[636] Ob ein Dichter, als ein Dichter, ein System haben könne?
nennen will.
Hier hätte ich vielleicht Gelegenheit eine Erklärung des Worts System voraus zu schicken. Doch ich bleibe bei der Bescheidenheit, die ich schon oben verraten habe. Es ist so ungeziemend, als unnötig, einer Versammlung von Philosophen, das ist, einer Versammlung systematischer Köpfe zu sagen, was ein System sei?
Kaum daß es sich schickte, ihr zu sagen, was ein Gedicht sei; wenn dieses Wort nicht auf so verschiedene Art erklärt worden wäre, und ich nicht zeigen müßte, welche ich zu meiner Untersuchung für die bequemste hielte.
Ein Gedicht ist eine vollkommene sinnliche Rede. Man weiß, wie vieles die Worte vollkommen und sinnlich in sich fassen, und wie sehr diese Erklärung allen andern vorgezogen zu werden verdienet, wenn man von der Natur der Poesie weniger seicht urteilen will.
Ein System also und eine sinnliche Rede – Noch fällt der Widerspruch dieser zwei Dinge nicht deutlich genug in die Augen. Ich werde mich auf den besondern Fall einschließen müssen, auf welchen es eben hier ankömmt; und für das System überhaupt, ein metaphysisches setzen.
Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und eine sinnliche Rede; beides in einem – – Ob diese wohl einander aufreiben?
Was muß der Metaphysiker vor allen Dingen tun? – – Er muß die Worte, die er brauchen will, erklären; er muß sie nie in einem andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muß sie mit keinen, dem Scheine nach gleichgültigen, verwechseln.
Welches von diesen beobachtet der Dichter? Keines. Schon der Wohlklang ist ihm eine hinlängliche Ursache, einen Ausdruck für den andern zu wählen, und die Abwechslung synonymischer Worte ist ihm eine Schönheit.
Man füge hierzu den Gebrauch der Figuren – Und worin bestehet das Wesen derselben? – – Darin, daß sie nie bei der[636] strengen Wahrheit bleiben; daß sie bald zu viel, und bald zu wenig sagen – – Nur einem Metaphysiker, von der Gattung eines Böhmens, kann man sie verzeihen.
Und die Ordnung des Metaphysikers? – – Er geht, in beständigen Schlüssen, immer von dem leichtern, zu dem schwerern fort; er nimmt sich nichts vorweg; er holet nichts nach. Wenn man die Wahrheiten auf eine sinnliche Art auseinander könnte wachsen sehen: so würde ihr Wachstum eben dieselben Staffeln beobachten, die er uns in der Überzeugung von derselben hinauf gehen läßt.
Allein Ordnung! Was hat der Dichter damit zu tun? Und noch dazu eine so sklavische Ordnung. Nichts ist der Begeisterung eines wahren Dichters mehr zuwider.
Man würde mich schwerlich diese kaum berührten Gedanken weiter ausführen lassen, ohne mir die Erfahrung entgegen zu setzen. Allein auch die Erfahrung ist auf meiner Seite. Sollte man mich also fragen, ob ich den Lucrez kenne; ob ich wisse, daß seine Poesie das System des Epikurs enthalte? Sollte man mir andere seines gleichen anführen; so würde ich ganz zuversichtlich antworten: Lucrez und seines gleichen, sind Versmacher, aber keine Dichter. Ich leugne nicht, daß man ein System in ein Sylbenmaß, oder auch in Reime bringen könne; sondern ich leugne daß dieses in ein Sylbenmaß oder in Reime gebrachte System ein Gedicht sein werde. – – Man erinnere sich nur, was ich unter einem Gedichte verstehe; und was alles in dem Begriffe einer sinnlichen Rede liegt. Er wird schwerlich in seinem ganzen Umfange auf die Poesie irgend eines Dichters eigentlicher anzuwenden sein, als auf die Popische.
Der Philosoph, welcher auf den Parnaß hinaufsteiget, und der Dichter, welcher sich in die Täler der ernsthaften und ruhigen Weisheit hinabbegeben will, treffen einander gleich auf dem halben Wege, wo sie, so zu reden, ihre Kleidung verwechseln, und wieder zurückgehen. Jeder bringt des andern! Gestalt in seine Wohnungen mit sich; weiter aber auch nichts, als die Gestalt. Der Dichter ist ein philosophischer Dichter, und der Weltweise ein poetischer Weltweise geworden. Allein ein philosophischer Dichter ist darum noch kein[637] Philosoph, und ein poetischer Weltweise ist darum noch kein Poet.
Aber so sind die Engländer. Ihre großen Geister sollen immer die größten, und ihre seltnen Köpfe sollen immer Wunder sein. Es schien ihnen nicht Ruhms gnug, Popen den vortrefflichsten philosophischen Dichter zu nennen. Sie wollen, daß er ein eben so großer Philosoph als Poet sei. Das ist: sie wollen das Unmögliche, oder sie wollen Popen als Poet um ein großes erniedrigen. Doch das letztere wollen sie gewiß nicht; sie wollen also das erstere.
Bisher habe ich gezeigt – – wenigstens zeigen wollen – – daß ein Dichter, als Dichter, kein System machen könne. Nunmehr will ich zeigen, daß er auch keines machen will; gesetzt auch, er könnte; gesetzt auch, meine Schwierigkeiten involvierten keine Unmöglichkeit, und sein Genie gebe ihm Mittel an die Hand, sie glücklich zu übersteigen.
Ich will mich gleich an Popen selbst halten. Sein Gedicht sollte kein unfruchtbarer Zusammenhang von Wahrheiten sein. Er nennt es selbst ein moralisches Gedicht, in welchem er die Wege Gottes in Ansehung der Menschen rechtfertigen wolle. Er suchte mehr einen lebhaften Eindruck, als eine tiefsinnige Überzeugung – – Was mußte er wohl also in dieser Absicht tun? Er mußte, ohne Zweifel, alle dahin einschlagende Wahrheiten in ihrem schönsten und stärksten Lichte seinen Lesern darstellen.
Nun überlege man, daß in einem System nicht alle Teile von gleicher Deutlichkeit sein können. Einige Wahrheiten desselben ergeben sich so gleich aus dem Grundsatze; andere sind mit gehäuften Schlüssen daraus herzuleiten. Doch diese letzten können in einem andern System die deutlichsten sein, in welchem jene erstern vielleicht die dunkelsten sind.
Der Philosoph macht sich aus dieser kleinen Unbequemlichkeit der Systeme nichts. Die Wahrheit, die er durch einen Schluß erlanget, ist ihm darum nicht mehr Wahrheit, als die, zu welcher er nicht anders als durch zwanzig Schlüsse gelangen kann; wenn diese zwanzig Schlüsse nur untrüglich sind. Genug, daß er alles in einen Zusammenhang gebracht hat; genug daß er diesen Zusammenhang mit einem Blicke, als ein[638] Ganzes zu übersehen vermag, ohne sich bei den feinen Verbindungen desselben aufzuhalten.
Allein ganz anders denkt der Dichter. Alles was er sagt, soll gleich starken Eindruck machen; alle seine Wahrheiten sollen gleich überzeugend rühren. Und dieses zu können, hat er kein ander Mittel, als diese Wahrheit nach diesem System, und jene nach einem andern auszudrücken. – – Er spricht mit dem Epikur, wo er die Wollust erheben will, und mit der Stoa, wo er die Tugend preisen soll. Die Wollust würde in den Versen eines Seneca, wenn er überall genau bei seinen Grundsätzen bleiben wollte, einen sehr traurigen Aufzug machen; eben so gewiß, als die Tugend, in den Liedern eines sich immer gleichen Epikurers, ziemlich das Ansehen einer Metze haben würde.
Jedoch ich will den Einwendungen Platz geben, die man hierwider machen könnte. Ich will mir es gefallen lassen; Pope mag eine Ausnahme sein. Er mag Geschicklichkeit und Willen genug besessen haben, in seinem Gedichte, wo nicht ein System völlig zu entwerfen, wenigstens mit den Fingern auf ein gewisses zu zeigen. Er mag sich nur auf diejenigen Wahrheiten eingeschränkt haben, die sich nach diesem System sinnlich vortragen lassen. Er mag die übrigen um so viel eher übergangen sein, da es ohnedem die Pflicht eines Dichters nicht ist, alles zu erschöpfen.
Wohl! Es muß sich ausweisen; und es wird sich nicht besser ausweisen können, als wenn ich mich genau an die von der Akademie vorgeschriebenen Punkte halte. Diesen gemäß wird meine Abhandlung aus drei Abschnitten bestehen, welchen ich zuletzt einige historisch kritische Anmerkungen beifügen will.
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Pope ein Metaphysiker!
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