Der Falke

[272] Des einen Glück ist in der Welt des andern Unglück. Eine alte Wahrheit, wird man sagen. Die aber, antworte ich, wichtig genug ist, daß man sie mit einer neuen Fabel erläutert.

Ein blutgieriger Falke schoß einem unschuldigen Taubenpaare nach, die sein Anblick eben in den vertrautesten Kennzeichen der Liebe gestört hatte. Schon war er ihnen so nah, daß alle Rettung unmöglich schien; schon gurrten sich die zärtlichen Freunde ihren Abschied zu. Doch schnell wirft der Falke einen Blick aus der Höhe, und wird unter sich einen Hasen gewahr. Er vergaß die Tauben; stürzte sich herab, und machte diesen zu seiner bessern Beute.[272]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 272-273.
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