Mein theuerster Herr und Freund!

Sie müssen es sich vorstellen können, wie einem Menschen zu Muthe seyn mag, der durch die Post, ohne Briefe, ohne einige weitere Anzeige, ein Buch erhält, das den ungewöhnlichen Titel führt: Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst; und das ihn fast auf allen Blättern an seine eigenen, besondersten, und wie er glaubte, keinem Menschen bekannten Situationen, Gesinnungen und Handlungen erinnert; ein Buch, worinn ihm ein wichtiger Theil seiner Privatgeschichte, auf mancherley weise zerstückt, versetzt, verändert, umgestaltet und gedruckt – und hiermit dem Publicum zugleich – vor Augen gelegt wird.

Ich las, blätterte, wollte lesen, und blätterte wieder; lächelte, erröthete; freute mich; schämte mich; wußte nicht, was ich sagen und nicht sagen sollte .... und dennoch versichere ich Ihnen, daß ich über den Herausgeber nicht einen Augenblick[5] unwillig seyn konnte. So viele Discretion, so viele Weisheit in der Wahl, so viele Feinheit in der Umkleidung eben derselben moralischen und unmoralischen Verfassungen mußte ich billig bewundern.

Ich hoffte ganz verdeckt zu bleiben; und hoffte, daß dieses Buch von nicht geringem Nutzen seyn würde. Ich legte die Sache einigen meiner vertrautesten Freunde vor, die ich in dem Verdachte hatte, daß sie Hand dabey gehabt, und Ihnen meine Handschrift oder vielmehr die Handschrift zum gedruckten Tagebuche überliefert haben möchten. Sie lächelten, freuten sich; stellten sich fremde; nahmen das Buch; lasen; lächelten wieder, und sprachen immer nur von der Discretion des Herausgebers – und ich konnte den menschenfreundlichen Verräther noch nicht mit Gewißheit entdecken.

Ich war indessen so glücklich, einen Brief von Ihnen zu erhalten, der mir Licht genug gab, und mich zugleich mit einem hinlänglichen Rechtfertigungsschreiben gegen alle die versah, die argwöhnisch genug[6] waren, mich für den unmittelbaren Herausgeber und einzigen ächten Verfasser des Tagebuches zu halten.

Seit dem mußte ich, wie Sie sich leicht vorstellen können, tausend unerwartete, und sich widersprechende Urtheile hören. Stellen genug waren noch da, die mich, wenigstens in meinem Vaterlande, vollkommen kenntlich machten. Aber nun konnte man sich in das übrige ganz und gar nicht finden. Von gewissen Seiten her kannte mich niemand.

Das deutsche Publicum urtheilte eben so verschieden, wie das Vaterländische.

Weltleute, Philosophen, Theologen, Fromme .... Feinde, Freunde .... beynahe alle schienen sich, wie mir die Sache vorkam, dadurch von dem rechten Beurtheilungspunkt entfernt zu haben; daß sie mehr den vermutheten Verfasser, als sein Tagebuch, das Beobachtete, als den Beobachter beurtheilten.

Und gewiß, wenn derjenige Freund, er Ihnen, mein Theurer, das Manuscript des Tagebuchs überliefert hat,[7] Weltkenntniß genug gehabt hätte, sich dieses vorzustellen, so würde die Welt vermuthlich niemals etwas von diesem Buche unter keinerley Gestalt und Umbildung gesehen haben.

Es ist nun aber geschehen, und die Ueberzeugung, daß diese Schrift ihren mannichfaltigen Nutzen haben werde, ist bey allen denen, die an der Verfassung und Bekanntmachung derselben Theil haben, so fest, daß die widrigsten Urtheile des Publicums – das heißt: einiger, die mehr Gelehrte, als Menschen zu seyn, mehr – Philosophen zu scheinen, als Christen zu seyn, sich angelegen seyn lassen, sehr wenig Eindruck auf sie machen.

Sie können es wissen, mein Freund, daß sehr wenige Leser dieser Schrift dieselbe als eine Beobachtungsgeschichte gelesen und beurtheilt haben. Die Einen haben sie als eine Vorschrift, als ein Beyspiel, als eine in Geschichte eingekleidete Sittenlehre, andere als einen dem Publicum zur Beurtheilung vorgelegten [8] Charakter eines vermischten, morali schen Menschen, und andere als eine Schmähschrift auf das Christenthum angesehen und gewürdigt, und mir ist kein Urtheil weder zu Gesichte, noch zu Gehöre gekommen, welches immer auf dem Gesichtspunkt, auf dem Beobachter stehen bliebe. Dieses, ich gestehe es, verursachte mir einige Mühe, und bisweilen gerieth ich in starke Versuchung, diese Arbeit schlechterdings von mir abzulehnen; gleichwie ich mich auch gerade diesen Augenblick in einer starken Versuchung befinde, Ihnen, mein Freund, wenn Sie wollen, allenfalls zu handen des Publicums, über die erbärmliche Verfehlung der Gesichtspunkte, die unsere heutige Critik oft so unerträglich seichte macht, mein Herz auszuleeren. Mag es unter tausend Lesern zehen, und unter hundert öffentlichen Beurtheilern Einen geben, der sich vor allen Dingen den Standpunkt des Schriftstellers ruhig aussucht? diesen keinen Augenblick verläßt? der erst insbesondere die Absicht und den Zweck der Schrift aus dem Gesichtspunkte des[9] Verfassers würdiget? – und so dann erst das Buch, den Innhalt, die Wendungen, den Styl u.s.f. genau nur nach diesem Zweck, nur als Mittel beurtheilt? – Doch hiervon au einem andern Orte. Dem Verständigen sind wenige Winke genug.

Um wiederum auf das Tagebuch zurück zu kommen, so haben sich gar viele sehr darüber aufgehalten, daß in dem Vorberichte gesagt werde: Man liefere das wahre und ächte Tagebuch – ohne Zusätze, und daß ich in einem Briefe an Herrn Reich, der in der Vorrede zur zweyten Auflage abgedruckt ist, behaupte: »Der Herausgeber habe solche Veränderungen, Versetzungen, Zusätze, zu machen gut gefunden, die mich vollkommen berechtigen könnten, diese Schrift nicht für mein Werk zu erklären. Ich habe mich, so viel ich weiß, in meinem Leben nie frisiren lassen; – so wenig ich auch auf einem Schlitten gefahren bin. Ich verstehe von der Musik so wenig, wie von der Tanzkunst, um noch sehr vieles zu übergehen.« –[10]

Man hat hierinn einen schrecklichen Widerspruch sehen, und deswegen den ganzen Werth des Buches sehr erniedrigen wollen. Zu Ihrer Ehrenrettung, mein Theuerster, sage ich es vor der ganzen Welt, daß Sie die Wahrheit gesagt haben, ohne daß ich jedoch ein Wort von meiner Behauptung zurücknehmen dürfte. Sie haben zu der Handschrift nicht das mindeste hinzugethan; nichts eingeschoben; Sprachfehler, Styl, und einige mit Klugheit weggelassene Stellen ausgenommen, haben Sie, wie ich nun gewiß weiß, an dem Manuscripte, das Ihnen überliefert worden war, nichts geändert. Alle Zusätze, Einschiebsel, oder vielmehr alle Versetzungen, alle Umkleidungen fallen lediglich auf den lieben Freund zurück, der Ihnen das Manuscript in dieser Gestalt überliefert hat.

Und dieser Freund, verdient er deswegen getadelt zu werden? .... Ich, an meinem Orte kann es nicht, wenn ich mich in seinen Gesichtspunkt setze! Fürs erste hat er mir keine Tugend und kein Laster, keine Empfindung und Nichtempfindung [11] angedichtet, die er nicht auf diese oder jene Weise in meinem Manuscripte aufgezeichnet vorgefunden hätte.

Ich verstehe freylich z. Ex. von der Musik nichts; und jene Stelle, die sich darauf bezieht, ist ganz sein Gemäche – seine Geschichte; aber wenn es mir z.E. bey einer Sammlung vermischter Poesien gerade so ergangen wäre, wie ihm beym Claviere, und er hätte meine Beobachtungen in die seinige umgekleidet, mich unkenntlich zu machen; wäre dieses denn unklug, oder untreu, oder indiscret, oder Erdichtung gewesen?

Ich bin nie auf einem Schlitten gefahren (nicht, daß ich es eben so schlechterdings für Sünde hielte, wie so manche der mir nähern Leser, die es mir kaum verzeihen konnten, da sie es von mir geschehen zu seyn glaubten, dafür halten, und davor ein Kreuz machen); ich habe mich nie frisiren lassen – Durfte aber der freundschaftliche Ueberlieferer nicht ähnliche Eitelkeiten in diese umkleiden, um seinen Freund den Augen des oft indiscreten Publicums zu entziehen?

[12] Zweytens – gesetzt dieser Freund hätte den Zweck und die Absicht gehabt – das christliche Publicum bloß zum Beobachten seiner selbst zu veranlassen; ihm hiezu einige Anleitung zu geben? Manchem wichtige aufschließende Winke auf sein eigen Herz zu geben; und neben her noch sonst manche lehrreiche Anmerkung vorzulegen? – Gesetzt, er hätte in dieser gewiß würdigen Absicht wahre und erdichtete Situationen in der interressanten Form eines Tagebuches zusammengetragen? Hätte, um seinen Zweck glücklicher zu erreichen, kleine gleichgültige, an sich vollkommen nichtsbedeutende Umstände, die dem Werke die vollkommene Gestalt der Wahrheit gegeben hätten, mit angeführt, und hätte es eben deswegen noch durch eine andere Hand gehen lassen, damit dieselbe ohne Lüge sagen könne: »sie liefere dem Publicum ein ächtes Tagebuch.« – Gesetzt (das Schlimmste, das man setzen kann, und das dieser Freund dennoch gewiß nicht zugeben wird) gesetzt; er wäre also zu Werke gegangen, hätte er denn Tadel oder Lob, Dank oder[13] Verwerfung verdient?– Oder hätte er von dem erleuchteten, geschmackvollen, feinen, empfindsamen Publicum, und von dem seynwollenden Hofe des lesenden Publicums, den Journalisten, jene Inquisitionen, jene Torturen aller Arten erwarten sollen: »Wer ist der Verfasser? Wer der Herausgeber? Ist das Tagebuch ächt? Unächt? Was ist unterschoben? Was nicht?« – Hätte er die Urtheile von so vortrefflichen und äußerst billigen Männern erwarten sollen: daß das ganze Werk keinen Werth habe, wenn es nicht ächt, wenn es erdichtet sey; – gerade, als wenn es darum zu thun gewesen wäre, die Geschichte irgend eines besondern namentlichen Menschen, die Geschichte dem Publicum vorzulegen, damit das Publicum von dem Manne urtheilen, und seinen Charakter würdigen könne? Könnte denn das Buch, gesetzt, daß es auch durchaus im höchsten Grade erdichtet wäre, nicht immer noch in mancher Absicht großen Nutzen haben, wenigstens eben den Nutzen, den man jedem moralischen Romane gern eingesteht? ....[14] Würde nicht immer mancher Leser bey mancher Stelle gleich gesagt haben: Hier erkenne ich mich! da stehe ich – dieser Fehler und diese Denkungsart sind die meinigen; – hier wird mir deutlich und auf eine sanftbelehrende Weise vorgesprochen, was ich oft so tief bey mir empfinde, und mir so ungern heraussage? Ich will also gern gestehen, daß mir diese Urtheile einige Mühe gemacht; und versichern kann ich Ihnen, daß der erste Ueberlieferer dergleichen und andere Urtheile und Begegnisse, bey seinem einfältigen, geraden Wahrheitsinne unmöglich vermuthen konnte.

