Vierter Auftritt


[326] Nathan und der Klosterbruder.


NATHAN im Näherkommen.

Habt nochmals, guter Bruder, vielen Dank!

KLOSTERBRUDER.

Und Ihr desgleichen!

NATHAN.

Ich? von Euch? wofür?

Für meinen Eigensinn, Euch aufzudringen,

Was Ihr nicht braucht? – Ja, wenn ihm Eurer nur

Auch nachgegeben hätt'; Ihr mit Gewalt

Nicht wolltet reicher sein, als ich.

KLOSTERBRUDER.

Das Buch

Gehört ja ohnedem nicht mir; gehört

Ja ohnedem der Tochter; ist ja so

Der Tochter ganzes väterliches Erbe. –

Je nu, sie hat ja Euch. – Gott gebe nur,

Daß Ihr es nie bereuen dürft, so viel

Für sie getan zu haben!

NATHAN.

Kann ich das?

Das kann ich nie. Seid unbesorgt!

KLOSTERBRUDER.

Nu, nu!

Die Patriarchen und die Tempelherren ...

NATHAN.

Vermögen mir des Bösen nie so viel

Zu tun, daß irgend was mich reuen könnte:

Geschweige, das! – Und seid Ihr denn so ganz

Versichert, daß ein Tempelherr es ist,

Der Euern Patriarchen hetzt?

KLOSTERBRUDER.

Es kann

Beinah kein andrer sein. Ein Tempelherr

Sprach kurz vorher mit ihm; und was ich hörte,

Das klang darnach.

NATHAN.

Es ist doch aber nur

Ein einziger itzt in Jerusalem.

Und diesen kenn' ich. Dieser ist mein Freund.

Ein junger, edler, offner Mann!

KLOSTERBRUDER.

Ganz recht;[326]

Der nämliche! – Doch was man ist, und was

Man sein muß in der Welt, das paßt ja wohl

Nicht immer.

NATHAN.

Leider nicht. – So tue, wers

Auch immer ist, sein Schlimmstes oder Bestes!

Mit Euerm Buche, Bruder, trotz' ich allen;

Und gehe graden Wegs damit zum Sultan.

KLOSTERBRUDER.

Viel Glücks! Ich will Euch denn nur hier verlassen.

NATHAN.

Und habt sie nicht einmal gesehn? – Kommt ja

Doch bald, doch fleißig wieder. – Wenn nur heut

Der Patriarch noch nichts erfährt! – Doch was?

Sagt ihm auch heute, was Ihr wollt.

KLOSTERBRUDER.

Ich nicht.

Lebt wohl!


Geht ab.


NATHAN.

Vergeßt uns ja nicht, Bruder! – Gott!

Daß ich nicht gleich hier unter freiem Himmel

Auf meine Kniee sinken kann! Wie sich

Der Knoten, der so oft mir bange machte,

Nun von sich selber löset! – Gott! wie leicht

Mir wird, daß ich nun weiter auf der Welt

Nichts zu verbergen habe! daß ich vor

Den Menschen nun so frei kann wandeln, als

Vor dir, der du allein den Menschen nicht

Nach seinen Taten brauchst zu richten, die

So selten seine Taten sind, o Gott! –


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 326-327.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nathan der Weise
Nathan der Weise
Nathan der Weise: Studienausgabe
Nathan der Weise: Handreichungen für den Unterricht. Unterrichtsvorschläge und Kopiervorlagen
Nathan der Weise: Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen (Suhrkamp BasisBibliothek)
Nathan der Weise

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon