Zuruf

[492] Die Keuschen, Sittigstrengen, Tugendfrommen

Sind lahm und lau, wenns gilt den Strauß zu fechten,

Wenn ihr Panier ins Blutgedräng gekommen,

Doch Helden sind die sogenannten Schlechten.


Der Fromme mit dem feisten Gottvertrauen

Verwächst und seine Klinge mit der Scheide:

»Der starke Gott wird selber durch sich hauen,

Er will es, daß sein Knecht hienieden leide.


Laßt nur die Taumler ins Verderben rennen;

Ihr seht sie heut frohlocken, morgen modern;

Wie Branntweintrunkne schmählich selbstverbrennen,

Muß jede Schuld in ihrem Rausch verlodern.«


Doch solchem Ruf gebührt zur Antwort solches:

O feige Gottesknechtschaft! Kettenhunde!

Ein stumpfes Amen statt des scharfen Dolches?

Spürt euer kalter Brand nicht mehr die Wunde?


Der Römler wird am Sakrament nicht irre,

Wenn sündhart lebt der Priester der Gemeine,

Weil Gnade nicht gerinnt im Schmutzgeschirre,

Die Hostie schmutzt ja nicht, die ewig reine.[492]


O lernt vom Römler Weisheit, fromme Zager!

Ist mancher Streiter auch nicht rein des Schmutzes,

Ist rein doch das Panier im Freiheitslager,

Und wahr das Herz des ungeschlachten Trutzes.


Im Strauchgewirr von Glauben, Recht und Sitte

Ein Ungeheuer liegt in Schlangenringen,

Trat mancher drauf mit unversehnem Tritte

Und schrie entsetzt; kann das melodisch klingen?


Ein kaltes, plumpes, blödes Ungeheuer,

Das Herzen frißt und saugt Gehirne trocken,

Das ewig wälzt, ein träger Wiederkäuer,

Des Elends mittelalterliche Brocken.


Harpunen in die Schuppen starrer Satzung!

Und Dolche nach, die Menschheit zu erlösen!

Kein blutend Herz dem Untier mehr zur Atzung,

Messias' Zorn! o komm, erschlag den Bösen!


Dein Tod am Kreuz, o Christus, ist verloren,

Wenn du nicht wieder kommst für unsre Nöten,

Prophet, hat uns das Völkerleid geschworen,

Messias, daß du diesmal kommst, zu töten.


Sie fingen auf das Blut von deinen Hüften,

Die Welt zu tränken mit gefälschter Schale,

Die Welt damit zur Feigheit zu vergiften,

Sie krankt vom Opium in deinem Grale.


Darum ans Kreuz dir jetzt die Knaben rücken,

Sie klettern drauf, um deine Dornenkrone

Wie 's Vogelnest im Lenz vom Baum zu pflücken,

Und wer das Kreuz verehrt, verfällt dem Hohne.


Drum Männer scharf dein Kreuz beschossen haben

Mit eisigen Verstandes Hagelwettern;

Und Grübler nach des Kreuzes Wurzel graben,

Daß sie es schier umwerfen, schier zerschmettern.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 492-493.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Faust: Ein Gedicht
Gedichte
Die schönsten Gedichte
Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Weiße, Christian Felix

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon