Jakob Michael Reinhold Lenz

Anmerkungen übers Theater

Diese Schrift ward zwei Jahre vor Erscheinung der Deutschen Art und Kunst und des Götz von Berlichingen in einer Gesellschaft guter Freunde vorgelesen. Da noch manches für die heutige Belliteratur drin sein möchte, das jene beiden Schriften nicht ganz überflüssig gemacht, so teilen wir sie – wenn nicht anders als das erste ungehemmte Räsonnement eines unparteiischen Dilettanten – unsern Lesern rhapsodienweis mit.


M. H.


Nec minimum meruere decus, vestigia graeca

Ausi deserere

HORAT.


Der Vorwurf einiger Anmerkungen, die ich für Sie auf dem Herzen habe, soll das Theater sein. Der Wert des Schauspiels ist in unsern Zeiten zu entschieden, als daß ich nötig hätte, wegen dieser Wahl captationem benevolentiae vorauszuschicken, wegen der Art meines Vortrags aber muß ich Sie freilich komplimentieren, da meine gegenwärtige Verfassung und andere zufällige Ursachen mir nicht erlauben, so weit mich über meinen Gegenstand auszubreiten, so tief hineinzudringen, als ich gern wollte. Ich zimmere in meiner Einbildung ein ungeheures Theater, auf dem die berühmtesten Schauspieler alter und neuer Zeiten nun vor unserm Auge vorbeiziehen sollen. Da werden Sie also sehen die großen Meisterstücke Griechenlands von eben so großen Meistern in der Aktion vorgestellt, wenn wir dem Aulus Gellius glauben wollen und andern. Sie werden, wenn Sie belieben, im zweiten[329] Departement gewahr werden die Trauerspiele des Ovids und Seneca, die Lustspiele des Plautus und Terenz und den großen Komödianten Roscius, dessen der berühmte Herr Cicero selbst mit vieler Achtung erwähnt. Werden sehen die drei Schauspieler, die sich in eine Rolle teilen, die Larven, die uns Herr du Bos so ausführlich beschreibt, den ganzen furchtbaren Apparatus, und dennoch den alten Römern müssen Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß die wesentliche Einrichtung ihrer Bühne und ihr Parterre, das will's Gott aus nichts weniger als der Nation bestand, diese scheinbaren Ausschweifungen von der Natur notwendig machten. Daß aber die Alten ihre Stücke mehr abgesungen als rezitiert, scheint mir aus dem du Bos sehr wahrscheinlich, da es sich so ganz natürlich aus dem Ursprung des Schauspiels erklären läßt, als welches anfangs nichts mehr gewesen zu sein scheint, als ein Lobgesang auf den Vater Bacchus von verschiedenen Personen zumal gesungen. Auch würden eines so ungeheuren Parterre unruhige Zuhörer wenig Erbauung gefunden haben, wenn die Akteurs ihren Prinzessinnen zärtliche Sachen vorgelispelt und vorgeschluchst, die sie unter den Masken selbst kaum gehört, wiewohl auch heutiges Tags sich zuzutragen pflegt, geschweige. Doch lassen wir das lateinische Departement, Sie werden im italienischen Helden ohne Mannheit und dergleichen, da aber Orpheus den dreiköpfigten Cerberus selbst durch den Klang seiner Leier dahin gebracht, daß er nicht hat mucksen dürfen, sollte ein Sänger oder Sängerin nicht den grimmigsten Kunstrichter? Ich öffne also das vierte Departement, und da erscheint – ach schöne Spielewerk! da erscheinen die fürchterlichsten Helden des Altertums, der rasende Oedip, in jeder Hand ein Auge, und ein großes Gefolge griechischer Imperatoren, römischer Bürgermeister, Könige und Kaiser, sauber frisiert in Haarbeutel und seidenen Strümpfen, unterhalten ihre Madonnen, deren Reifröcke und weiße Schnupftücher jedem Christenmenschen[330] das Herz brechen müssen, in den galantesten Ausdrücken von der Heftigkeit ihrer Flammen, daß sie sterben, ganz gewiß und unausbleiblich den Geist aufgeben sich genötigt sehen, falls diese nicht. Ich darf mich hier nicht lange erst besinnen, was für Meister für diese Bühne gearbeitet, große Akteurs auf derselben erschienen, es würde mir beschwerlicher werden, Ihnen die Liste von beiden vorzulegen, als es dem guten Vater Homer mag geworden sein, die griechischen und trojanischen Offiziere herzubeten. Man darf nur die vielen Journäle, Merkure, Ästhetiken mit Pröbchen gespickt – und was die Schauspieler betrifft, so ist der feine Geschmack ihnen überall schon zur andern Natur geworden, über und unter der sie wie in einem andern Klima würden ersticken müssen. In diesem Departement ist Amor Selbstherrscher, alles atmet, seufzt, weint, blutet, ihn und den Lichtputzer ausgenommen ist noch kein Akteur jemals hinter die Kulisse getreten, ohne sich auf dem Theater verliebt zu haben. Laßt uns nun noch die fünfte Kammer besehen, die von dieser die umgekehrte Seite war, obschon es den erleuchteten Zeiten gelungen, auch bis dahin durchzudringen und der höllischen Barbarei zu steuren, die die Dichter vor und unter der Königin Elisabeth daselbst ausgebreitet. Diese Herren hatten sich nicht entblödet, die Natur mutterfadennackt auszuziehen und dem keusch- und züchtigen Publikum darzustellen wie sie Gott erschaffen hat. Auch der häßliche Garrick hört allmählich auf, mit seinem Götzen Shakespear Wohlstand, Geschmack und Moralität, den drei Grazien des gesellschaftlichen Lebens, den Krieg anzukündigen. Nun und gleich bei lüpfe ich den Vorhang und zeige Ihnen – ja was? ein wunderbares Gemenge alles dessen, was wir bisher gesehen und erwogen haben, und das zu einem Punkt der Vollkommenheit getrieben, den kein unbewaffnetes Auge mehr entdecken kann. Deutsche Sophokles, deutsche Plautus, deutsche Shakespears, deutsche Franzosen, deutsche Metastasio, kurz[331] alles was Sie wollen, durch kritische Augengläser angesehen und oft in einer Person vereinigt? Was wollen wir mehr. Wie das alles so durcheinander geht, Cluvers orbis antiquus mit der neueren Heraldik, und der Ton im Ganzen so wenig deutsch, so kritisch bebend, geraten schön – wer Ohren hat zu hören, der klatsche, das Volk ist verflucht.

Nachdem ich also fertig bin und Ihnen, so gut ich konnte, die Bühne aller Zeiten und Völker in aller Geschwindigkeit zusammengenagelt, so erlauben Sie mir, meine Herren, Sie beim Arm zu zupfen und mittlerweile das übrige Parterre mit offnem Mund und gläsernen Augen als Katzen nach dem Taubenschlage zu den Logen hinaufglurt, Ihnen eine müßige Stunde mit Anmerkungen über Theater, über Schauspieler und Schauspiel anzufüllen. Sie werden mir als einem Fremden nicht übel nehmen, daß ich mit einer gewissen Freiheit von den Dingen rede und meine Worte –

Mit Ihrer Erlaubnis werde ich also ein wenig weit ausholen, weil ich solches zu meinem Endzweck – meinem Endzweck? Was meinen Sie aber wohl, das der sei? Es gibt Personen, die eben so geneigt sind was Neues zu sagen und das einmal Gesagte mit allen Kräften Leibes und der Seele zu verteidigen, als der gröbere Teil des Publikums, der dazu geschaffen ist, ewig Auditorium zu sein, geneigt ist, was Neues zu hören. Da ich hier aber kein solches Publikum – so untersteh ich mich nicht, Ihnen den letzten Endzweck dieser Anmerkungen, das Ziel meiner Parteigänger anzuzeigen. Vielleicht werden Sie, wenn Sie mit mir fortgeritten sind, von selbst drauf stoßen und alsdenn –

Wir alle sind Freunde der Dichtkunst, und das menschliche Geschlecht scheint auf allen bewohnten Flecken dieses Planeten einen gewissen angebornen Sinn für diese Sprache der Götter zu haben. Was sie nun so reizend mache, daß zu allen Zeiten – scheint meinem Bedünken[332] nach nichts anders als die Nachahmung der Natur, das heißt aller der Dinge, die wir um uns herum sehen, hören etcetera, die durch die fünf Tore unsrer Seele in dieselbe hineindringen, und nach Maßgabe des Raums stärkere oder schwächere Besatzung von Begriffen hineinlegen, die denn anfangen in dieser Stadt zu leben und zu weben, sich zu einander gesellen, unter gewisse Hauptbegriffe stellen, oder auch zeitlebens ohne Anführer, Kommando und Ordnung herumschwärmen, wie solches Bunyan in seinem heiligen Kriege gar schön beschrieben hat. Wie besoffene Soldaten oft auf ihrem Posten einschlafen, zu unrechter Zeit wieder aufwachen etcetera, wie man denn Beispiele davon in allen vier Weltteilen antrifft. Doch bald geb ich selbst ein solches ab – ich finde mich wieder zurecht, ich machte die Anmerkung, das Wesen der Poesie sei Nachahmung und was dies für Reiz für uns habe – Wir sind, m. H., oder wollen wenigstens sein, die erste Sprosse auf der Leiter der freihandelnden selbstständigen Geschöpfe, und da wir eine Welt hie da um uns sehen, die der Beweis eines unendlich freihandelnden Wesens ist, so ist der erste Trieb, den wir in unserer Seele fühlen, die Begierde 's ihm nachzutun; da aber die Welt keine Brücken hat, und wir uns schon mit den Dingen, die da sind, begnügen müssen, fühlen wir wenigstens Zuwachs unsrer Existenz, Glückseligkeit, ihm nachzuäffen, seine Schöpfung ins Kleine zu schaffen. Obschon ich nun wegen dieses Grundtriebes nicht nötig hätte mich auf eine Autorität zu berufen, so will ich doch nach der einmal eingeführten Weise mich auf die Worte eines großen Kunstrichters mit einem Bart lehnen, eines Kunstrichters, der in meinen Anmerkungen noch manchmal ins Gewehr treten wird. Aristoteles im vierten Buch seiner Poetik: »Es scheint, daß überhaupt zwei natürliche Ursachen zur Poesie Gelegenheit gegeben. Denn es ist dem Menschen von Kindesbeinen an eigen, nachzuahmen. Und in diesem Stück liegt sein Unterscheidungszeichen von den Tieren.[333] Der Mensch ist ein Tier, das vorzüglich geschickt ist, nachzuahmen.« Ein Glück, daß er vorzüglich sagt, denn was würde sonst aus den Affen werden?

Ich habe eine große Hochachtung für den Aristoteles, obwohl nicht für seinen Bart, den ich allenfalls mit Peter Ramus, dem jedoch der Mutwill übel bekommen ist – Aber da er hier von zwo Quellen redet, aus denen die landüberschwemmende Poesie ihren Ursprung genommen und gleichwohl nur auf die eine mit seinem kleinen krummen Finger deutet, die andere aber unterm Bart behält (obwohl ich Ihnen auch nicht dafür stehe, da ich aufrichtig zu reden, ihn noch nicht ganz durchgelesen) so ist mir ein Gedanke entstanden, der um Erlaubnis bittet, ans Tageslicht zu kommen, denn einen Gedanken bei sich zu behalten und eine glühende Kohle in der Hand –

Erst aber noch eine Autorität. Der berühmte weltberühmte Herr Sterne, der sich wohl nichts weniger als Nachahmer vermutet, und weil er das in seine siebente Bitte zu setzen vergessen, deswegen vom Himmel damit scheint vorzüglich gestraft worden zu sein, in seinem Leben und Meinungen sagt im vierzigsten Kapitel: »Die Gabe zu vernünfteln und Syllogismen zu machen, im Menschen – denn die höhern Klassen der Wesen, als die Engel und Geister, wie man mir gesagt hat, tun das durch Anschauen.«

Es ist nur der Unterschied, daß diese zweite Autorität dem, was ich sagen will, vorangeht, und also nach schuldiger Dankbarkeit an den Pfauenschwanz, dem ich diese Feder entwandt, fang und hebe ich also an.

Unsere Seele ist ein Ding, dessen Wirkungen wie die des Körpers sukzessiv sind, eine nach der andern. Woher das komme, das ist – so viel ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder sukzessiv zu erkennen, noch zu wollen. Wir möchten mit einem Blick durch die innerste Natur aller Wesen dringen, mit einer Empfindung alle Wonne, die in der Natur ist, aufnehmen und[334] mit uns vereinigen. Fragen Sie sich, m. H., wenn Sie mir nicht glauben wollen. Woher die Unruhe, wenn Sie hie und da eine Seite der Erkenntnis beklapst haben, das zitternde Verlangen, das Ganze mit Ihrem Verstande zu umfassen, die lähmende Furcht, wenn Sie zur andern Seite übergehn, werden Sie die erste wieder aus dem Gedächtnis verlieren. Eben so bei jedem Genuß, woher dieser Sturm, das All zu erfassen, der Überdruß, wenn Ihrer keichenden Sehnsucht kein neuer Gegenstand übrig zu bleiben scheint – die Welt wird für Sie arm und Sie schwärmen nach Brücken. Den zitterlichtesten Strahl möcht Ihr Heißhunger bis in die Milchstraße verfolgen, und blendete das erzürnte Schicksal Sie, wie Milton würden Sie sich in Chaos und Nacht Welten wähnen, deren Zugang im Reich der Wirklichkeiten Ihnen versperrt ist.

Schließen Sie die Brust zu, wo mehr als eine Adamsribbe rebellisch wird und kommen wieder hinüber mit mir in die lichten Regionen des Verstandes. Wir suchen alle gern unsere zusammengesetzte Begriffe in einfache zu reduzieren und warum das? weil er sie dann schneller – und mehr zugleich umfassen kann. Aber trostlos wären wir, wenn wir darüber das Anschauen und die Gegenwart dieser Erkenntnisse verlieren sollten, und das immerwährende Bestreben, all unsere gesammleten Begriffe wieder auseinander zu wickeln und durchzuschauen, sie anschaulich und gegenwärtig zu machen, nehm ich als die zweite Quelle der Poesie an.

Der Schöpfer hat unserer Seele einen Bleiklumpen angehängt, der wie die Penduln an der Uhr sie durch seine niederziehende Kraft in beständiger Bewegung erhält. Anstatt also mit den Hypochondristen auf diesen sichern Freund zu schimpfen (amicus certus in re incerta, denn was für ein Wetterhahn ist unsre Seele?) ist er, hoff ich, ein Kunststück des Schöpfers, all unsere Erkenntnis festzuhalten, bis sie anschaulich geworden ist.

Die Sinne, ja die Sinne – es kommt freilich auf die[335] spezifische Schleifung der Gläser und die spezifische Größe der Projektionstafel an, aber mit alledem, wenn die Camera obscura Ritzen hat –

So weit sind wir nun. Aber eine Erkenntnis kann vollkommen gegenwärtig und anschaulich sein – und ist deswegen doch noch nicht poetisch. Doch dies ist nicht der rechte Zipfel, an dem ich anfassen muß, um –

Wir nennen die Köpfe Genies, die alles, was ihnen vorkommt, gleich so durchdringen, durch und durch sehen, daß ihre Erkenntnis denselben Wert, Umfang, Klarheit hat, als ob sie durch Anschaun oder alle sieben Sinne zusammen wäre erworben worden. Legt einem solchen eine Sprache, mathematische Demonstration, verdrehten Charakter, was ihr wollt, eh ihr ausgeredt habt, sitzt das Bild in seiner Seele, mit allen seinen Verhältnissen, Licht, Schatten, Kolorit dazu.

Diese Köpfe werden nun zwar vortreffliche Weltweise was weiß ich, Zergliederer, Kritiker – alle ers – auch vortreffliche Leser von Gedichten abgeben, allein es muß noch was dazukommen, eh sie selbst welche machen, versteh mich wohl, nicht nachmachen. Die Folie, Christlicher Leser! die Folie, was Horaz vivida vis ingenii, und wir Begeisterung, Schöpfungskraft, Dichtungsvermögen, oder lieber gar nicht nennen. Den Gegenstand zurückzuspiegeln, das ist der Knoten, die nota diacritica des poetischen Genies, deren es nun freilich seit Anfang der Welt mehr als sechs tausend soll gegeben haben, die aber auf Belsazers Waage vielleicht bis auf sechs, oder wie Sie wollen –

Denn – und auf dieses Denn sind Sie vielleicht schon ungeduldig, das Vermögen nachzuahmen, ist nicht das, was bei allen Tieren schon im Ansatz – nicht Mechanik – nicht Echo – – nicht was es, um Othem zu sparen, bei unsern Poeten. Der wahre Dichter verbindet nicht in seiner Einbildungskraft, wie es ihm gefällt, was die Herren die schöne Natur zu nennen belieben, was aber mit[336] ihrer Erlaubnis nichts als die verfehlte Natur ist. Er nimmt Standpunkt – und dann muß er so verbinden. Man könnte sein Gemälde mit der Sache verwechseln und der Schöpfer sieht auf ihn hinab wie auf die kleinen Götter, die mit seinem Funken in der Brust auf den Thronen der Erde sitzen und seinem Beispiel gemäß eine kleine Welt erhalten. Wollte sagen – was wollt ich doch sagen? –

Hier lassen Sie uns eine kleine Pause bis zur nächsten Stunde machen, wo ich mit Kolumbus' Schifferjungen auf den Mast klettern, und sehen will, wo es hinausgeht. Noch weiß ich's selber nicht, aber Land wittere ich schon, bewohnt und unbewohnt, ist gleichgültig. Der Parnaß hat noch viel unentdeckte Länder, und willkommen sei mir, Schiffer! der du auch überm Suchen stürbest. Opfer für der Menschen Seligkeit! Märtyrer! Heiliger!


