armeekorps nach Litauen hinein beordert, um die dortige Insurrektion zu unterstützen. Jener[206] Litauer, welcher damals in der Waldhütte neben Valerius am Feuer gesessen hatte, ritt jetzt an dem Deutschen vorüber, welcher eben im Begriff war, mit seiner Truppenabteilung abzuziehen.

»Sie schließen sich der Expedition in Ihre Heimat an?« rief ihm dieser zu, »möge Sie das Glück begleiten!«

Der Litauer richtete einen seiner sanften schwermütigen Blicke zum Himmel und reichte Valerius die Hand. »Ich fürchte, wenn Sie einst wieder im Schoße Ihres Vaterlandes an das ferne Litauen denken, da werden die sanften stillen Bewohner dieses Landes erschossen hinter den Bäumen liegen, welche jetzt noch ihr einziger Schutz sind. Ach, ich habe keine Hoffnung auf Glück; Gott gebe nur, daß ich mit den Waffen in der Hand fallen mag, daß ich nicht den Barbaren in die Hände gerate, nicht die abermalige Ermordung meines Vaterlandes zu sehen habe.«

Valerius wollte ihm die traurigen Gedanken aus dem Sinne treiben, der Litauer schüttelte aber schmerzlich lächelnd sein Haupt, drückte ihm fest die Hand und schied.

Als die Garden den Rückzug der polnischen Armee inne wurden, rückten sie auch wieder vor, beunruhigten jene, und schickten sich an zur Vereinigung mit Diebitsch, der vom Süden herausrückte. Die Vereinigung war nicht mehr zu hindern, Skrzynecki ging rastlos bis Ostrolenka, und der größte Teil des Heeres hatte dort bereits die Narew passiert. Es war ein warmer Nachmittag, eine Menge Soldaten badeten im Flusse, die Kavallerie fütterte, die Infanterie kochte, alles war in sorgloser Ruhe, da hörte man jenseits des Flusses plötzlich ein heftiges Schießen. Das vierte Regiment war noch drüben in der Stadt, bald sah man einzelne Trupps desselben, rückwärts feuernd, aus der Stadt kommen, die Brücke war bald erfüllt von ihnen, immer lebhafter wurde das Gewehrfeuer in den Straßen der Stadt, man sah Batterien am jenseitigen Ufer auffahren, die Kugeln flogen auf die[207] Brücke, welche das tapfere Regiment Schritt für Schritt verteidigend, langsam passierte.

Es war kein Zweifel: Diebitsch mit der großen Armee stand den Polen gegenüber. Wirklich war er in unerhörten Märschen herbeigeeilt. Ein kleines polnisches Korps unter Lubienski, das sich ihm bei Nur entgegengestellt hatte, war natürlich nicht imstande gewesen, ihn aufzuhalten. Es gab nur ein Vorspiel zu der jetzt beginnenden Schlacht von Ostrolenka. Die Polen kämpften bei Nur mit übermenschlicher Tapferkeit und erzwangen sich mit blutigen Opfern einen Rückzug. Das Treffen selbst war im Grunde ebensowenig nötig als das bei Ostrolenka, in welches sich Skrzynecki am Nachmittage des 26. Mai einließ.

Ein tosender Lärm brach unter den Polen aus, die sich in der nachlässigsten Situation überfallen sahen und sich nun rüsteten mit aller Schnelle und Unerschrockenheit, welche ihre Heere charakterisiert. Skrzynecki flog auf seinem hohen Pferde hin und her und befahl und ordnete mit fester, starker Stimme. Die Kugeln vom andern Ufer schlugen links und rechts neben ihm ein, aber sie störten ihn nicht; ein wunderliches Feuer brannte in seinen Augen, die blassen Wangen waren leicht gerötet, und auf den Lippen lag der tapfere Trotz, welcher zu sagen schien: Ich verlasse den Platz nicht, oder ihr begrabt mich hier. Valerius, der ihn in diesen Augenblicken sah, erschrak vor dem Anblick. Er wußte nicht, war es etwas Schwärmerisches, war es etwas Dämonisches oder gar ein Heiliges, das aus dem erregten, gespannten Antlitz schaute. Die Puritanergestalten Balfour und Cromwell mit den ehernen Fanatismuszügen kamen ihm in den Sinn; nimmer hätte er die sanften Züge Skrzyneckis dieses Ausdrucks fähig geglaubt.

Wirklich weiß man das ganze hartnäckige, todesverachtende Benehmen des Feldherrn an jenem Tage nur aus einer solchen überspannten Stimmung zu erklären. Er verteidigte die Narewbrücke mit einer solchen Berserkerwut, als ob das[208] Schicksal des Landes vom Besitz derselben abgehangen hätte. Im Rücken des polnischen Heeres erhoben sich Sandhügel, welche ihm die beste Position gewährt hätten, um den Übergang des Feindes, wenn nicht zu hindern, doch auf das blutigste und nachteiligste für diesen zu stören. Er sah aber nichts als die Brücke und den Feind auf der Brücke. Die unterlassene Schlacht gegen die Garden schien wie ein Dämon in ihm zu wüten; noch in keinem Zeitraume war die polnische Armee so zahlreich, so gewaltig gewesen als jetzt, er wollte nicht nach Warschau zurückkommen, ohne geschlagen zu haben, das Gewissen drängte ihn zu Taten, die bis jetzt verabsäumt worden waren.