Aber noch einmal! – Er befindet sich nicht einmal in diesem Falle – Nichts Moralisches oder Unmoralisches im Tagebuch ist erdichtet; wenn gleich viel an der äußerlichen Geschichte, an der Form erdichtet, oder stark verändert und versetzt ist.

Und, was soll ich nun von den häufigen Urtheilen über die sogenannte Strenge, die Uebertriebenheit, die [15] Aengstlichkeit, die Schwärmerey, u.s.f. die in diesem Tagebuche herrschend seyn sollen, sagen?

Wahrlich, mein Freund, ich bin fast müde, für ein Publicum zu schreiben, dem man bey einem Buche, das den Titel führt: Beobachter seiner Selbst, noch sagen muß; dessen Censoren man noch vorbuchstabiren muß: Es ist Beobachtung; was Beobachtung ist, ist nicht Vorschrift, nicht Regel, Grundsätze für alle, Beyspiel ohne Einschränkung! Und wenn in dem Charakter, dem Betragen, den Empfindungen des Beobachters wirklich Uebertriebenheit, Aengstlichkeit, unnöthige Scrupulosität wäre; so wäre es ihm in der Folge der Zeit dabey entweder wohl oder übel gegangen? Er hätte im Christenthume, das ist, im Glauben an den in Christo geoffenbarten Gott, und in der Liebe des Nächsten entweder Fortschritte oder Rückschritte gemacht? – Beydes würde sein Tagebuch so klar, wie möglich gezeigt, und der erste Herausgeber[16] würde ganz gewiß nicht unterlassen haben, alle gute und schädliche Folgen seiner bisherigen Grundsätze und Lebensart dem Publicum gewissenhaft vorzulegen? – und wäre denn dieses nicht weit nützlicher gewesen, als so fort bloß ein untadelhaftes Ideal zu liefern? .... Ach! wer kann doch so kurzsichtig seyn, die unendliche Wichtigkeit der Beobachtung des Ganges oder Irrganges einer nicht ganz unredlichen Seele, und wie sie zurückkömmt, wenn sie allenfalls irre gegangen, nicht einzusehen? Nicht so stark einzusehen, daß man sie tausendmal lieber wünschte, als ein Ideal, ein vollkommenes Bild, das so, wie es gemahlt wird, nirgends vorhanden ist, und nirgends vorhanden seyn kann ..... Statt dieses abzuwarten; was that man? .....

Aber damit will ich lange noch nicht zugegeben haben, daß die Hauptsache, das Wesentliche der Moral des Beobachters, übertrieben und schwärmerisch sey. – Hierüber aber will ich mich nicht hier, sondern an einem andern Orte mit der Hülfe Gottes so deutlich erklären, daß[17] jeder Unpartheyische leicht wird urtheilen können, ob ich von den Menschen und von mir selber zu viel oder zu wenig fordere.

Itzt sage ich nur mit zwey Worten so viel: Es ist in dem Evangelio kein Gebot, keine Vorschrift, die nicht dem Wesen nach in aller Menschen Herzen geschrieben sey; ja, das menschliche Herz ist immer noch viel größer, weitumsichgreifender, erhabener, als der strengste Buchstabe des Evangeliums. Das Evangelium bringt nichts in unser Herz herein, so wenig als ein treuer Ausleger in den Text. Es soll nur das aufwecken, was in dem Herzen ist. Das Evangelium fordert nur mit Tönen und Buchstaben und in leuchtenden Beyspielen – was unser Herz durch Triebe und Empfindungen fordert. Das Evangelium ist nur der Commentar (die Auslegebibel) über unser Herz. Gott und der Mensch ist immer der Text. Alle Buchstaben sind nur Auslegung; was sage ich, sind nur Bild, Copie, Umriß, Schatten ..... Hierüber, mein Freund, möchte ich Ihnen[18] einmal meine Gedanken ausführlicher sagen ... Lieber aber mit Ihnen, zum Theil auch mit in Rücksicht auf eine Ihrer Anmerkungen im ersten Theile des Tagebuches, einmal mündlich über diese Sache nicht so wohl reden, als mit Ihnen empfinden, daß unser Geist bezeuget, daß der Schriftgeist die Wahrheit ist.

Aber nun! wie ist es mit der Fortsetzung des Tagebuches beschaffen? .... Wahrlich eine schwierige Sache! .... Hätte das Publicum mich nicht errathen, so hätten Sie immer noch einen Band herausgeben mögen. Aber nun; nun will das Publicum ganze unverstellte Wahrheit haben? Nun kann man ihm nicht mehr Stückwerk geben? Und Etwas will es – auch deswegen, weil von Seite des Herausgebers eine Art von Versprechen geschehen ist! – Von allen Seiten werde ich dazu aufgefordert; die verehrungswürdigsten Menschen scheinen eine Fortsetzung aufrichtigst zu wünschen – aber, wie schwer ist es, ihnen nun zu willfahren. Sehr leuchtend schweben[19] mir alle die Gründe vor, die mich von der Einwilligung dazu abschrecken sollten. Ich höre Leute genug sagen, Leute, die über allen Verdacht niedriger Leidenschaften in Urtheilen dieser Art erhaben seyn mögen ... »Was soll sich die halbe Welt mit der allerspecialsten Privatgeschichte eines einzelnen Menschen beschäfftigen? Wie wichtig muß sich L. in seinen Augen dünken, wenn er sich anmaßt, daß es einige tausend Menschen wissen sollen, um welche Zeit er aufsteht und schlafen geht u.s.w. Wird er sich verwundern, – und wie erbärmlich wenig Weltkenntniß muß er haben, wenn er sich nicht verwundert – – wird er sich verwundern, wenn man dieses als die äußerste Unbescheidenheit auslegt; wenn man dieses als die augenscheinlichste Probe seiner Eitelkeit und einer hohen Meynung von sich selber ansieht? – – Wenn Er Recht hat; seine Person und seine allergleichgültigsten Geschäffte so wichtig zu machen; so haben es alle Menschen so gut, als er – und wenn es alle haben, und nun jeder Privatmann[20] uns sein Tagebuch aufdringen will, was wird daraus werden? Diese Vertraulichkeit mit dem Publicum – wofür soll man sie ansehen?« –

Dieses, mein Freund, wird unfehlbar gesagt werden; – und, was wollen wir darauf antworten, wenn wir uns entschließen, den Wünschen so mancher anderer zu entsprechen? wie wollen Sie mich allenfalls auf eine vernünftige Weise beruhigen? was wollen Sie diesem Theile des Publicums zu meiner Entschuldigung sagen?

Ich könnte manches sagen; – aber lieber wollte ich, daß ich weniger Beweggründe, weniger Nothwendigkeit vor mir sähe, einige Fragmente meines ächten, wahren, itzigen Tagebuches herauszugeben.

Sagen Sie davon was Sie wollen. Ihnen will ich von dem Vielen, was ich sagen könnte, nur dieses vorlegen.

Ich habe den Menschen noch nicht gefunden, der so wenig menschlich wäre daß ich ihn unwürdig fände, ihm das, was ich itzt, wofern Sie es gut finden, dem Publicum von meinem Tagebuche[21] vorzulegen wage, vorzulesen, oder mit nach Hause zu geben, wofern ich glaubte, daß es zu seinem Vergnügen und Nutzen gereichen würde. Darf ich nun nicht voraussetzen, daß die Leser dieser Schrift überhaupt nicht die schlimmsten Leute seyn, die ich kenne?

Ferner wünschte ich, daß alle, welche die oben angeführte scheinbare Sprache natürlich und vernünftig finden, die Billigkeit und Gütigkeit haben möchten, sich nur an meine Stelle und in meine Umstände zu setzen .... Mußte ich mich nicht einmal wenigstens über das Geschehene erklären? – Mußte ich nicht einige unrichtige Deutungen von mir ablehnen? Nachdem ich einmal für den Verfasser, und von vielen für den Herausgeber des ersten Theils gehalten worden bin. Nachdem so verschiedene Urtheile, Urtheile von Einfluß, in Absicht auf das Werk und den Verfasser, oder vielmehr meinen Charakter, gefällt worden sind? Nachdem die Einen sich geärgert, daß ich .... und die andern, daß ich mir darüber Vorwürfe machte? Und, wie? wenn[22] meine Grundsätze, zwar im Grunde eben dieselben, sich in der Anwendung noch mehr geläutert bestimmt, und meine Einsichten sich in vielen Stücken aufgeheitert hätten, daß ich nun durch die gerade Darlegung einiger unausgesuchten Fragmente meines wahren ohne einige Rücksicht auf das Publicum verfertigten Tagebuches allen Mißverstand des vorigen, sey nun ich, sey der Ueberlieferer, oder der Leser, oder meine ehemalige geringere Einsicht und Erfahrung Schuld daran, heben, und alles Unrichtige zurücknehmen könnte; wäre nicht dieses allein schon Entschuldigung genug für mich?

Ich glaube nicht, daß ich schlimmer geworden, wenn ich gleich mit mehr Erkenntniß und Freyheit handle; .... ich glaube nicht, daß meine Grundsätze weniger evangelisch seyn, wenn ich gleich ruhiger bey meinen Geschäfften, meinen Schwachheiten und Fehlern geworden bin; ich sage nicht: gleichgültiger – ich sage: ruhiger; das ist, weniger knechtisch, weniger ängstlich.[23]

Aber – das muß ich auch nicht vergessen, noch beyzufügen – wenn ich etwas dazu beytragen kann, die so sehr unmenschliche Unvertraulichkeit zwischen Menschen und Menschen; das fremde Wesen, daß sie wechselsweise annehmen, auch nur einigermaßen verächtlich, und brüderliches, vertrauliches, aufrichtiges Mittheilen seiner Selbst, und brüderliches Theilnehmen an den häuslichen und moralischen Angelegenheiten anderer, auch nur ein wenig gemeiner zu machen; wenn ich nur wenigstens den Gedanken mit auf die Bahn bringen helfe, daß Schriftsteller Menschen, und Leser Menschen, und Schriftsteller und Leser Geschwister sind; – und wenn die Bekanntmachung dieses Werks (welches zwar eigentlich schlechterdings nicht als ein schriftstellerisches Werk angesehen werden sollte) zu diesem Zwecke beförderlich ist, so kann ich mich auch schon in dieser Absicht für manche Misdeutung schadlos halten. – Uebrigens hat freylich jeder das Recht, das ich habe; und ob ich gleich mit ziemlicher Zuverläßigkeit voraus sagen kann,[24] daß eben sich nicht ein jeder dieses Rechts bedienen wird, so muß ich dennoch das dabey sagen, daß ich jedem herzlich danken würde, der mir eine solche wahre Geschichte seines Lebens und seines Herzens mit so vielen Kleinigkeiten, mit diesem Detail von fehlerhaften, guten und gleichgültigen Handlungen und Gesinnungen vorlegte. Ich will jede andere ausserbiblische Lesung einer solchen nachsetzen. – Klagen nicht alle philosophische Historiker, daß man bisher deswegen von der Geschichte der Menschen so wenig moralischen, gemeinnützigen Vortheil habe, weil man von ihrer Privatgeschichte, von den eigentlichen Details ihres Lebens so wenig wisse?

Den Einwurf, der selbst einigen der weisesten Männer entronnen ist, (verzeihen Sie mir diesen unbescheidenen Ausdruck) daß die allergleichgültigsten Dinge nicht hinein gehören – mögen Sie, mein Theurer, selbst beantworten. Der Verfasser oder Herausgeber eines Tagebuchs – will er bloß Tugenden oder Sünden darlegen? – ..... Hat[25] nicht jedes Gemählde einen Grund; und manche Arzney will auch eine Capsel, ein Gefäß, oder ein Vehiculum haben ..... Wasser hat keinen Geschmack, und es nährt nicht. Es ist aber doch ein schönes Vehiculum und Führmittel für manche Speise .... Ich könnte hierüber noch einiges sagen; Sie thun mir aber eine Gefälligkeit, wenn Sie es statt meiner sagen.

Da ich Ihnen, mein Freund, einige Fragmente meines wahren unveränderten Tagebuches, welches durch keine fremde Hand gegangen, übersende, so habe ich alle mitlaufende Anmerkungen, Urtheile, Gespräche, so wie ich sie bald kürzer, bald länger hinzuwerfen, Lust und Muße hatte, stehen lassen ... Ueber alles, was nicht Beobachtung meiner Selbst ist, welches nun nothwendig mehr seyn muß, als die Absicht des ersten Herausgebers, der sich mehr bloß moralische Situationen aussuchte, will ich Ihnen ganz freye Hand lassen. Wenn Sie es weder an sich, noch als Geschichte, noch als Ergänzung, noch als Grund und Boden schicklich und nützlich finden, so lassen Sie[26] es ohne Bedenken weg. Mannichfaltigkeit aber, denke ich, wenn es auch weiter nichts, als das wäre, sollte doch, als untergeordnetes Mittel zu einem andern guten Zweck einigen Werth haben. Thun Sie aber, was Sie wollen. Gewiß werde ich nicht empfindlich darüber werden.

Ja, ich übergebe Ihnen diese ganz Schrift, oder vielmehr dieses Stückwerk einer Schrift, welche ich bloß zu meinem, meiner Kinder, und etwa einiger allervertrautesten Freunde unmittelbarem Gebrauche aufgesetzt habe, – auf Leben und Tod. – Finden Sie, mein Freund, auf dieses alles, daß der Nutzen der Bekanntmachung dieses Tagebuches größer, merklich größer ist, als der Schaden; finden Sie, daß alle zu erwartende Urtheile und Inconvenienzen mit dem Nutzen nicht in Vergleichung kommen, der sich daher bey vielen Lesern versprechen läßt; so mögen Sie es, aber ohne die geringste Veränderung des moralischen Textes, allenfalls mit berichtigenden, warnenden, belehrenden Anmerkungen, herausgeben.[27] Finden Sie aber das Gegentheil; so belieben Sie, mir mein Manuscript zurück zu senden, und dann will ich etwa bey einer künftigen Auflage, oder auf andere Weise dem Publicum sagen, daß der Herausgeber des ersten Theils keine Unredlichkeit begangen, und daß seine Aussage mit der meinigen an Herrn Reich gar wohl bestehen könne. – Geben Sie es nicht heraus, so bin ich ganz ruhig, zufrieden, und in mancher Absicht herzlich froh, daß ich mich den Augen des Publicums entziehen kann. Finden Sie aber gut, es herauszugeben, so will ich mich gegen alle Mißdeutungen und unangenehme Urtheile, und gegen die weit empfindlicheren Vorwürfe meines eignen Bischens von Bescheidenheit mit dem Gedanken waffnen, den ich einigen verständigen Lesern abgeborgt habe: »daß ich noch nichts nützlicheres geschrieben habe, und nichts nützlicheres schreiben werde, als ein solches Tagebuch,« und ich will mich mit der Ueberzeugung trösten, daß ich mir itzo dabey nicht der geringsten Eitelkeit bewußt bin, und wenn ich jemals,[28] aus reiner Absicht meinem Nebenmenschen Vergnügen und Nutzen zu schaffen, ein Werk oder Werkchen herausgegeben habe, so ist es dieses mal; und ich getraue mir vor Gott Ihnen die Versicherung zu thun, daß ich aufrichtig wünsche, daß zu meinem Lobe bey Anlaß dieses Werkes kein Wort gesagt, alles aber, was in der That tadelnswürdig ist, nach Verdienen und ohne alle Schonung getadelt werde. Leben Sie recht wohl, und verachten wenigstens Sie mich nicht, wenn Sie noch so viele Fehler an mir wahrnehmen.


Oberried

den 19. Junius.

1773.

Johann Caspar Lavater.[29]

Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773, S. V5-XXX30.
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