An den Geist

[158] O Geist! Geist! der du in mir lebst,

Woher kamst du, daß du so eilst?

O verzeuch noch, himmlischer Geist;

Deine Hülle vermags nicht –

All ihre Bande zittern.

Komm nicht weiter empor!

Sei nur getrost, bald bist du frei,

Bald wird dir's gelungen sein, Grausamer,

Bald hast du dein steinern, nordisch

Treues Haus über den Kopf dir zertrümmert.

Ach! da stehst du, wie Simson, und wirfst,

Wirfst – strebst – wirfst's über'n Haufen! –

Weh uns Allen! schone noch, schone!

Dieser treuen Hütte Trümmer

Möchten dich sonst unter sich begraben.


Sieh! noch hält sie mit schmeichelnden Banden

Dich zurück; verspricht dir reine,

Tausend reine Lebensfreuden,

Zur Belohnung für deine Müh.

Schone noch, Grausamer, Undankbarer,

Kehre zurück! heft' ihre Gelenke

Wieder mit zarter Selbstlieb' zusammen,

Denn Gott selber baute sie dir,

Klein und gebrechlich, wie sie da ist.


Wenn sie ausgedauert, dann breche sie;

Erst wenn der Baum gesaftet, geblüht,

Früchte mehrjährig getragen, verdorret,

Gehe sein Keim ins ewige Leben.

Aber jetzt, heilige, himmlische Flamme,

Jetzt – Erbarmen – verzehr ihn noch nicht!

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gesammelte Schriften, Band 2: Gedichte, Berlin 1909, S. 158-159.
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