Kuriere flogen nach den Truppen, welche schon nach Warschau hin abmarschiert waren; die Bataillone schritten mit gefälltem Bajonett nach der Brücke, auf welcher sich die dichten schwarzen Massen der Russen herüberwälzten. Ein Morden und Schlachten ohnegleichen begann. Die Kartätschen und Kanonenkugeln schlugen mörderisch dazwischen in den Menschenknäuel, Feind und Freund treffend. Niemand wich dem menschlichen Gegner, was in dem Defilee vor der Brücke und auf der Brücke selbst erschien, das erlag nur dem Tode. Hügel von Leichnamen versperrten den Weg; wo der Boden einen Augenblick leer wurde, da sah man ihn gepflastert mit Kugeln groß und klein. Und immer neue Scharen drängten sich zu dem Opferplatze; schauerlich einsam ragten die Generale zu Pferde aus den dunklen Massen. Sie hatten die Säbel gezogen und halfen schlachten wie die gemeinen Soldaten. Vorn, dicht an der Brücke, erblickte man den General Kaminski, den Säbel hielt er hoch in der Hand, und rückwärts sich wendend, schrie er Befehl auf Befehl; Valerius sah in geringer Entfernung nur seinen geöffneten Mund, das brüllende Getose der Schlacht ließ die donnerndste Stimme eines einzelnen nicht vernehmen. Plötzlich sank er vom Pferde und verschwand in der dunkeln[209] Masse. Wie ein Kriegsgott hoch zu Roß flog der schöne Kicki herbei und verschwand ebenfalls wie ein schimmerndes Meteor, rasende Kugeln hatten die ritterlichen Helden daniedergerissen. »Kicki ist gefallen, Kicki ist gefallen!« flog es in dem Toben von Mund zu Munde. Aber man hatte keine Zeit zur Trauer, der Tod dieses Helden erfüllte die Soldaten nur mit größerer Wut, und die Wut sieht keine Gefahren, sie ist blind. Wie rasend stürzten die nächsten Scharen auf den Feind; das Defilee vor der Brücke, in welches die Russen vorgedrungen waren, wurde wieder genommen, aber dicht wie Wolken quollen immer neue russische Massen aus der Stadt heraus, über die Toten hinwegschreitend. Das alte Reiterregiment, das Kicki früher geführt hatte, stand ohnmächtig in der Nähe des Schlachtfeldes, der enge Raum gestattete der Reiterei wenig oder gar keine Mitwirkung. Valerius sah und hörte, wie die Ulanen in Tränen und Heulen ausbrachen um ihren vergötterten Helden, um das rings mähende Unglück, und über die peinigende Qual, gefesselt stehen zu müssen, ihren alten Führer nicht rächen zu können.

Eine Pause der Erschöpfung trat vor der Brücke ein, die Russen warfen Tote und Verwundete in den Fluß, um Raum zu erhalten, von der polnischen Seite rasselte eine weitere Batterie an das Ufer herbei. General Bem führte sie, und im Nu flog ein hagelndes Feuer gegen die Brücke. Jeder Schuß traf bei der großen Nähe, und die Kartätschen wühlten sich in die Menge hinein, viele Getroffene wälzten sich unter dem Geländer in die Narew hinab.

Aber auch die russischen Batterien vom andern Ufer verdoppelten ihr gefährliches Feuer – Skrzynecki, der mit düsterem Gesicht vorn im dichtesten Kugelregen gehalten hatte, stieg vom Pferde, stellte sich an die Spitze einer Kolonne und marschierte mit ihr im Sturmschritt hinein in den Feind. Die Flintenkugeln zischten wie tausend Schlangen um ihn,[210] schlugen in seine Mütze, zerrissen ihm die Uniform, vorwärts, immer vorwärts ging es. Er nahm die durchlöcherte Mütze vom Kopfe und wies seinen Grenadieren den Punkt, wo sie angreifen sollten; ein leichter Wind hob seine dünnen dunklen Haare in die Höhe, deren Spitzen schon ergraut waren unter den Kriegssorgen. Er glich einem rüstigen Vater, der in der Verzweiflung seines Herzens die letzte Anstrengung macht, seine bedrohten Kinder zu retten. –

Die Sonne ging glühend rot unter, wenige Minuten lang glänzten zitternd ihre Strahlen über den blutgetränkten Fluß, und eine schnell hereinbrechende Dämmerung hüllte die Gegenstände ins Ungewisse. Die Anstrengungen der Russen ließen nach, das Schlachten hatte ein Ende. Die Nacht brach herein, und man hörte anfänglich das Abziehen des polnischen Heeres, das sich die traurige Ehre nicht hatte nehmen lassen, das Schlachtfeld zu behaupten. Als es immer stiller wurde, vernahm man nur das Gestöhn und Wimmern der Todeswunden. Oft drang eine herzzerschneidende Stimme aus der Tiefe eines hohen Menschenhaufens. Die Sterne schienen klar, die Luft war mild als sei nichts vorgefallen.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 196-211.
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