Achtes Kapitel

[139] Silvio Pellico sagt im dritten Kapitel seiner Gefängnißmemoiren: Lo svegliarsi la prima notte in carcere è cosa orrenda! – Possibile! (dissi ricordandomi dove io fossi) possibile! Io qui? E non è ora un sogno il mio?1

So oft ich später diese Stelle las, habe ich an die erste Nacht denken müssen, welche ich nach meiner Heimkehr in meinem Zimmer zubrachte, und an den ersten Morgen, welcher dieser Nacht folgte. Ich wachte mehrmals auf und konnte mich nicht darin finden, wieder zu Hause und nicht mehr in Breslau zu sein. Ich mußte mich auf dem Lager aufrichten und mich umsehen, um mich auf mich selber zu besinnen, und mich zu überzeugen, daß ich nicht träume. Aber es war Alles Wirklichkeit.

Ueber meinem Schlafsopha hing das schöne Bild Mathildens, meine schlechten Zeichnungen an beiden Seiten. An der anderen Seite des Zimmers schlief meine[139] Schwester. Ich hörte ihre ruhigen Athemzüge, ich konnte ihr ruhiges Gesicht beim Schein der Nachtlampe deutlich sehen. Ich hätte gern auch geschlafen! – Aber ich mußte denken, immerfort denken, an Breslau denken, an meinen Vetter denken! Es war heller Tag, als ich endlich einschlief.

Kalt, abgemattet, wie nach einem Fieberanfall, erwachte ich, als das Hausmädchen uns wecken kam. Ich stand auf, kleidete mich an, die Rouleaux wurden aufgezogen, ich trat an das Fenster, es war Alles unverändert, Alles wie sonst. Unser Nachbar, der Materialhändler, stand gradeüber in seinem braunen Rocke vor der Thüre seines Ladens; in dem Hause daneben saß die alte Madame Meier wieder mit ihrer Kaffeetasse am Fenster und tauchte ihre Semmel in die Tasse wie sonst. Das kam mir unbegreiflich vor. Mich dünkte, es sei ein Menschenalter verflossen, seit ich das zuletzt gesehen. Ich hatte so viel erlebt, und all' mein Erleben hatte auf das Dasein der Andern gar keinen Einfluß gehabt. Ich fühlte, welch' ein Atom der Einzelne ist, ich wurde irre an all' meinen Gedanken, es war mir, als hätte ich das rechte Maaß für den Verlauf der Zeit verloren, und immer fragte ich mich: ist's denn möglich?

Bei uns im Hause nahm das Thun und Treiben den gewohnten Gang. Wir frühstückten in der Vorstube, unsere Eltern küßten uns zum guten Morgen, sie saßen am Fenster auf dem Fenstertritt, die vier kleinen Schwestern gingen, von dem Hausknecht begleitet, in die Schule, die Brüder in ihre Collegien, der Vater an sein Geschäft, meine Schwester an die Besorgung der ersten Haushaltsgeschäfte.[140] Und ich? ich hatte auf der Welt Gottes Nichts zu thun, ich hatte auch keinen Plan.

Endlich besann ich mich, daß ich mich in mein Zimmer hinaufbegeben könne, um mich neu einzurichten. Ich räumte die Bücher, welche man mir während der Reise geschenkt hatte, in das Schränkchen, vor dem meine Mutter so oft mit mir gekniet, als ich noch ein unordentliches Kind gewesen war, das sie mühsam zur Ordnung gewöhnt. »Unserer lieben Fanny von ihren Eltern zu ihrem achten Geburtstage,« stand darin auf einem angeklebten Blatte geschrieben. Welch' eine Ewigkeit war das her, seit diesem achten Geburtstage! Heute, wo dieser achte Geburtstag mehr als vierzig Jahre hinter mir liegt, kommt er mir lange nicht so entfernt vor, als in meinem zweiundzwanzigsten Jahre. Die Zeit schrumpft für die Phantasie zusammen, je länger man in ihr gelebt hat; der Jugend erscheinen die einzelnen Jahre, wie dem spätern Alter die Decennien, und auch darin erfährt der Einzelne das Schicksal des ganzen Menschengeschlechtes.

Ich war mit den paar Büchern bald an Ort und Stelle, ich ordnete meine Briefe, ich besah und durchstöberte alle Papiere in meinem Schreibtisch, ich las weinend die Breslauer Stammbuchblätter durch, brachte meine Kommode, den Kleiderschrank, den Nähtisch in Ordnung – nun war ich fertig und was nun?

Da kam es mit einem plötzlichen Entschlusse über mich: ich mußte vorwärts!

Müßiges Leiden habe ich nie ertragen können, und das Gefühl der schweren Undankbarkeit, deren ich mich gegen die Meinen schuldig machte, indem ich meine Heimkehr[141] zu ihnen so unwürdig beging, brachte mich zur Besinnung. Sie waren ja völlig schuldlos an Allem, was mich beschwerte; und was hatte ich denn zu ertragen im Vergleich zu Heinrich, der aus Liebe zu den Seinen einen weit schwereren Schmerz mit sich selber abmachte, und heiter und dankbar anerkannte, was ihm an Liebe entgegen gebracht wurde? Ich wollte nicht geringer sein als er, ich wollte mit mir fertig werden, still für mich leiden, was ich nicht ändern konnte, und thun, was mir oblag.

Aber das war das Schlimme, es lag mir eben wieder gar Nichts ob! Nicht einmal die Wirthschaft hatte ich zu führen, wie bei meinem Austritt aus der Schule, denn ich sollte jetzt in den Haushaltsbesorgungen mit meiner Schwester Monat um Monat abwechseln, und den ersten Monat noch in Freiheit genießen. Das war eine schlimme Freiheit für mich, und fast hätte ich mich nach meinem alten Stundenplan mit seinem strengen Reglement zurückgesehnt.

Ich fing natürlich bald wieder an, zwei Clavierstunden die Woche zu nehmen und eine Stunde täglich zu üben. Ich hatte auch wöchentlich zwei Zeichenstunden, machte gelegentlich verschiedene Versuche nach der Natur zu zeichnen, aber der Unterricht war schlecht. Ich traf zwar die Personen leidlich, die ich zu zeichnen unternahm, indeß ich gelangte zu keiner Durchbildung und zu keiner Freiheit in der Sache. Ich hatte deshalb von meinem Zeichnen eben so wenig wahres Vergnügen, als von meinem Clavierspielen, und die Lust an der Musik wurde mir dadurch vollends genommen, daß ich genöthigt war, zwei von[142] meinen kleinen Schwestern in derselben zu unterrichten, die bei redlichem Willen noch viel talentloser waren, als ich selbst.

Somit begann nun für mich jenes Leben, das die Mädchen in unseren bürgerlichen Familien fast überall führen: ich konnte thun, was ich wünschte, aber ich wußte nicht, was ich mit mir und mit meiner Zeit beginnen sollte.

Ich war im Vaterhause, hatte keine Nahrungssorge und keine nothwendige Thätigkeit, außer den Näharbeiten für die Familie, an denen es natürlich bei einem Hausstande von achtzehn Personen niemals fehlte. Wir hatten einige Jahre vorher bei einer besonderen Lehrerin das Ausbessern und Feinstopfen erlernt, ich nähte auch nicht ungern, denn alle Menschen, die mit einem starken Thätigkeitstriebe begabt sind, gewinnen Freude an jeder Arbeit, bei welcher irgend Etwas zu Stande kommt. Aber den ganzen Tag nur nähen und stricken und ausbessern, das konnte, sollte und wollte ich nicht. Mit meinen alten Umgangsgenossen fühlte ich mich eben in jenem Zeitpunkt nicht wie sonst verbunden, ich hatte also kein augenblickliches Interesse, das mich an sich zog, und so blieb mir denn Nichts übrig, als ein Nachsinnen über dasjenige, was zu vergessen mir sehr nöthig gewesen wäre, um mich gesund zu erhalten.

Ich hatte gleich am Tage nach meiner Rückkehr meine Mußezeit dazu benutzt, nach Breslau zu schreiben und für die empfangenen Briefe und den Ring zu danken, und ich hatte das mit tausend heißen Thränen gethan. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Meine[143] Verwandten waren eben so an mich gewöhnt als ich an sie, in dem stillen Hause mußte man das Fehlen eines heiteren täglichen Gastes wohl empfinden. Man schrieb mir das; auch Heinrich, der gleich nach meinem Fortgehen von der Grippe befallen war, schrieb mir das und brachte in seiner Weise sein Erkranken mit meiner Abreise in Verbindung. Und ich, verblendet von meinen Wünschen, nahm für baare Münze, was ich später, als ich einmal die Briefe mit beruhigtem Sinne wieder las, mit einer Art von Beschämung über meine Verkehrtheit, als den Ton des unverkennbarsten Scherzes ansehen mußte.

Mit jenen ersten Briefen war nun eine Correspondenz eingeleitet, die Anfangs zwischen mir und meinen Cousinen äußerst lebhaft fortgesetzt wurde, und die für mich den gefährlichen Vortheil hatte, mir indirect beständig Nachricht von meinem Vetter zu schaffen, auch wenn er selbst mir just nicht schrieb. Dieser Briefwechsel war mein eigentliches Leben in jener Zeit. Ohne allen anscheinenden Bezug auf Heinrich, suchte ich in die Familienbriefe, von welchen ich nach meiner Kenntniß des dortigen Lebens mit Sicherheit wußte, daß er sie las, all' dasjenige hinein zu schreiben, was ich von ihm zu hören und zu erfahren wünschte, und neben diesen Familienbriefen wurde denn auch, wenn schon in größeren Zwischenräumen, die Correspondenz mit meinem Cousin selber fortgesetzt, der, wie Frau Rath Goethe von ihrem Sohne an Bettina schrieb, freilich mehr zu thun hatte, als mir Briefe zu schreiben.

Ich las aus den Briefen, welche ich empfing, den[144] Meinen gelegentlich dasjenige vor, was ich dazu für geeignet hielt, zeigte aber die Briefe, die ich schrieb, Niemandem von den Meinen, und behielt damit ein gesondertes Dasein, mein ideales Leben, für mich allein, obschon meine erwachsenen Geschwister bald meine Vertrauten wurden, und meine Leidenschaft für Heinrich Simon kaum einem meiner damaligen Lebensgenossen ein Geheimniß gewesen ist.

Meine Geschwister liebten ihn nicht, wenngleich sie ihn nicht kannten. Sie sahen mich leiden und bürdeten ihm, weil sie jung und unerfahren waren, die Schuld davon auf. Sie wußten nicht, wie leicht ein liebebedürftiges Herz sich an einen Mann verliert, und hatten es noch nicht erprobt, wie süß es ist, geliebt zu werden; wie schwer, selbstlos und kalt zu bleiben gegenüber einem offenen, warmen Herzen, das sich uns stolz und freudig entgegenbringt. Vermögen wir es doch kaum, einen Schmetterling, der sich auf unsere Hand setzt, einen Vogel, der uns in das Zimmer fliegt, von uns zu entfernen. Die Liebe eines Thieres gewinnt unser Herz, daß wir sie erwidern und sie schwer entbehren, wenn sie uns verloren geht; denn Liebe und Zutrauen sind die geheimnißvolle Kette, welche die Wesen aneinander bindet, und man muß es erlebt haben, wie die Liebe eines Mannes, oder umgekehrt eines Weibes, uns überrascht, erfreut und erwärmt, wie sie uns gefangen nimmt, uns zuletzt beherrscht und mit sich fortzieht, um sehr mild und dadurch gerecht zu urtheilen über eine Menge von Verhältnissen zwischen Mann und Weib, in welchen man im Allgemeinen bald dem Weibe, bald dem Manne, einen leichtsinnigen[145] Egoismus, eine kalte Koketterie, und das Unglück des anderen Theiles zuzuschreiben geneigt ist. Dazu mischt sich in alle Beziehungen zwischen Mann und Weib gleich von Anfang an mehr Liebe ein, als die Jugend es sich im ersten Augenblicke denken kann, und man glaubt oftmals noch Herr über sich selbst und über die Verhältnisse zu sein, wo man bereits von der fremden Leidenschaft in Flammen gesetzt ist, und grade nur noch Besonnenheit und Festigkeit genug übrig behalten hat, sich im entscheidenden Augenblicke gewaltsam loszureißen. Das war es, was die Meinen damals nicht ermessen konnten, was mich selber täuschte, und mich durch lange Jahre nicht zur Ruhe kommen ließ.

Einige Monate hielten das Hoffen, das Warten, das nicht glauben können, mich in Aufregung. In der Mitte des Sommers mußte meine Mutter in ein Seebad gehen, meine Schwester und ich leisteten ihr dort abwechselnd Gesellschaft. Wir wohnten wieder in dem großen Logirhause, es war viel Gesellschaft dort, wir fanden in derselben einige von unsern Freunden und Bekannten, und machten neue Bekanntschaften. Wir besuchten die Assembleen und Bälle, ich hatte allen Anlaß, mit dem Antheil zufrieden zu sein, den man mir bewies, und es waren meist die reifen Frauen und Männer, die mir entgegenkamen und sich mir zuwendeten. Ich war, was damals nicht so allgemein war, eine gereiste Person, ich hatte eine Menge Menschen kennen lernen, von denen zu hören man begierig war, und ich erzählte gern, weil es mich an die mir angenehmen Tage der Reise erinnerte. Es konnte also leicht geschehen, daß man mich interessant[146] nannte, meine Mutter freute sich darüber, aber sie wußte nicht, daß dies ein Prädikat ist, welches man der eigentlichen Jugend nicht ertheilt, und diese war für mich thatsächlich auch vorüber.