Ich habe in dem ersten Abschnitt meines Versuchs Ihnen, m. H., meine unmaßgebliche Meinung – – mir eine fertige Zunge geben, meine Gedanken geschwind und dennoch mit gehöriger Präzision – Denn ich fürchte sehr, das Jugendfeuer werde die wenige Portion Geduld auflecken, die ich in meinem Temperament finde, und die doch einem Prosaisten, und besonders einem kritischen – In der Tat, da die Kritik mehr eine Beschäftigung des Verstandes als der Einbildungskraft bleibet, so verlangt sie ein großes Maß Phlegma –


Ich habe also bei phlegmatischem Nachdenken über diese zwei Quellen gefunden, daß die letztere die Nachahmung allen schönen Künsten gemein, wie es denn auch Batt – die erste aber, das Anschauen allen Wissenschaften, ohne Unterschied, in gewissem Grade gemein sein sollte. Die Poesie scheint sich dadurch von allen Künsten und Wissenschaften zu unterscheiden, daß sie diese beiden Quellen vereinigt, alles scharf durchdacht, durchforscht, durchschaut – und dann in getreuer Nachahmung[337] zum andernmal wieder hervorgebracht. Dieses gibt die Poesie der Sachen, jene des Stils. Oder umgekehrt, wie ihr wollt. Der schöne Geist kann das Ding ganz kennen, aber er kann es nicht wieder so getreu von sich geben, alle Striche seines Witzes können's nicht. Darum bleibt er immer nur schöner Geist, und in den Marmorhänden Longin, Home (wer will, schreibe seinen Namen hin) wird seine Schale nie zum Dichter hinunter sinken. Doch dies sind so Gedanken neben dem Totenkopf auf der Toilette des Denkers – laßt uns zu unserm Theater umkehren!

Und die Natur des Schauspiels zu entwickeln suchen, aus dieser Untersuchung einige Korollarien ableiten, mit guten Gründen verschanzen, und im dritten Abschnitt wider die Angriffe unsrer Gegner, das heißt, des ganzen feinern Publikums verteidigen, ob wir sie vielleicht dahin vermöchten, die Belagerung in eine Blockade zu verwandeln, weil alsdenn –

Daß das Schauspiel eine Nachahmung und folglich einen Dichter fodere, wird mir doch wohl nicht bestritten werden. Schon im gemeinen Leben (fragen wir den Pöbel, dessen Witz noch nicht so boshaft ist, Worte umzumünzen) heißt ein geschickter Nachahmer ein guter Komödiant, und wäre das Schauspiel was anders als Nachahmung, es würde seine Schauer bald verlieren. Ich getraue mich, zu behaupten, daß tierische Befriedigungen ausgenommen, es für die menschliche Natur kein einzig Vergnügen gibt, wo nicht Nachahmung mit zum Grunde läge – die Nachahmung der Gottheit mit eingerechnet u.s.w.

Herr Aristoteles selber sagt – –

Es kommt itzt darauf an, was beim Schauspiel eigentlich der Hauptgegenstand der Nachahmung: der Mensch? oder das Schicksal des Menschen? Hier liegt der Knoten, aus dem zwei so verschiedene Gewebe ihren Ursprung genommen, als die Schauspiele der Franzosen (sollen wir[338] der Griechen sagen?) und der ältern Engländer, oder vielmehr überhaupt aller ältern nordischen Nationen sind, die nicht griechisch gesattelt waren.

Hören Sie also die Definition des Aristoteles von der Tragödie, lassen Sie uns hernach die Dreistigkeit haben, unsere zu geben. Ein großes Unternehmen, aber wer kann uns zwingen, Brillen zu brauchen, die nicht nach unserm Auge geschliffen sind.

Er sagt im sechsten Kapitel seiner poetischen Reitkunst: »Es ist also das Trauerspiel die Nachahmung einer Handlung, einer guten, vollkommenen und großen Handlung, in einer angenehmen Unterredung, nach der besondern Beschaffenheit der handelnden Personen abgeändert, nicht aber in einer Erzählung.«

Er breitet sich weiter über diese Definition aus. »Und weil das Trauerspiel die Nachahmung einer Handlung ist, die von bestimmten Personen geschiehet, welche notwendig von verschiedener Beschaffenheit sein müssen, sowohl in Ansehung ihrer Sitten, als Gesinnungen, so auch ihre Handlungen von verschiedener Beschaffenheit sind, so ist es natürlich, daß es zwei Ursachen der Handlungen gebe, die Gesinnungen und die Sitten, und nach Maßgabe dieser müssen die Personen alle entweder glücklich oder unglücklich werden.« Er erklärt sich hernach über diese Ausdrücke, damit er allem Mißverstande vorbeuge. »Sitten sind die Art, mit der jemand handelt. Gesinnungen sind seine Gemütsart und der Ausdruck derselben im Sprechen.« Sie sehen aus dieser Erklärung, daß wir nach unserer modernen dramaturgischen Sprache diese beide Worte in eins zusammenfassen, übersetzen können. Charakter, der kenntliche Umriß eines Menschen auf der Bühne. Er fodert also, daß wir die Fabel des Stücks nach den Charakteren der handelnden Personen einrichten, wie er im neunten Kapitel noch deutlicher sich erklärt: »der Dichter solle Begebenheiten nicht vorstellen, wie sie geschehen sind, sondern geschehen sollten.«[339]

Nachdem er nun selbst zugestanden, daß der Charakter der handelnden Personen den Grund ihrer Handlungen, und also auch der Fabel des Stücks enthalte: sollt' es uns fast wundern, daß er in eben diesem Kapitel fortfährt: »Das Wichtigste unter allen ist die Zusammensetzung der Begebenheiten. Denn das Trauerspiel ist nicht eine Nachahmung des Menschen, sondern der Handlungen, des Lebens, des Glücks oder Unglücks, denn die Glückseligkeit ist in den Handlungen gegründet, und der Endzweck des Trauerspiels ist eine Handlung, nicht eine Beschaffenheit.« Als ob die Beschaffenheit eines Menschen überhaupt vorgestellt werden könne, ohne ihn in Handlung zu setzen. Er ist dies und das, woran weiß ich es, lieber Freund, woran weißt du es, hast du ihn handeln sehen? Sei es also, daß Drama notwendig die Handlung mit einschließt, um mir die Beschaffenheit anschaulich zu machen: ist darum Handlung der letzte Endzweck, das Principium? Er fährt fort: »Sie (die handelnden Personen) sind nach ihren Sitten von einer gewissen Beschaffenheit, nach ihren Handlungen aber glücklich oder unglücklich. Sie sollen also nicht handeln, um ihre Sitten darzustellen, sondern die Sitten werden um der Handlungen willen mit eingeführt.« (Aristoteles konnte nichts anders lehren, nach den Mustern, die er vor sich hatte, und deren Entstehungsart ich unten aus den Religionsmeinungen klar machen will. Eben hier ist die unsichtbare Spitze, auf der alle herrliche Gebäude des griechischen Theaters ruhen: auf der wir aber unmöglich fortbauen können.) »Die Begebenheiten, die Fabel ist also der Endzweck der Tragödie, denn ohne Handlungen würde es keine Tragödie bleiben, wohl aber ohne Sitten.« Ohnmöglich können wir ihm hierin recht geben, so sehr er zu seiner Zeit recht gehabt haben mag. Die Erfahrung ist die ewige Atmosphäre des strengen Philosophen, sein Räsonnement kann und darf sich keinen Nagelbreit drüber erheben, so wenig als eine Bombe außer ihrem berechneten[340] Kreise fliegen kann. Da ein eisernes Schicksal die Handlungen der Alten bestimmte und regierte, so konnten sie als solche interessieren, ohne davon den Grund in der menschlichen Seele aufzusuchen und sichtbar zu machen. Wir aber hassen solche Handlungen, von denen wir die Ursache nicht einsehen, und nehmen keinen Teil dran. Daher sehen sich die heutigen Aristoteliker, die bloß Leidenschaften ohne Charakteren malen (und die ich übrigens in ihrem anderweitigen Wert lassen will) genötigt, eine gewisse Psychologie für alle ihre handelnde Personen anzunehmen, aus der sie darnach alle Phänomene ihrer Handlungen so geschickt und ungezwungen ableiten können und die im Grunde mit Erlaubnis dieser Herren nichts als ihre eigene Psychologie ist. Wo bleibt aber da der Dichter, Christlicher Leser! wo bleibt die Folie? Große Philosophen mögen diese Herren immer sein, große allgemeine Menschenkenntnis, Gesetze der menschlichen Seele Kenntnis, aber wo bleibt die individuelle? Wo die unekle, immer gleich glänzende, rückspiegelnde, sie mag im Totengräberbusen forschen oder unterm Reifrock der Königin? Was ist Grandison, der abstrahierte geträumte, gegen einen Rebhuhn, der da steht? Für den mittelmäßigen Teil des Publikums wird Rousseau (der göttliche Rousseau selbst – ) unendlichen Reiz mehr haben, wenn er die feinsten Adern der Leidenschaften seines Busens entblößt und seine Leser mit Sachen anschaulich vertraut macht, die sie alle vorhin schon dunkel fühlten, ohne Rechenschaft davon geben zu können, aber das Genie wird ihn da schätzen, wo er aus den Schlingen und Graziengewebe der feinern Welt Charaktere zu retten weiß, die nun freilich doch oft wie Simson ihre Stärke in dem Schoß der Dame lassen.

Wir wollen unsern Aristoteles weiter hören: »Die Trauerspiele der meisten Neuern sind ohne Sitten, es bleiben darum ihre Verfasser immer Dichter« (in unsern Zeiten durchaus nicht mehr, Handlungen und Schicksale sind erschöpft,[341] die konventionellen Charaktere, die konventionellen Psychologien, da stehen wir und müssen immer Kohl wärmen, ich danke für die Dichter). Er führt das Beispiel zweier Maler, des Zeuxis und Polygnotus. Ich will diese Stelle übergehen und meine Paradoxe nicht auf alle schöne Künste – doch einen Seitenblick – nach meiner Empfindung schätz ich den charakteristischen, selbst den Karikaturmaler zehnmal höher als den idealischen, hyperbolisch gesprochen, denn es gehört zehnmal mehr dazu, eine Figur mit eben der Genauigkeit und Wahrheit darzustellen, mit der das Genie sie erkennt, als zehn Jahre an einem Ideal der Schönheit zu zirkeln, das endlich doch nur in dem Hirn des Künstlers, der es hervorgebracht, ein solches ist. In der Morgenzeit der Welt war's was anders, Zeuxis arbeitete, um uns Kritiker und Geschmack zu bilden, Apelles' Kohle, von einem göttlichen Feuer geleitet, schuf wie Gott um ihr selbst willen. Die Idee der Schönheit muß bei unsern Dichtern ihr ganzes Wesen durchdrungen haben – denn fort mit dem rohen Nachahmer, der nie an diesem Strahl sich gewärmet hat, auf Thespis' Karre – aber sie muß nie ihre Hand führen oder zurückhalten, oder der Dichter wird – was er will, Witzling, Pillenversilberer, Bettwärmer, Brustzuckerbäcker, nur nicht Darsteller, Dichter, Schöpfer –

Aristoteles: »Ein Zeichen für die Wahrheit des Satzes, daß die Fabel, die Ver- und Entwickelung der Begebenheiten in der Tragödie am meisten gefalle, ist, weil die, so sich an die Poesie wagen, weit eher in Ansehung der Diktion und Charaktere fürtrefflich sind als in der Zusammensetzung der Begebenheiten, wie fast an all unsern ersten Dichtern zu sehen« dies will nichts sagen. Dictione et moribus soll gar in einer Klasse nicht stehen. Es ist hier nicht die Rede von hingekleckten Charakteren, von denen all unsere bärtige und unbärtige Schulübungen so voll; wo bei einer schwimmenden ungefähren Ähnlichkeit des Zuschauers Phantasei das Beste tun muß – selbst[342] nicht von dem famam sequere sibi convenientia finge des Horaz, noch von seinem servetur ad imum, was das Journal Encyclopédique soutenir les caractères nennt – es ist die Rede von Charakteren, die sich ihre Begebenheiten erschaffen, die selbstständig und unveränderlich die ganze große Maschine selbst drehen, ohne die Gottheiten in den Wolken anders nötig zu haben, als wenn sie wollen zu Zuschauern; nicht von Bildern, von Marionettenpuppen – von Menschen. Ha aber freilich dazu gehört Gesichtspunkt, Blick der Gottheit in die Welt, den die Alten nicht haben konnten, und wir zu unserer Schande nicht haben wollen. Er fährt fort, wie er denn nicht anders konnte: »Die Fabel also ist der Grund (Principium) und gleichsam die Seele der Tragödie, das zweite aber sind die Sitten. Es ist wie in der Malerei, wenn einer mit den schönsten Farben das Papier beschmierte, würde er lange so nicht ergetzen als einer, der ein Bild drauf hinzeichnet. (Er vergleicht also die Fabel mit der Zeichnung, die Charaktere mit dem Kolorit??) Es ist aber das Trauerspiel die Nachahmung einer Handlung, und durch diese Handlung auch der handelnden Personen.« Umgekehrt wird –

Was er von den Sentiments der Diktion der Melopöie der Dekoration – können wir hier unmöglich aufnehmen, wenn wir uns nicht zu einem Traktat ausdehnen wollen. Wir haben es eigentlich mit seinem dramatischen Principium, mit der Basis seines kunstrichterlichen Gebäudes unternommen, weil wir doch die Ursache anzeigen müssen, warum wir so halsstarrig sind, auf demselben nicht fortzubauen. Gehen über zum Fundament des Shakespearischen unsers Landsmanns, wollen sehen, ob die Wunder, so er auf jeden gesunden Kopf und unverderbtes Herz tut, wirklich einem je ne sais quoi der erleuchtetsten Kunstrichter, einem Ohngefähr, vielleicht einem Planeten, vielleicht gar einem Kometen zuzuschreiben sind, weil er nichts vom Aristoteles gewußt zu haben[343] – Und zum Henker hat denn die Natur den Aristoteles um Rat gefragt, wenn sie ein Genie?

Auf eins seiner Fundamentalgesetze muß ich noch zurückschießen, das so viel Lärm gemacht, bloß weil es so klein ist, und das ist die so erschröckliche jämmerlichberühmte Bulle von den drei Einheiten. Und was heißen denn nun drei Einheiten, meine Lieben? Ist es nicht die eine, die wir bei allen Gegenständen der Erkenntnis suchen, die eine, die uns den Gesichtspunkt gibt, aus dem wir das Ganze umfangen und überschauen können? Was wollen wir mehr, oder was wollen wir weniger? Ist es den Herren beliebig, sich in dem Verhältnis eines Hauses und eines Tages einzuschränken, in Gottes Namen, behalten Sie Ihre Familienstücke, Miniaturgemälde, und lassen uns unsere Welt. Kommt es Ihnen so sehr auf den Ort an, von dem Sie sich nicht bewegen möchten, um dem Dichter zu folgen: wie denn, daß Sie sich nicht den Ruhepunkt Archimeds wählen: da mihi figere pedem et terram movebo? Welch ein größer und göttlicher Vergnügen, die Bewegung einer Welt, als eines Hauses? und welche Wohltat des Genies, Sie auf die Höhe zu führen, wo Sie einer Schlacht mit all ihrem Getümmel, Jammern und Grauen zusehen können, ohne Ihr eigen Leben, Gemütsruhe, und Behagen hineinzuflechten, ohne auf dieser grausamen Szene Akteur zu sein. Liebe Herren! was sollen wir mehr tun, daß ihr selig werdet? wie kann man's euch bequemer machen? Nur zuschauen, ruhen und zuschauen, mehr fodern wir nicht, warum wollt ihr denn nicht auf diesem Stern stehen bleiben, und in die Welt 'nabgucken, aus kindischer Furcht den Hals zu brechen?

Was heißen die drei Einheiten? hundert Einheiten will ich euch angeben, die alle immer doch die eine bleiben. Einheit der Nation, Einheit der Sprache, Einheit der Religion, Einheit der Sitten – ja was wird's denn nun? Immer dasselbe, immer und ewig dasselbe. Der Dichter und das Publikum müssen die eine Einheit fühlen aber[344] nicht klassifizieren. Gott ist nur Eins in allen seinen Werken, und der Dichter muß es auch sein, wie groß oder klein sein Wirkungskreis auch immer sein mag. Aber fort mit dem Schulmeister, der mit seinem Stäbchen einem Gott auf die Finger schlägt.

Aristoteles. Die Einheit der Handlung. Fabula autem est una, non ut aliqui putant, si circa unum sit. Er sondert immer die Handlung von der handelnden Hauptperson ab, die bongré malgré in die gegebene Fabel hineinpassen muß, wie ein Schiffstau in ein Nadelöhr. Unten mehr davon, bei den alten Griechen war's die Handlung, die sich das Volk zu sehen versammlete. Bei uns ist's die Reihe von Handlungen, die wie Donnerschläge auf einander folgen, eine die andere stützen und heben, in ein großes Ganze zusammenfließen müssen, das hernach nichts mehr und nichts minder ausmacht, als die Hauptperson, wie sie in der ganzen Gruppe ihrer Mithändler hervorsticht. Bei uns also fabula est una si circa unum sit. Was können wir dafür, daß wir an abgerissenen Handlungen kein Vergnügen mehr finden, sondern alt genug worden sind, ein Ganzes zu wünschen? daß wir den Menschen sehen wollen, wo jene nur das unwandelbare Schicksal und seine geheimen Einflüsse sahen. Oder scheuen Sie sich, meine Herren! einen Menschen zu sehen?

Einheit des Orts – oder möchten lieber sagen, Einheit des Chors, denn was war es anders? Kommen doch auf dem griechischen Theater die Leute wie gerufen und gebeten herbei, und kein Mensch stößt sich daran. Weil wir uns freuen, daß sie nur da sind – weil das Chor dafür da steht, daß sie kommen sollen, und sich das im Kopf eines Freundes geschwind zusammenreimt, was wohl die causa prima und remotior der Ankunft seines Freundes sein möchte, wenn er ihn eben in seinen Armen drückt.

Einheit der Zeit, worin Aristoteles gar den wesentlichen Unterscheid des Trauerspiels von der Epopee setzt. Am Ende des 5ten Kapitels: »Die Epopee ist also bis auf den[345] Punkt mit der Tragödie eins, daß jede eine Nachahmung edler Handlungen mittelst einer Rede ist. Darin aber unterschieden, daß jene ein einfaches Metrum und als eine Erzählung lang fortgeht, diese aber, wenn es möglich, nur den Umlauf einer Sonne in sich schließt, da die Epopee von unbestimmter Zeit ist.« Sind denn aber zehn Jahr, die der Trojanische Krieg währte, nicht eben so gut bestimmte Zeit als unus solis ambitus? Wo hinaus, lieber Kunstrichter, mit dieser differentia specifica? Es springt ja in die Augen, daß in der Epopee der Dichter selbst auf tritt, im Schauspiele aber seine Helden. Warum sondern wir denn das Wort vorstellen, das einzige Prädikat zu diesem Subjekt, von der Tragödie ab, die Tragödie stellt vor, das Heldengedicht erzählt: aber freilich in unsern heutigen Tragödien wird nicht mehr vorgestellt.

Wenn wir das Schicksal des Genies betrachten (ich rede von Schriftstellern) so ist es unter aller Erdensöhne ihrem das bängste, das traurigste. Ich rede ehrlich, von den größesten Produkten alter und neuer Zeiten. Wer liest sie? wer genießt sie? – Wer verdaut sie? Fühlt das, was sie fühlte? Folgt der unsichtbaren Kette, die ihre ganze große Maschine in eins schlingt, ohne sie einmal fahren zu lassen? Welches Genie liest das andere so? – Mitten im hellesten Anschaun der Zaubermächte des andern und ihren Wirkungen und Stößen auf sein Herz, dringen Millionen unberufene Gedanken – dein Blatt Kritik – dein unvollendeter Roman – dein Brief – oft bis auf die Wäsche hinunter – weg sind die süßen Illusionen, da zappelt er wieder auf dem Sande, der vor einem Augenblicke im Meere von Wollust dahin schwamm. Und wenn das Genie so liest ω ποποι wie liest der Philister denn? Wo ist da lebendige Vorstellung der tausend großen Einzelheiten, ihrer Verbindungen, ihres göttlichen ganzen Eindrucks? Was kann der Epopeendichter tun, unsere Aufmerksamkeit fest zu halten, an seine Galeere anzuschmieden und dann mit ihr 'von zu fahren? Einen Vorrat[346] von Witz verschütten, der sich tausendmal erschöpft (siehe Fielding und andere) oder wie Homer blind das Publikum verachten und für sich selber singen? Der Schauspieldichter hat's besser, wenn das Schicksal seine Wünsche erhören wollte. Schlimmer, wenn sie es nur halb erhört. Werd ich gelesen und der Kopf ist so krank oder so klein, daß alle meine Pinselzüge unwahrgenommen vorbei schwimmen, geschweige in ein Gemälde zusammenfließen – Trost! ich wollte nicht gelesen werden. Angeschaut. Werd ich aber vorgestellt und verfehlt – so möcht ich Palett' und Farben ins Feuer schmeißen, weit inniger betroffen, als wenn eine Betschwestergesellschaft mich zum Bösewicht afterredet. Bin ich denn ein Bösewicht? Und bin ich denn – und schlag in die Hände – was ihr aus mir machen wollt?

Aber wie gewinnen könnte ich (sagt der Künstler) o welch ein herrlicherer Dank? welch eine seligere Belohnung aller Mühe, Furcht und Leiden, wie gar nichts Ehrensäulen und Pensionen dagegen, zu denen der Künstler nie den Weg hat wissen wollen – als meine Ideen lebendig gemacht, realisiert zu sehen. Zu sehen das Ganze und seine Wirkung wie ich es dachte – o ihr Beförderer der Künste! ihr Mäcenen! ihr Auguste! non saginandi – nur Platz, unser Schauspiel aufzuführen und ihr sollt Zuschauer sein. Euer ganzes Volk. Da ihr im Angesichte eures ganzen Volks auf dem Theater der Welt eure Rollen spielen müßt und sich der Nachruhm nicht bestechen läßt – wo wollt ihr euch verewigen als hier? Horaz schlug das carmen lyricum vor, aber siehe, ich sage euch, euer Ruhm stirbt mit seinem Schall, bleibt selber nur Schall, nie in Anschauen, nie in Bewegungen des Herzens verwandelt. Cäsar ist in Rom so nie bedauert worden, als unter den Händen Shakespears.

Wir sehen also, was der dramatische Dichter vor dem epischen gewinnt, wie kürzern Weg zum Ziel, sein großes Bild lebendig zu machen, wenn er nur sichere Hand hat,[347] in der Puls der Natur schlägt, vom göttlichen Genius geführt. Richter der Lebendigen und der Toten. – Er braucht die Sinne nicht mit Witz und Flittern zu fesseln, das tut der Dekorationenmaler für ihn, aller Kunstgriffe überhoben, schon eingeschattet von dem magischen Licht, auf das jener so viel Kosten verschwendet, führt er uns dahin, wo er wollte, ohne andern Aufwand zu machen, als was er so gern aufwendet, sein Genie. Hundert Sachen setzt er zum voraus, die ich hier nicht nennen mag – und wie höher muß er fliegen! Ach mir, daß ich die Geheimnisse unserer Kunst verraten muß, den Flor wegziehen, der ihren Reiz so schön und schamhaft in seine Falten zurückbarg und doch vielleicht noch zu wenig verraten habe. Heut zu Tage, da man genießen will, ohne das Maul aufzutun, muß Venus Urania selbst zur Kokette werden – fort! Rache!

Da wir am Fundament des aristotelischen Schauspiels ein wenig gebrochen und mit Recht befürchten müssen – so wollen wir's am andern Ende versuchen, auf das Dach des französischen Gebäudes klettern und unsere gesunde Vernunft und Empfindung fragen.

Was haben uns die Primaner aus den Jesuiterkollegien geliefert? Meister? Wir wollen doch sehen. Die Italiener hatten einen Dante, die Engelländer Shakespearn, die Deutschen Klopstock, welche das Theater schon aus ihrem eigenen Gesichtspunkt ansahen, nicht durch Aristoteles' Prisma. Kein Naserümpfen, daß Dantens Epopee hier vorkommt, ich sehe überall Theater drin, bewegliches, Himmel und Hölle, den Mönchszeiten analog. Da keine Einschränkungen von Ort und Zeit, und freilich, wenn man uns auf der Erde keinen Platz vergönnen will, müssen wir wohl in der Hölle spielen. Was Shakespear und Klopstock in seinem Bardiet getan, wissen wir alle, die Franzosen aber erschrecken vor allem solchen Unsinn, wie Voltaire wider den La Motte, der im halben Rausch was herlallt, von dem er selbst nicht Rechenschaft zu[348] geben weiß: Les Français sont les premiers qui ont fait revivre ces sages règles de Théâtre, les autres peuples – Mais comme ce joug était juste et que la raison triomphe enfin de tout

Man braucht nicht lange zu beweisen, daß die französischen Schauspiele den Regeln des Aristoteles entsprechen, sie haben sie bis zu einem Punkt hinausgetrieben, der jedem Mann von gesunder Empfindung Herzensangst verursacht. Es gibt nirgend in der Welt so grübelnde Beobachter der drei Einheiten: der willkürliche Knoten der Handlung ist von den französischen Garnwebern zu einer solchen Vollkommenheit bearbeitet worden, daß man ihren Witz in der Tat bewundern muß, als welcher die simpelsten und natürlichsten Begebenheiten auf so seltsame Arten zu verwirren weiß, daß noch nie eine gute Komödie außer Landes ist geschrieben worden, die nicht von funfzigen ihrer besten Köpfe immer wieder in veränderter Gestalt wäre vorgezeigt worden. Sie setzen, wie Aristoteles, den ganzen Unterscheid des Schauspiels darin, daß es vierundzwanzig Stunden währt und suavi sermone, siehe seine Definition. Das Erzählen im Trauerspiel und in der Epopee ist ihnen gleichgültig und sie machen mit dem Aristoteles die Charaktere nicht nur zur Nebensache, sondern wollen sie auch, wie Madame Dacier gar schön auseinandergesetzt hat, gar nicht einmal im Trauerspiele leiden. Ein Unglück, daß die gute Frau bei Charakteren sich immer Masken und Fratzen dachte, aber wer kann davor?

Wenn also die französischen Schauspiele größtenteils nach den Regeln des Aristoteles – und seiner Ausleger zugeschnitten sind – wenn wir vorhin bei der Theorie zu murren fanden, und bei der Ausübung hier gar – – was bleibt uns übrig? Was, als die Natur Baumeisterin sein zu lassen, wie Vergil die Dido beschreibt.[349]


Talis erat Dido, talem se laeta ferebat

Per medios, instans operi regnisque futuris.

