Dreizehntes Kapitel

[192] Wir waren sehr bald wieder zu Hause. Als wir in den Hof einfuhren, war vom ersten Schlitten, auf dem man Arkadij gebracht hatte, nichts mehr zu sehen. Man sperrte mich in meine alte Kammer und nahm mich ins Verhör: wie lange ich mit Arkadij allein gewesen sei?

Ich sage ihnen:[192]

»Auch nicht einen Augenblick!«

Das war mir wohl schon so vom Himmel beschieden, daß mich nicht der Geliebte, sondern der Verhaßte bekam. Diesem Schicksal entging ich nicht. Als ich in meine Kammer zurückkehrte und den Kopf in die Kissen vergrub, um mein Unglück zu beweinen, hörte ich von unten furchtbares Stöhnen.

Bei uns war das so eingerichtet: wir Mädchen wohnten im ersten Stock des hölzernen Hauses, unten war aber ein großes, hohes Zimmer, in dem wir singen und tanzen lernten. Oben konnte man alles, was unten vorging, hören. Und der Fürst der Hölle, Satanas, gab den Grausamen den Gedanken ein, Arkadij gerade unter meiner Kammer zu foltern.

Als ich hörte, wie man ihn peinigte ... stürzte ich zur Türe, um zu ihm zu laufen ... Die Türe war aber verschlossen ... Ich wußte selbst nicht, was ich tun wollte ... und ich fiel hin ... Auf dem Boden ist aber alles noch viel deutlicher zu hören ... Und ich habe keinen Nagel und kein Messer, ich habe gar nichts, um mich zu töten ... Und ich nahm meinen Zopf, und wickelte ihn mir um den Hals, und ich drehte ihn mir um den Hals, und ich drehte ihn immer fester zusammen ... Zuletzt hörte ich nur ein Klingen in den Ohren und sah Kreise vor den Augen, und alles erstarb in mir ... Und als ich zum Bewußtsein kam, sah ich mich an einem Ort, den ich gar nicht kannte, in einer großen hellen Stube ... Kälber waren um mich her, viele Kälber, mehr als zehn Stück ... So freundlich waren sie: das eine nach dem andern kam auf mich zu, schnupperte mit kalten Lippen an meiner Hand, glaubte wohl, das Euter der Mutter zu saugen ...[193] Ich war auch darum erwacht, weil das so kitzelte ... Ich sehe mich um und frage mich: wo bin ich? Und ich sehe: eine ältere große Frau kommt herein, ist ganz in blaue Leinwand gekleidet, hat ein sauberes Tuch um den Kopf, und das Gesicht ist so freundlich und liebevoll.

Wie die Frau sieht, daß ich zum Bewußtsein gekommen bin, fängt sie freundlich zu sprechen an und erzählt mir, daß ich mich im Kälberstall am Grafenhause befinde ... Siehst du, dort stand dieser Stall – erklärte Lubow Onissimowna, mit der Hand auf den entferntesten Winkel des halbzerfallenen Bretterzaunes zeigend.

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Der versiegelte Engel und andere Geschichten. München 1922, S. 192-194.
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