Die Mutter und ich lebten aber seit meiner Heimkehr weit leichter mit einander als vorher. Ich hatte an anderen Frauen eine Menge der vortrefflichen Eigenschaften vermißt, welche die Mutter im hohen Grade besaß, und hatte ihren Werth dadurch viel besser schätzen lernen. Ihre natürliche Einfachheit, ihre Anspruchslosigkeit und stets wache Güte, erschienen mir jetzt in ganz anderm Lichte. Ich fand eine große Genugthuung darin, sie zu pflegen, und wenigstens sie zufrieden zu stellen, da ich selber nicht zufrieden war, und es fiel mir daher leichter als sonst, auf dasjenige zu verzichten, was uns von einander trennte. Das Zusammenleben mit sehr verschiedenen Personen hatte mich erzogen, und eine wahre Liebe, wie ich sie fühlte, macht allmählig die ganze Natur des Menschen milder.

Ich war gern am Meere, seine Poesie war mir stets zugänglicher, als die der Gebirge. Die große, unabsehbare Weite hatte Etwas, worin mein Geist sich gern verlor, das Schrankenlose gab mir stets das Gefühl einer persönlichen Allmacht, denn wie weit das Auge auch trug, der Gedanke reichte darüber hinaus. Stundenlang habe ich, wenn meine Mutter ruhte oder schlief, vor der Thüre auf dem Balkon gesessen und dem Spiel der Wellen, dem Meeresleben in allen seinen Aeußerungen gelauscht. Es war mir einunaus sprechlicher Genuß, das Meer in seiner Ruhe sich vor meinen Füßen ausbreiten zu sehen,[147] und ein noch größeres Entzücken, wenn der Wind es aufjagte, wenn im fernen Westen die dunkeln Wolken am Rande des Horizontes wie ein schwarzer Streif emporstiegen, wenn sie sich schnell über den ganzen Horizont verbreiteten, und wenn der Wind aufkam, sich zum Sturm gestaltete, und Wolken und Wellen in wildem Jagen vor sich hertrieb. Im Wind am Meere zu athmen ist eine Wollust. Man fühlt, als könnte man damit unendliche Lebenskraft in sich aufnehmen, und während man die Ohnmacht des Menschen gegen die Gewalt der Elemente klar vor Augen hat, trat und tritt mir noch heute das Bewußtsein freien, selbstherrlichen Wollens und Vermögens nie deutlicher hervor, als gegenüber dem Sturm am Meere. Ja, auch ich kann sagen: »Ich liebe das Meer wie meine Seele!« Und ich habe niemals in der Gebirgswelt gelebt, und vor ihrer starren Erhabenheit gestanden, ohne eine unbeschreibliche Sehnsucht nach dem Meere und seinem Leben und seiner Bewegung zu empfinden. Wenn ich mich krank gefühlt, hat mein ganzes Verlangen nach dem Meere gestanden, und ich könnte, wäre ich gezwungen, dauernd in Bergen zu leben, ein wahres Heimweh nicht nur nach dem Meere, sondern auch nach der freien Fernsicht der Ebenen bekommen.

Die Stadt war sehr heiß als ich vom Strande nach Hause kam und meine Schwester an das Meer ging; aber ich hatte zu thun, hatte den Vater, die Brüder, die jüngeren Schwestern zu versorgen, und das war mir angenehm. Ich fing an, mich wieder in der Familie, unter meinen Bekannten zurecht zu finden, ich begann wieder zu lesen, zu excerpiren, und das eigentliche Haushalten[148] machte mir Freude. Ich versuchte Ersparnisse zu machen, um mit ihrem Ertrag meiner Mutter für ihre Rückkehr eine Ueberraschung zu bereiten, und war auf gutem Wege, mich mit mir allmählig abzufinden, als der Herbst herankam, und mit der Heimkunft meiner Mutter für mich die alte Unthätigkeit begann, die mich mit Einem Schlage wieder in meine Melancholie zurückwarf.[149]

1

Die erste Nacht im Kerker zu erwachen ist eine schreckliche Sache. Ist's möglich, sagte ich mir, als ich mich erinnerte, wo ich mich befand, ist's möglich, daß ich hier bin? Ist es denn nicht ein Traum? –

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 139-150.
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