Tum foribus divae media testudine templi

Saepta armis, solioque alte subnixa resedit

Iura dabat, legesque viris, operumque laborem

Partibus aequabat iustis


Ist's nicht an dem, daß Sie in allen französischen Schauspielen (wie in den Romanen) eine gewisse Ähnlichkeit der Fabel gewahr werden, welche wenn man viel gelesen oder gesehn hat, unbeschreiblich ekelhaft wird. Ein offenbarer Beweis des Handwerks. Denn die Natur ist in allen ihren Wirkungen mannigfaltig, das Handwerk aber einfach, und Atem der Natur und Funke des Genies ist's, das noch unterweilen zu unserm Trost uns durch eine kleine Abwechselung entschädigt. Fürchte nicht, liebes Publikum, wenn du die Dämme so hoch aufziehst, die Grenzen so weit steckst, von Dichterlingen überschwemmt zu werden. Sie lieben das freie Feld nicht, sie befinden sich besser hinter den Außenwerken des Handwerks. Es ist keine Kleinigkeit, Schlingen für die Herzen auszuwerfen, alle die tausend Köpfe wegzuzaubern und willig zu machen uns zu folgen. Die französischen Intrigen, deren sie ganze Kramläden voll haben, die sie verändern, bereichern, zusammenflicken wie die Moden, werden sie nicht von Tage zu Tage uninteressanter, abgeschmackter? Es geht ihren Schauspieldichtern wie den lustigen Räten in Gesellschaften, die in der ersten halben Stunde erträglich, in der zweiten sich selbst wiederholen, in der dritten von niemand mehr gehört werden als von sich selbst. Hab ich doch letzt eine lange Komödie gesehen, die nur auf einem Wortspiel drehte. Ja wenn solche trifles light as air von einem Shakespear behandelt werden, aber wenn die Intrige das Wesen des Stücks ausmacht, und die Verwirrung besteht in einem Wort, so ist das ganze Stück so viel wert – als ein Wortspiel. Woher aber diese schimmernde Armut?[350] Der Witz eines Shakespears erschöpft sich nie und hätt er noch so viel Schauspiele geschrieben. Sie kommt – erlauben Sie mir's zu sagen ihr Herren Aristoteliker! – sie kommt aus der Ähnlichkeit der handelnden Personen, partium agentium, die Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien ist die Fundgrube der Natur, hier allein schlägt die Wünschelrute des Genies an. Und sie allein bestimmt die unendliche Mannigfaltigkeit der Handlungen und Begebenheiten in der Welt. Nur ein Alexander und nach ihm keiner mehr, und alle Wut der Parallelköpfe und Parallelbiographen wird es dahin nicht bringen, eine vollkommen getreue Kopie von ihm aufzuweisen. Selbst die Parallelensucht verrät die Leute und macht einen besondern Bestimmungsgrund ihrer Individualität.

Es ist keine Kalumnie (ob in den Gesellschaften laß ich unentschieden) daß die Franzosen auf der Szene keine Charaktere haben. Ihre Helden, Heldinnen, Bürger, Bürgerinnen, alle ein Gesicht, eine Art zu denken, also auch eine große Einförmigkeit in den Handlungen. Geeinzelte Karikaturzüge in den Lustspielen geben noch keine Umrisse von Charaktern, personifizierte Gemeinplätze über den Geiz noch keine Personen, ein kützlichtes Mädchen und ein Knabe, die allenfalls ihre Rollen umwechseln könnten, noch keine Liebhaber. Ich suchte Trost in den sogenannten Charakterstücken, allein ich fand so viel Ähnlichkeit mit der Natur (und noch weniger) als bei den Charaktermasken auf einem Ball.

Ihr ganzer Vorzug bliebe also der Bau der Fabel, die willkürliche Zusammensetzung der Begebenheiten, zu welcher Schilderei der Dichter seine eigene Gemütsverfassung als den Grund unterlegt. Sein ganzes Schauspiel (ich rede hier von Meisterstücken) wird also nicht ein Gemälde der Natur, sondern seiner eigenen Seele. Und da haben wir oft nicht die beste Aussicht zu hoffen. Ist etwas Saft in ihm, so finden wir doch bei jeder Marionettenpuppe, die er herhüpfen und mit dem Kopf nicken läßt, seinen[351] Witz, seine Anspielungen, seine Leidenschaften und seinen Blick. Nur in einen willkürlichen Tanz komponiert, den sie alle eins nach dem andern abtanzen und hernach sich gehorsamst empfehlen. Welcher Tanz wie die Contretänze so oft wieder von neuem verwirrt, verschlungen, verzettelt wird, daß zuletzt Tänzer und Zuschauer die Geduld verlieren. Oder ist der Kopf des Dichters schon ausgetrocknet, so stoppelt er Schulbrocken aus dem Lucan und Seneca zusammen, oder leiht vom Euripides und Plautus, die wenigstens gelehrtes Verdienst haben, und bringt das in schöne fließende Verse, suavi sermone. Oder fehlt es ihm an allem, so nimmt er seine Zuflucht zu dem – französischen Charakter, welcher nur einer – und eigentlich das summum oder maximum aller menschlichen Charaktere ist. Macht seinen Helden äußerst verliebt, äußerst großmütig, äußerst zornig, alles zusammen und alles auf einmal, diesen Charakter studieren alle ihre Dichter und Schauspieler unablässig und streichen ihn wie das Rouge auf alle Gesichter ohne Ansehen der Person.

Ich sage, der Dichter malt das ganze Stück auf seinem eigenen Charakter (denn der eben angeführte Fall ereignet sich eigentlich nur bei denen, die selbst gar keinen Fond, keinen Charakter haben). So sind Voltairens Helden fast lauter tolerante Freigeister, Corneillens lauter Senecas. Die ganze Welt nimmt den Ton ihrer Wünsche an, selbst Rousseau in seiner Héloïse, das beste Buch, das jemals mit französischen Lettern ist abgedruckt worden, ist davon nicht ausgenommen. So sehr er abändert, so geschickt er sich hinter die Personen zu verstecken weiß, die er auftreten läßt, so guckt doch immer, ich kann es nicht leugnen, etwas von seiner Perücke hervor, und das wünscht ich weg, um mich ganz in seine Welt hinein zu täuschen, in dem Palast der Armide Nektar zu schlürfen. Doch das im Vorbeigehen, zum Theater zurück. Voltaire selbst hat eingesehen, daß einer willkürlich zusammengesetzten Fabel, die nur in den Wünschen des Dichters (oft[352] in seiner Gebärerinangst und Autorsucht) nicht in den Charakteren den Grund hat, das Reizende und Anziehende fehle, das uns auch nach befriedigter Neugierde beim zweiten Anblick unterhalten und nähren kann, er sucht also dieses wie eine geschickte Kokette durch äußern Putz zu erhalten. Die Diktion, die Symmetrie und Harmonie des Verses, der Reim selbst, für den er fast zum Märtyrer wird. Pradon und Racine hatten eine Phädra geschrieben. La conduite de ces deux ouvrages, sagt er, est à-peu-près la même. Il y a plus: les personnages des deux pièces se trouvant dans les mêmes situations, disent presque les mêmes choses; mais c'est là qu'on distingue le grand homme et le mauvais poëte, c'est lorsque Racine et Pradon pensent de même, qu'ils sont le plus différents. Merken Sie wohl, Racine et Pradon. Hier steht also nur Racine auf der Bühne und dort nur Pradon. Aber haben wir denn die beiden Herren hervorgerufen? Sie hätten immer warten können, bis das Stück zu Ende war.

Zugegeben, daß bei einer mäßigen Portion allgemeiner Kenntnis des menschlichen Herzens diese Zunft auch Leidenschaften, etwas mehr als Neugier zu erregen wüßte, da doch gemeinhin die warme Einbildungskraft des Zuschauers bei den schön aufgeputzten Worten wie beim Putz einer Hure das Beste dazu tun muß – untersuchen Sie sich, meine Herren! wenn Sie aus dem Schauspielhause fortgehen, was ist das Residuum davon in Ihrer Brust? Dampf, der verraucht, sobald er an die Luft kommt. Sie merkten dem Dichter das Kunststück ab, Sie sahen ihm auf die Finger, es ist doch nur eine Komödie, sagen Sie und wer war die in der zweiten Loge? Was gilt's, Sie greifen sich gar an Kopf, wenn Sie aufmerksam zugesehen haben, und ich sage Ihnen im Vertrauen, daß ein solches Stück in vollem Ernst den Kopf des Zuschauers mehr angreift als den Kopf des Komödianten und Poeten zusammengenommen. Denn er muß das hinzudenken, was –[353]

Ja wenn noch hinter jedem Stück der Autor in selbst eigener Person aufträte, ein examen anstellte, remarques machte, die Wahrscheinlichkeit seiner Erfindungen und Träume plädierte und Sie so per syllogismum dahin brächte, zu bekennen, sein Stück sei schön. So aber bleibt man noch immer im Zweifel und das ist das Ärgste, was man aus einem Stück nach Hause tragen kann.

Daß ich dieses trockene Stück Räsonnement mit einem Nägelchen spicke, will ich –

Voltaire und Shakespear wetteiferten einst um den Tod des Cäsars. Die ganze Stadt weiß davon. Ich möchte sagen, ein kleiner Vogel verbarg sich einst unter die Flügel eines Adlers, darnach satzt er ihm auf den Rücken und dann: Quo me Bacche rapis tui plenum? Hernach, die Historie ist lustig, klatscht' ein berühmter Kunstrichter in die Hände: il nostro poeta ha fatto quel uso di Shakespeare che Virgilio faceva di Ennio. Nur möchte man beherzigen, mit wie vieler Vorsicht – und daß er bloß den Ernst der Engelländer auf die vaterländische Bühne gebracht, nicht aber ihre Wildheit. Dawider hätt ich nun nichts einzuwenden, wenn man mir erlaubt, die Vorsicht durch Ohnmacht zu übersetzen, den harten Ausdruck ferocitá durch Genie, und die Moral drunter schreibe: Wenn der Fuchs die Trauben nicht langen kann –

In eine auführliche Parallele des Julius Cäsar und des La mort de César mag sich ein anderer einlassen – nicht den beiderseitigen Bau der Fabel, Gruppierung der Charaktere, Vorbereitung und Schwingung der Situationen – nichts von der Portia sagen, die V. nicht würdig fand – nichts von der nahen Blutsfreundschaft zwischen Cäsar und Brutus, die er wie einen blauen Lappen aufs grüne Kleid – bloß beide Dichter an den Stellen zusammenhalten, wo sie eine und dieselbe Person in einer und derselben Situation sprechen lassen, um zu zeigen, lorsque Racine et Pradon pensent de même qu'ils sont le plus différents.[354]

Es sei der Monologe des Brutus als die große Tat noch ein Embryo in seinem Gehirn lag, durchs Schicksal gereift ward, dann durch alle Hindernisse brach und wie Minerva in völliger Rüstung geboren ward. Diesen Gang eines großen Entschlusses in der Seele hat V. – vielleicht nicht gesehen. Erst zum Shakespear, meine Herren! Sein Brutus spaziert in einer Nacht, wo Himmel und Erde im Sturm untergehen wollen, gelassen in seinem Garten. Rät aus dem Lauf der Sterne, wie nah der Tag ist. Kann ihn nicht erwarten, befiehlt seinem Buben, ein Licht anzuzünden. »Es muß durch seinen Tod geschehen: dafür hab ich für mein Teil nicht die geringste Ursache, aber um des Ganzen willen« – Philosophiert noch, beratschlagt noch ruhig und kalt, derweile die ganze Natur der bevorstehenden Symphonie seiner Gemütsbewegungen präambuliert. Lucius bringt ihm Zettel, die er auf seinem Fenster gefunden. Er dechiffriert sie beim Schein der Blitze. »Rede – schlage – verbeßre – du schläfst« – ha er reift, er reift der fürchterliche Entschluß: »Rom! ich versprech es dir.« Lucius sagt ihm, morgen sei der 15te März, der Krönungstag Cäsars. Brutus schickt ihn heraus. Jetzt das Wehgeschrei der Gebärerin, wie in kurzen, entsetzlichen Worten: »Zwischen der Ausführung einer furchtbaren Tat und ihrer Empfängnis ist die ganze Zwischenzeit wie ein schreckenvoller Traum: der Genius und die sterblichen Werkzeuge sind alsdann in Beratschlagung und die innere Verfassung des Menschen gleicht einem Königreich, das von allgemeiner Empörung gärt« (Wiel. Übers.). Lucius meldt die Zusammenverschwornen – nun ist's da – die ganze Art – sie sollen kommen – der Empfang ist kurz, Helden anständig, die auf gleichen Ton gestimmt, sich auf einen Wink verstehen. Cassius will, sie sollen schwören (die schwindlichte Cholera), Brutus: »Keinen Eid! Wenn Schicksal des menschlichen Geschlechts, tiefes Gefühl der sterbenden Freiheit zu schwache Bewegungsgründe sind, so gehe jeder wieder in sein Bette« – was soll[355] ich hier abschreiben, Sie mögen's selber lesen, das läßt sich nicht zerstücken. »Junge! Lucius! schläfst du so feste?« Wer da nicht Addisons Seraph auf Flügeln des Sturmwinds Götterbefehle ausrichtend gewahr wird – wem die Würde menschlicher Natur nicht dabei im Busen aufschwellt und ihm den ganzen Umfang des Worts: Mensch – fühlen läßt –

Laßt uns den französischen Brutus besuchen!

Schon im ersten Akt hat er Cäsarn seine ganze Herzensmeinung entdeckt, sagt ihm ins Gesicht, er sei ein größerer Feind der Römer als die Parther, er verabscheue seine Zärtlichkeit, im zweiten Akt fängt er gleich an auf Antonius zu schimpfen, der weiter nichts von ihm verlangte als eine Unterredung mit Cäsarn und Antonius, oder vielmehr – schimpft wieder auf die römische Tugend: Tu veux être un héros, mais tu n'es qu'un barbare, geht drauf ganz boshaft fort und nun – merken Sie auf, wie die Champagnerbouteille aufbraust, nachdem der Zapfen heraus ist: Quelle bassesse (Brutus) o ciel! et quelle ignominie, Voilà donc tes soutiens (bis auf den letzten Tropfen) Voilà vos successeurs Horace, Decius (kurz er ruft alle Helden des alten Roms in chronologischer Ordnung um Beistand an und Pompejus erhört ihn in loco). Que vois je grand Pompée – Tu dors Brutus – Rome mes yeux sur toi seront toujours ouverts (ein Wortspiel) Mais quel autre billet (ei ei alle auf einmal und auf einem Flecken. Wir kamen alle auf den Einfall, Pompejens Statue damit zu behängen – und wahrsagten, daß er sie da finden würde. So muß man die Geschichte verschönern. Das Fenster – wie gemein! aber Pompejus' Statue – warum sie ihm nicht lieber in Mund gesteckt, wie die alten Maler ihre Zettel?)

Nun kommen die Zusammenverschwornen zu ihm. Cimber setzt die epische Trompete an den Mund, wer Lust hat, mag seine Deklamation mit der Erzählung des Casca im S. vergleichen. Nun was tut Cassius drauf? er[356] predigt, und Brutus macht eine feine kritischphilosophische Glosse zum Lebenslauf des alten Cato aus Utika. Sa mort fut inutile – et c'est la seule faute où tomba ce grand homme. Nun geht das Predigen auf zwei Seiten fort, jeder sagt mit andern Worten, was der andere vor ihm gesagt, auf einmal ereifert sich Brutus jähling, weil der Akt bald zu Ende geht: Jurez donc, sagt er, avec moi, jurez, sagt er, sur cette épée, par le sang de Caton (obschon er einen Bock damals gemacht) par celui de Pompée, und Cassius schwört mit ihm und Brutus tritt zur Statue des Pompejus und schwört wieder und – haben Sie genug, meine Herren? – allons, préparons nous, c'est trop nous arrêter.

Was kann ich davor? – – Soll ich Ihnen noch die Leichenreden gegeneinander halten? – Ich denke, ich habe schon zu viel gesagt, und, wenn mir diese chymische Metapher erlaubt ist, man darf nur von jedem einige Tropfen in die Solution tun, um zu sehen, welches Acidum das stärkere ist und das andere zum Rezipienten herausjagt. Doch da es Geschöpfe und Leser von allen Arten gibt, so müssen auch Schriftsteller – aber Signor Conte, daß Sie als ein so aufgeklärter Kunstrichter: il nostro Poeta ha fatto quel uso di Shakespeare che Virgilio faceva di Ennio – quo nunc se proripit ille? (Virg.)


Noch ein paar Worte übern Aristoteles. Daß er grade im Trauerspiele, wo auf die handelnden Personen alles ankommt, das die Epopee dramatisiert heißen könnte, den Charakteren so wenig gibt, wundert mich, könnt ich nicht reimen, wenn ich nicht den Grund davon tiefer fände, in nichts weniger als dem ηϑος der Schauspiele.

Die Schauspiele der Alten waren alle sehr religiös, und war dies wohl ein Wunder, da ihr Ursprung Gottesdienst war. Da nun fatum bei ihnen alles war, so glaubten sie eine Ruchlosigkeit zu begehen, wenn sie Begebenheiten aus den Charakteren berechneten, sie bebten vor dem[357] Gedanken zurück. Es war Gottesdienst, die furchtbare Gewalt des Schicksals anzuerkennen, vor seinem blinden Despotismus hinzuzittern. Daher war Oedip ein sehr schickliches Sujet fürs Theater, einen Diomed führte man nicht gern auf. Die Hauptempfindung, welche erregt werden sollte, war nicht Hochachtung für den Helden, sondern blinde und knechtische Furcht vor den Göttern. Wie konnte Aristoteles also anders: secundum autem sunt mores. Ich sage, blinde und knechtische Furcht, wenn ich als Theologe spreche. Als Ästhetiker, war diese Furcht das einzige, was dem Trauerspiele der Alten den haut goût, den Bitterreiz gab, der ihre Leidenschaften allein in Bewegung zu setzen wußte. Von jeher und zu allen Zeiten sind die Empfindungen, Gemütsbewegungen und Leidenschaften der Menschen auf ihre Religionsbegriffe gepfropfet, ein Mensch ohne alle Religion hat gar keine Empfindung (weh ihm!), ein Mensch mit schiefer Religion schiefe Empfindungen und ein Dichter, der die Religion seines Volks nicht gegründet hat, ist weniger als ein Meßmusikant.

Was wird nun aus dem Oedip des Herrn Voltaire, aus seinem impitoyables dieux, mes crimes sont les vôtres. Gott verzeihe mir, so oft ich das gehört, hab ich meinen Hut andächtig zwischen beide Hände genommen, und die Gnade des Himmels für den armen Schauspieler angefleht, der Gotteslästerungen sagen mußte, weil er sie gelernt hatte. Und was beim Griechen mein ganzes Mitleiden aus der Brust herausgeschluchst haben würde, macht beim Franzosen mein Herz für Abscheu zum Stein. Wer? was? Oedip? ist das geschehen? Wenn es geschehen ist, warum bringt ihr's auf die Bühne wie es geschah, nicht vielmehr, wie Aristoteles selber verlangt, wie es geschehen sollte. Bei dem Griechen sollte Oedip ein Monstrum von Unglück werden, weil Jokasta durch ihren Fürwitz Apolln geärgert, die Ehrfurcht vor ihm aus den Augen gesetzt. Aber bei dem Franzosen hätt er sein Unglück[358] verdienen sollen, oder fort von der Bühne. Wenigstens mußt du mir ein Brett zuwerfen, Dichter, woran ich halten kann, wenn du mich auf diese Höhe führst. Ich fordre Rechenschaft von dir. Du sollst mir keinen Menschen auf die Folter bringen, ohne zu sagen warum.

Damit wir nun, unsern Religionsbegriffen und ganzen Art zu denken und zu handeln analog, die Grenzen unsers Trauerspiels richtiger abstecken, als bisher geschehen, so müssen wir von einem andern Punkt ausgehen als Aristoteles, wir müssen, um den unsrigen zu nehmen, den Volksgeschmack der Vorzeit und unsers Vaterlandes zu Rate ziehen, der noch heut zu Tage Volksgeschmack bleibt und bleiben wird. Und da find ich, daß er beim Trauerspiele oder Staatsaktion, ist gleich viel, immer drauf losstürmt (die Ästhetiker mögen's hören wollen oder nicht) das ist ein Kerl! das sind Kerls! bei der Komödie aber ist's ein anders. Bei der geringfügigsten drollichten, possierlichen unerwarteten Begebenheit im gemeinen Leben rufen die Blaffer mit seitwärts verkehrtem Kopf: Komödie! Das ist eine Komödie! ächzen die alten Frauen. Die Hauptempfindung in der Komödie ist immer die Begebenheit, die Hauptempfindung in der Tagödie ist die Person, die Schöpfer ihrer Begebenheiten.

Also ganz und gar wider Madame Dacier in ihrer Vorrede zum Terenz, der ich bei dieser Gelegenheit höflichst die Hände küsse.

Das Trauerspiel bei uns war also nie wie bei den Griechen das Mittel, merkwürdige Begebenheiten auf die Nachwelt zu bringen, sondern merkwürdige Personen. Zu jenem hatten wir Chroniken, Romanzen, Feste, zu diesem Vorstellung, Drama. Die Person mit all ihren Nebenpersonen, Interesse, Leidenschaften, Handlungen. Und war sie tot, so schloß das Stück, es müßte denn noch ihr Tod Würkungen veranlaßt haben, die auf die Person ein noch helleres Licht zurückwürfen. Daher führen uns unsere ältesten Schauspieldichter oft in einem Akt ohne Anstoß[359] durch verschiedene Jahre fort, sie wollen uns die ganze Person in allen ihren Verhältnissen zeigen, ja Hanns Sachse findt so wenig Bedenklichkeiten drin, seine geduldige Griselda in einem Auftritte freien, heiraten, schwanger werden und gebären zu lassen, daß er vielmehr im Prolog seine Zuschauer für der allzustarken Illusion warnet und ihnen auf sein Ehrenwort versichert, daß alle Sachen so eingericht, daß keinem Menschen ein Schaden geschicht. Woher das Zutrauen zu der Einbildungskraft seines Publikums? Weil er sicher war, daß sie sich aus der nämlichen Absicht dort versammlet hatten, aus der er aufgetreten war, ihnen einen Menschen zu zeigen, nicht eine Viertelstunde.

So ist's mit den historischen Stücken Shakespears: hier möchte ich Charakter stücke sagen, wenn das Wort nicht so gemißbraucht wäre. Die Mumie des alten Helden, die der Biograph einsalbt und spezereit, in die der Poet seinen Geist haucht. Da steht er wieder auf, der edle Tote, in verklärter Schöne geht er aus den Geschichtbüchern hervor und lebt mit uns zum andernmale. O wo finde ich Worte, diese herzliche Empfindung für die auferstandenen Toten anzudeuten – und sollten wir ihnen nicht mit Freuden nach Alexandrien, nach Rom, in alle Vorfallenheiten ihres Lebens folgen und das: selig sind die Augen, die dich gesehen haben, nun für uns behalten? Habt ihr nicht Lust ihnen zuzusehen, meine Herren? In jeder ihrer kleinsten Handlungen, Schicksalswechsel und Lebensstößen? In ihrer immer regen Gegenwürkung und Geistesgröße? Weilt ihr lieber an der Moorlache, als an der grünen See in unauslöschlicher Bewegung und dem hellen Felsen mitten in? Ja, meine Herren! wenn Sie den Helden nicht der Mühe wert achten, nach seinen Schicksalen zu fragen, so wird Ihnen sein Schicksal nicht der Mühe wert dünken, sich nach dem Helden umzusehen. Denn der Held allein ist der Schlüssel zu seinen Schicksalen.[360]

Ganz anders ist's mit der Komödie. Meiner Meinung nach wäre immer der Hauptgedanke einer Komödie eine Sache, einer Tragödie eine Person. Eine Mißheurat, ein Fündling, irgend eine Grille eines seltsamen Kopfs (die Person darf uns weiter nicht bekannt sein, als in so fern ihr Charakter diese Grille, diese Meinung, selbst dieses System veranlaßt haben kann: wir verlangen hier nicht die ganze Person zu kennen). Sehen Sie, meine Herren, das wäre so meine Meinung über Shakespears Komödien – und alle Komödien, die geschrieben sind und geschrieben werden können. Die Personen sind für die Handlungen da – für die artigen Erfolge, Wirkungen, Gegenwirkungen, ein Kreis herumgezogen, der sich um eine Hauptidee dreht – und es ist eine Komödie. Ja wahrlich, denn was soll sonst Komödie in der Welt sein? Fragen Sie sich und andere! Im Trauerspiele aber sind die Handlungen um der Person willen da – sie stehen also nicht in meiner Gewalt, ich mag nun Pradon oder Racine heißen, sondern sie stehen bei der Person, die ich darstelle. In der Komödie aber gehe ich von den Handlungen aus, und lasse Personen Teil dran nehmen welche ich will. Eine Komödie ohne Personen interessiert nicht, eine Tragödie ohne Personen ist ein Widerspruch. Ein Unding, eine oratorische Figur, eine Schaumblase über dem Maul Voltairens oder Corneillens ohne Dasein und Realität – ein Wink macht sie platzen.

– – Das wär's nun, meine Herren! ich bin müde, Ihnen mehr zu sagen. Aber weil doch jeder Rauch machen muß, der sich unterstehen will, ein Feuer anzuzünden. Ich bin gewiß, daß es noch lange nicht genug war, Aufmerksamkeit rege zu machen – nichts desto weniger straft mich mein Gewissen doch, daß ich schon zu viel gesagt. Denn es ist so eine verdrüßliche Sache, von Dingen zu schwätzen, die sich nur sehen und fühlen lassen, über die nichts gesagt sein will – qui hedera non egent. Hätt ich nur mit diesen Anmerkungen das ausgerichtet, was[361] Petronius in seinem Gastmahl des Trimalchion von – daß die Römer zwischen den ungeheuren Mahlzeiten der Saturnalien sich eines Brechmittels, auch wohl schnellwirkenden Purganz bedient, um sich neuen Appetit zu schaffen.

Wer noch Magen hat und ich kann ihm mit einem bisher unübersetzten – Volksstück – Komödie von Shakespearn aufwarten. – – Seine Sprache ist die Sprache des kühnsten Genius, der Erd und Himmel aufwühlt, Ausdruck zu den ihm zuströmenden Gedanken zu finden. Mensch, in jedem Verhältnis gleich bewandert, gleich stark, schlug er ein Theater fürs ganze menschliche Geschlecht auf, wo jeder stehn, staunen, sich freuen, sich wiederfinden konnte, vom obersten bis zum untersten. Seine Könige und Königinnen schämen sich so wenig als der niedrigste Pöbel, warmes Blut im schlagenden Herzen zu fühlen, oder kützelnder Galle in schalkhaftem Scherzen Luft zu machen, denn sie sind Menschen, auch unterm Reifrock, kennen keine Vapeurs, sterben nicht vor unsern Augen in müßiggehenden Formularen dahin, kennen den tötenden Wohlstand nicht. Sie werden also hier nicht ein Stück sehen, das den und den, der durch Augengläser bald so, bald so, verschoben drauf losguckt, allein interessiert, sondern wer Lust und Belieben trägt, jedermann, bringt er nur Augen mit und einen gesunden Magen, der ein gutes spasmatisches Gelächter – – doch ich vergesse hier, daß ich nicht das Original, sondern – eheu discrimina rerum – meine Übersetzung ankündige – mag er immerhin auftreten, mein Herkules, wär's auch im Hemd der Dejanira – –

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 1, Stuttgart 1965–1966, S. 329-362.
Entstanden 1771/73. Erstdruck: Leipzig (Weygand) 1774 (anonym).
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